Kongresssplitter: „Uncertainty should be equally shared and distributed“: Von philosophischen Abstraktionen und geschichtsvergessenen Theoretisierungen

— Keynote von Sofia Näsström: Democracy and the Social Question–

“The future of democracy is more uncertain than ever.” Mit dieser Anrufung des Ungewissen verweist Näsström bereits zu Beginn ihrer Keynote auf das zentrale Thema des Theoriekongresses. Während siedie Soziale Frage in ihrer Keynote zentriert, begrenzt sich ihre Analyse auf normativ-hegemoniale Theoretiker*innen und verpasst somit die Möglichkeit, an machtkritische Theorien, historische Kämpfe sowie aktuelle politische Diskurse anzuschließen.

Näsström beginnt mit der Beschreibung der Ambivalenz der Demokratie: Einerseits ist sie ein Versprechen von Wohlstand und besserem Leben ‚für alle‘, andererseits bricht sie dieses Versprechen – und erzeugt damit Ungewissheit: Die Demokratie erfüllt ihre eigenen normativen Standards kaum und produziert soziale Hierarchien von Ungleichheit. Daher widmet sich die Keynote dem Verhältnis zwischen dem demokratischen Versprechen und der Sozialen Frage. Sie formuliert die zentrale These, dass die politische bzw. Demokratietheorie – beide scheinen für Näsström synonym – des 20. Jahrhunderts die Soziale Frage fahrlässig ignoriert und einen zu starken Unterschied zwischen dem Sozialen und dem Politischen konstruiert hat. Im ersten Schritt widmet sich Näsström einer Problematisierung dieser Unterscheidung. Sie argumentiert, dass das „Gespenst“ (spectre) des Sozialismus die Soziale Frage immer wieder heimsuche: In ihr haust ‚zu viel‘ (real existiert habender) Sozialismus. Näsström schlussfolgert: Der gespenstische Sozialismus der Sozialen Frage ließe die politische Theorie vor der tiefgehenden Auseinandersetzung mit ihr zurückschrecken.

Davon ausgehend zeigt Näsström in einem zweiten Schritt, dass es durchaus politische Theorien gibt, die sich dem Verhältnis zwischen dem Politischen bzw. der Demokratie und dem Sozialen widmen. Sie unterteilt diese in drei Positionen: Theorien, die das Soziale als „präpolitisch“ verstehen und daher ausklammern (z. B. H. Arendt, T. Picketty), als „zu politisch“ ablehnen (z. B. H. Kelsen, J. Schumpeter) oder als „apolitisch“ deuten, da das Soziale vermeintlich depolitisierend wirke (z. B. J. Habermas, C. Mouffe, E. Laclau). In Anbetracht dessen wendet sich Näsström, drittens, zwei Ansätzen zu, die die Formulierung einer Alternative ermöglichen sollen: die Staatstheorie Montesquieus und die Kultursoziologie von Andreas Reckwitz – beides also Ansätze jenseits der Demokratietheorie.

Im vierten und letzten Schritt fokussiert Näsström auf die Notlage (predicament), in der wir uns befinden, da wir in ungewissen Zeiten leben. Sie verweist auf verschiedene Entwicklungen des Neoliberalismus und des autoritären Populismus, die die Demokratie unter Druck setzen und die Quellen demokratischer Reform austrocknen. Ihre Frage „Is democracy now over?“ beantwortet Näsström mit einem klaren Nein, betont jedoch, dass sie nur in Erscheinung trete, wenn Ungewissheit gleichermaßen ge- und verteilt sei.

„Uncertainty should be equally shared and distributed“ – dies stellt ein wünschenswertes Ideal dar, welches jedoch ohne Kontextualisierung in einem sozial-historischen Vakuum steht und von Näsström leider nicht weiter ausgeführt oder eingeordnet wird. Sie lässt außer Acht, dass auch in Demokratien empirisch weder sozioökonomische noch politische Gleichheit besteht; etwa in Bezug auf race, Klasse, Geschlecht, Sexualität, dis/ability oder rechtlichem Status. Die (historische) Erfahrung von gesellschaftlich marginalisierten Individuen und Gruppen kann kaum unter philosophische Abstraktionen subsumiert werden. Näsströms Vortrag fehlt die Einbettung in einen historisch-soziopolitischen Kontext.

Insgesamt kritisiert Näsström in ihrer – zusammenfassend: sozialdemokratischen – Argumentation kanonische Denker*innen der Demokratietheorie des Globalen Nordens und richtet sich dabei an ein normativ-hegemoniales, vorwiegend liberales Publikum. Ihr selbst erklärtes Ziel ist es, diesem Publikum die Angst vor der Sozialen Frage zu nehmen. Um eine Alternative aufzuzeigen, bezieht sich Näsström wiederum ausschließlich auf normativ-hegemoniale Denker (sic) aus dem Globalen Norden. Unerwähnt und somit auch unberücksichtigt in dieser eurozentrischen Lesart bleiben die Arbeiten queer_feministischer, postkolonialer und Critical Race Theoretiker*innen. Während die Soziale Frage definitiv eine Berechtigung hat, bleibt sie untrennbar mit queer_feministischen, postkolonialen und antirassistischen Kritiken verbunden. Denn sie binden ihre gesellschaftskritische Analyse der ‚westlichen‘ Demokratien an Erfahrungen von Unterdrückung und historische Kämpfe um Gleichheit. Sie zeigen auf, dass die Soziale Frage und das – nicht eingehaltene – Versprechen der Demokratie immer schon verzahnt sind. Deshalb bereichern diese Kritiken eine normativ-hegemoniale Perspektive, da sie die Soziale Frage in ihrer Komplexität erfassen und die spezifischen Erfahrungen gesellschaftlich marginalisierter Gruppen berücksichtigen.

Mareike Gebhardt ist habilitierte Politikwissenschaftlerin und Ko-Leiterin der Forschungsgruppe ZivDem (Gerda Henkel Stiftung) an den Universitäten Bonn und Münster. Sie arbeitet zum europäischen Migrationsregime und der Kolonialität der Demokratie aus einer radikaldemokratietheoretischen, poststrukturalistischen, postkolonialen und feministischen Perspektive.

Miriam Yosef ist Doktorandin an der Universität Duisburg-Essen. Derzeit ist sie Research Fellow beim Ernst-Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Critical Race Theory, Menschenrecht und intersektionale Gerechtigkeit.

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