Im fünften Beitrag unserer Blogpost-Reihe zu Souveränität stellt Jonathan Eibisch anarchistische staatlichen Souveränitätskonzeptionen gegenüber.
Während Marx eine Kritik der politischen Ökonomie hervorbrachte, entwickelten anarchistische Denker*innen eine Kritik der Form, die Politik in spezifischen Herrschaftsordnungen annimmt, als einen wesentlichen Ankerpunkt ihrer Gesellschaftstheorie. Ideengeschichtlich betrachtet entsteht der neuzeitliche, europäische Anarchismus als Hauptströmung im Sozialismus in jener Phase, als der Sozialismus als Graswurzelbewegung politisiert wurde. In Abgrenzung zum sozialdemokratischen Weg der politischen Reformen und dem parteikommunistischen Konzept der politischen Revolution wurden im Anarchismus die mutualistische Selbstorganisation, die Revolte, die Begleitung außerparlamentarischer Bewegungen, sowie die soziale Revolution als Transformationsstrategien entwickelt.
In diesem Beitrag wird ein wesentlicher Aspekt der anarchistischen Kritik der Politik dargestellt, die sich in ihrem Kern an der Anmaßung, Legitimierung und Durchsetzung der Souveränität des Staates festmachen lässt. Dem entgegengestellt werden andere gesellschaftliche Sphären, in welchen (auf bestimmte Weise und mit bestimmten Zielsetzungen) Souveränität erlangt werden soll. Ich werde im Folgenden zeigen, inwiefern die anarchistische Hoffnung darin besteht, der politischen Herrschaft zu entkommen und Alternativen zu ihr aufzubauen.
Die anarchistische Kritik der herrschaftsförmigen Politik
Exemplarisch findet die anarchistische Kritik herrschaftsförmiger Politik Ausdruck in dem Gründungsdokument der Anti-Autoritären Internationale, dem von 150 Jahren geschlossenen „Pakt von Saint-Imier“ gegen die Politisierung des Sozialismus. Ohne dass das dahinterliegende Politikverständnis einfach ahistorisch und kontextlos auf heute übertragen werden könnte, ist interessant, dass Anarchist*innen ursprünglich keine sozialistische, demokratische, gerechte, bessere oder linke Politik hervorbringen wollen, sondern stattdessen von einem Unbehagen mit der Politik der Gegenwartsgesellschaft umgetrieben werden.
Aus anarchistischer Perspektive ist Politik nicht gleich staatlich. Jedoch werden politische Aktivitäten meistens vom Staat vereinnahmt und dem Staat zugeordnet. In der Konsequenz formiert sich Staatlichkeit – über das staatliche Institutionenset hinaus – als politisches Herrschaftsverhältnis, welches vermittels Politik in alle gesellschaftlichen Sphären hineingetragen wird. Staatlichkeit kann dabei als autoritäres, zentralisierendes und hierarchisierendes Prinzip verstanden werden, welches durch legislative, juridische, bürokratische, ideologische und gewaltsame Instrumente und Verfahren gegen selbstorganisierte Gemeinschaftsformen, selbstverwaltete Wirtschaftsformen und sich selbst bestimmende Einzelne durchgesetzt wird.
Staatliche und anarchistische Souveränitäten
Mit staatlicher Souveränität wird der Anspruch und die Legitimation begründet, Menschen zu regieren und potenziell alle gesellschaftlichen Bereiche nach den Zwecken der privilegierten Klassen und nach den Plänen ihrer Verwalter zu regulieren. Daraus können äußerst unterschiedliche Herrschaftsordnungen hervorgehen, zwischen denen es unbedingt zu differenzieren gilt. Insbesondere der moderne Staat ist weit mehr als rohe Gewalt. Demokratische Herrschaft wird faktisch von zahlreichen ihrer (inkludierten) Bürger*innen getragen – was sich nicht allein mit ideologischer Manipulation oder materieller Befriedung begründen lässt, sondern einer aktiven und reflektierten Zustimmung bedarf. In Bezug auf dieses Thema variieren die Beiträge der anarchistischen Theorie stark. Dennoch wird von Anarchist*innen die Souveränität der staatlichen Herrschaft in ihrem Kern dafür kritisiert genau dies zu sein: Krátos oder Potestas – die willkürliche Autoritätsanmaßung der Stärkeren, wie institutionalisiert, legitimiert, historisch andauernd und mitgetragen sie auch sein mag.
Demgegenüber kann eine anarchistische Konzeption von Souveränität ins Spiel gebracht werden. Im Anarchismus beschreibt sie die Organisation von Autonomie als kollektiver Selbstorganisation und -verwaltung, die mit individueller Selbstbestimmung und -entfaltung verknüpft ist. Diese Vorstellung bildet damit einen Gegensatz zu „Staatsmenschen und Staatsmaschinen“. Um das anarchistische Denken zu verstehen, ist die Annahme, dass parallel zu den dominanten Herrschaftsverhältnissen erstrebenswerte gesellschaftliche Verhältnisse bestehen, entscheidend. Neben dem Kapitalismus ist eine dezentrale sozialistische Wirtschaftsweise angelegt, neben dem Patriarchat ein egalitäres Geschlechterverhältnis und parallel zur Naturbeherrschung ein konviviales gesellschaftliches Naturverhältnis. Gegen und jenseits des politischen Herrschaftsverhältnisses Staat ließe sich eine Föderation autonomer Kommunen, die dezentral und freiwillig angelegt sind, vorstellen – und organisieren. Munizipalistische und kommunalistische Bewegungen heute bringen auch ganz aktuell derartige Parallelstrukturen populärer Gegen-Macht („Dual Power“) hervor. Inwiefern oder ab welchem Grad der Institutionalisierung sich solche Formen der Selbstorganisation in größerem Maßstab wiederum zu politischer Herrschaft verfestigen, ist dabei ein Frage, die innerhalb des Anarchismus kontinuierlich umstritten ist. Jene kommt freilich erst dort auf, wo der Einfluss staatlicher Souveränität gezielt verlassen wird.
Auf der Suche nach einem anarchistischen Politikbegriff
Mit der anarchistischen Kritik der Politik im Hintergrund lassen sich verschiedene Wege gehen, um einen anarchistischen Umgang mit Politik zu finden. Diese gibt es in allen Varianten des mutualistischen, individualistischen, kommunistischen, insurrektionalistischen, syndikalistischen und kommunitären Anarchismus. Zunächst wäre da die Indifferenz gegenüber herrschaftsförmiger Politik im Allgemeinen zu nennen. Henry-David Thoreau kann hier als ein paradigmatischer Vordenker genannt werden, durch welchen gewaltfreier, passiver Widerstand inspiriert wurde. Weiterhin kann eine Wiederaneignung der Politik angestrebt werden, die mit einer Neudefinierung des Politikbegriffs einhergeht. Damit soll Politik „entstaatlicht“ werden, wie Rolf Cantzen es bezeichnet.
Drittens gibt es eine dezidierte Kritik der Politik, im anarchistischen Individualismus bspw. ausgehend von Max Stirner, im Mutualismus bei Pierre-Joseph Proudhon, im Kommunismus z.B. bei Johann Most, im Insurrektionalismus bei Luigi Galleani, im Syndikalismus archetypisch bei Émile Pouget und im kommunitären Anarchismus bei Gustav Landauer. Diese Positionen sind deswegen relevant, weil mit ihnen – trotz ihrer Unterschiedlichkeit und scheinbaren Widersprüchlichkeit – ein gemeinsamer Nenner in den verschiedenen anarchistischen Tendenzen nachgezeichnet werden kann: Es handelt sich um ein Streben nach Autonomie. Mit unterschiedlichen Strategien werden Herrschaftsverhältnisse dabei verlassen, während zugleich Alternativen zu ihnen gesucht und entwickelt werden. Eric Olin Wright beschreibt dies mit dem Überbegriff der „Freiraumstrategien“.
Vor allem aus der grundlegenden Kritik lässt sich ein spezifischer anarchistischer Politikbegriff entfalten, der zum Verständnis des Anarchismus insgesamt beiträgt und ermöglicht, die staatliche Souveränität umfassend und grundlegend zu kritisieren, um gleichwohl Alternativen zu ihr aufzuzeigen. George Sorel taugt trotz seiner problematischen Aspekte mit seiner Logik der Zuspitzung – mit welcher er bspw. den Klassenkampf als Selbstzweck fetischisiert statt ihn als Strategie zu behandeln – zur Erarbeitung einer solchen Perspektive. Sie wird hier nicht als Wahrheit, sondern als Diskussionsangebot formuliert. Mit ihr lässt sich der anarchistische Politikbegriff charakterisieren als (a) gouvernemental, insofern Politik auf das Regieren bezogen wird. Er ist (b) negativ-normativ, das bedeutet, es wird bezweifelt, dass Politik der Einrichtung und Aufrechterhaltung einer „guten Ordnung“ dient, sondern davon ausgegangen, dass sie maßgeblich im Dienst einer spezifischen Herrschaftsordnung steht.
Der von mir verwendete anarchistische Politikbegriff ist (c) konfliktorientiert und verweist darauf, dass das politische Feld hegemonial geprägt ist und die Machtressourcen der politischen Akteur*innen enorm ungleich sind. Schließlich charakterisiere ich ihn als (d) ultra-realistisch, womit gesagt wird: Politik ist selbstredend nicht nur die nackte Gewalt und Setzung der Souveränität, sondern umfasst viel mehr. Aber: Mit Carl Schmitt und Giorgio Agamben (als dessen Negativfolie) gilt es sich bewusst zu machen, dass am Ursprung staatlicher Souveränität tatsächlich nichts weiter als der Wille zur Herrschaft, die Anmaßung des Regierens über Menschen und deren praktische Unterwerfung steht – und staatliche Souveränität zudem durch derartige Akte erneuert wird, wenn sie durch innere Widersprüche und ihre radikale Anfechtung in die Krise gerät.
Gegenpole der staatlichen Souveränität
Meines Erachtens eignen sich diese Überlegungen, um echte Alternativen sowohl zum liberal-demokratischen als auch zum marxistischen politischen Denken aufzuzeigen. In diesen politischen Theorien wird das Politische in einem kontinuierlichen Spannungsfeld zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ verortet. Daraus geht eine relative Autonomie des Staates hervor, welche – je nach Interpretation – durch Technokratie, kapitalistische Warenform, Populismus, Nationalismus, Faschismus oder autoritärem Kommunismus angefochten werde. Damit lässt sich die hochgradige Umkämpftheit des Politischen in der liberal-demokratischen Gesellschaft des kapitalistischen Staates erklären. Undenkbar ist es in diesem Rahmen jedoch, eine Politik gegen und jenseits des Staates zu formulieren, die seine Souveränitätsansprüche und deren Legitimierung tatsächlich überschreitet.
Erst durch die anarchistische Kritik der Politik kann das qualitativ Andere von Staatlichkeit gedacht und – als immer schon immanent vorhanden – entdeckt werden. Bezugspunkte dafür können dabei in den Individuen, dem Sozialen, der Gesellschaft, einer Projektion ultimativer Freiheit, in der Ökonomie und der Gemeinschaft gesucht werden. Sie entsprechen dabei den verschiedenen Tendenzen des Anarchismus. Darüber hinaus können anti-politischen Bezugspunkte quer zu diesen Strömungen in der Kultur, der Ethik und der Utopie gesehen werden.
Wenngleich es sich bei der Entdeckung dieser Sphären stets um unabgeschlossene und widersprüchliche Suchbewegungen handelt, eröffnen sich damit gewissermaßen ganze Welten, die in herkömmlichen Politikverständnissen nicht erfasst werden. Sie führen nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen, sondern zu einer komplexen und paradoxen (anti-)politischen Einstellung. Es geht mit diesem Ansatz nicht darum, in der Politik auf den Großteil der z.B. von Jason Brennan als unwissend, desinteressiert oder fanatisch angesehenen Menschen, zu verzichten. Vielmehr sollen diese sich ihre Souveränität jenseits und gegen den Staat zurückerobern und selbst ermächtigen.
Weitergedacht überrascht es auch nicht, dass Anarchist*innen mit den Sphären, die der politischen Herrschaft des Staates entgegengesetzt werden, auch Souveränitäten ausmachen, die es egalitär, libertär und solidarisch auszugestalten gilt. Mit anderen Worten: Reichsbürger*innen, völkische Siedler*innen, Esoteriker*innen oder fanatische Religionsanhänger*innen mögen ebenfalls auf den ersten Blick aus der bestehenden Herrschaftsordnung austreten, entsprechen aber mitnichten anarchistischen Vorstellungen. Ebenfalls „herrscht“ in der Regel auch in sogenannten „failed states“ oder in Slums keine „Anarchie“ – sondern werden diese in der Regel von Warlords oder Mafiakartellen regiert, die formeller Staatlichkeit oftmals weit näher stehen, als gemeinhin angenommen wird.
So sind es die souveränen Einzelnen, die sich nicht beherrschen lassen, weil sie in der Lage sind, sich selbst zu bestimmen und verantwortlich zu handeln. Bezug genommen wird auf selbstorganisierte Nachbarschaften und communities, deren Angehörige sich selbst organisieren können. Aus „der“ Gesellschaft geht keineswegs organisch oder automatisch eine Alternative zur staatlichen Souveränität hervor, ist die „Zivilgesellschaft“ doch vor allem als Ausweitung von Staatlichkeit zu kritisieren. Dennoch dient dieser Metabegriff dazu, eine grundsätzliche Entfremdung von verstaatlichter Politik gegenüber der Bevölkerung zu markieren und auf eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform jenseits staatlicher Herrschaft als Ganzes zu rekurrieren.
Ein häufig romantisiertes Verständnis ultimativer „Freiheit“ zielt zwar auf ein faktisch nicht vorhandenes ideales Außerhalb von totalisierender Herrschaft ab. Dennoch wird mit ihm darauf insistiert, dass jegliche Herrschaft einem selbstbestimmten Leben entgegensteht. Sich entlang der Klassenspaltung zu organisieren und ökonomische Kämpfe hervorzubringen führt zum souveränen Selbstbewusstsein autonomer Basisgewerkschaften. Und schließlich setzt das „Neue Beginnen“ in alternativen Gemeinschaften die Souveränität voraus, sich bewusst von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen.
Jonathan Eibisch hat an der FSU Jena im Fachbereich Gesellschaftstheorie eine Dissertation zur politischen Theorie des Anarchismus eingereicht. Daneben hält er Vorträge und gibt Workshops zu anarchistischen Themen vor allem in nicht-akademischen Kontexten. Er schreibt verschiedene Arten von Texten und bloggt auf paradox-a.de.
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