Bodins Souveränitätsverständnis und das republikanische Ordnungsideal der Freiwilligkeit – ein Impuls aus vorstaatlichen Zeiten

Heute schließen wir unsere Blogpost-Reihe zu „Souveränität“ mit einem Beitrag von Eva-Sophie Mörschel ab, der Überlegungen zur Relevanz und Aktualität von Bodins Souveränitätsbegriff anstellt.

Seit Jean Bodin die Definition des Souveränitätsbegriffs auf eine machtpolitische Bedeutung ausgeweitet hatte, konnte Souveränität allmählich zum Grundbegriff der Moderne aufsteigen. Die “Six livres de la république” erschienen 1576, als die Legitimation vorstaatlicher Herrschaftsformen in Europa zunehmend in Frage gestellt wurde. Bodins naturrechtliche und universalgeschichtliche Überlegungen kündigten eine politische Versöhnung in Zeiten erbitterter Kämpfe um die Thronfolge und der damit verbundenen Verfolgung hunderttausender Hugenotten im Herrschaftsbereich des Hauses Valois an. Aus seiner Überarbeitung der aristotelischen Regierungsformenlehre leitete Bodin einen Vorschlag für eine neuartige republikanische Form der monarchischen Regierung ab, die er teleologisch durch das Streben nach der freiwilligen Anerkennung naturrechtlicher Pflichten fundierte. Dieser neue normative Zweck der öffentlichen Ordnung sollte dem königlichen Privatkabinett des Ancien Régimes als Leitfaden dienen, um den religiösen, sozialen und politischen Wandel beherrschbar zu machen und den Weg in eine prosperierende Zukunft zu bestreiten. Um die Voraussetzungen zu schaffen, denen es bedürfe, um die Anerkennung naturrechtlicher Pflichten zu verwirklichen, müsse nur das Wesen der politischen Macht – die Souveränität – ‚richtig‘ verstanden und in Form einer republikanischen Ordnung in Kraft gesetzt werden.

Universelle Rechtsansprüche und die Grenzen moderner Souveränität

Bodins Überlegungen stammen aus einer Zeit, die laut Brunner, Conze und Koselleck nicht identisch mit der Gegenwart ist, aber Ähnlichkeiten zu ihr aufweist. Hatten sich in der Moderne die Begriffsgeschichten von Souveränität und Staat im Wechselspiel immer weiter verdichtet, ließen sich in der Gegenwart gegenteilige Tendenzen beobachten: Die Delegation von nationalen Souveränitätsrechten an neue suprastaatliche Institutionen und substaatliche Machtansprüche führen dazu, dass Staat und Souveränität zunehmend weniger aufeinander beziehbar seien. Unter begriffsgeschichtlich völlig neuen Bedingungen erinnern diese Herausforderungen an vorstaatliche Zeiten. Angesichts der Schwierigkeiten vorstaatlicher Herrschaftskonsolidierung führte Bodins Theorie erstmals Vorstellungen von republikanischer Souveränität mit einem für die Moderne typischen, universellen Rechtsanspruch zusammen, der freiwillig geachtet werden soll. Letzterer hat sich im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte im modernen Vernunftrecht, insbesondere den Menschen- und Völkerrechten niedergeschlagen und zur Entkoppelung von Staat und Souveränität beigetragen.

Grundrechte haben schon in den ersten Verfassungen aufgrund ihrer ursprünglich naturrechtlichen Herleitung einen moralischen Überschuss hervorgerufen, der stets über die Grenzen der Staaten hinaus verwiesen hat, die entsprechend heutigem Völkerrecht als souverän verstanden werden.  Spätestens seit der Kodifizierung der Menschenrechte im 20. Jahrhundert sollen universelle Rechtsansprüche tatsächlich über die Hoheitsgebiete einzelner Staaten hinweg gelten. In der zwischenstaatlichen Praxis sind damit allerdings Konflikte verbunden, die das konzeptionelle Verständnis der Souveränität herausfordern – vor allem im Hinblick auf die Frage, ob der Souveränitätsbegriff auch losgelöst von modernen Formen der Staatlichkeit für die Ordnungsbildung erhalten bleiben sollte. Kann die Rekonstruktion von Bodins Souveränitätsverständnis Impulse für diese konzeptionelle Debatte geben?

Bodins Souveränitätsdefinition und die republikanische Ordnung

Um Bedeutung und Verständnis wichtiger Kernaussagen von Bodin in ihrem Kontext rekonstruieren zu können, ist es unerlässlich die Trennung der Begriffe Staat, Stand bzw. Zustand (franz. estat) und Republik (franz. république) aufrechtzuerhalten, statt sie wie in der deutschen Übersetzung synonym zu verwenden. Bodin verwies mit estat auf verschiedene Erscheinungsformen von Herrschaft: Zustände der Souveränitätsausübung. Mit république bezeichnete er eine politische Ordnung, die aufgrund ihres universellen Charakters unter wechselnden Bedingungen Anwendung finden konnte und entweder demokratisch, aristokratisch, oder monarchisch verfasst sein kann. Unterstehen mehr als drei Familien und ihre Hausstände einer einzigen, absoluten, souveränen Macht, ließe sich von einem Volk sprechen. Konstitutiv für republikanische Körper sei wiederum erst die Verwaltung der öffentlichen Besitztümer – die öffentliche Sache – bei gleichzeitig strikter Abgrenzung zum Privatbesitz.

Souveränität ist folglich kein Spezifikum der Republik, aber nur innerhalb der republikanischen Ordnung kann ihre Ausübung rechtmäßige Zustände in Kraft setzen. Souveränität sei die Hoheit, die zugunsten des privaten und öffentlichen Wohls befähige, über alle Teile des republikanischen Gemeinwesens zu befehlen. Bodin hatte die Prinzipien dieses Phänomens anhand eines vergleichenden Studiums der Geschichte abgeleitet: In Republiken begleiteten typischerweise immer nur Wenige die öffentlichen Ämter, die Meisten waren passive Rechtsträger; neben natürlichen Personen schloss Bodins Definition auch Korporationen und Kollegien ein. Frauen, Kindern und Sklaven fehlte allerdings die Fähigkeit aus eigener Kraft Freiwilligkeit zu erlangen, deshalb hätten sich diese natürlich Führungslosen immer unter der Privatherrschaft männlicher Familienoberhäupter befunden – zu ihrem eigenen Besten, versteht sich. Im Grunde beschrieb Bodin davon ausgehend eine subsidiäre Ordnung zwischen männlichen Familienoberhäuptern und Regierungsorganen, schließlich zwischen Regierung und der letzten Instanz, dem Souverän.

Für Bodin gab es theoretisch nur zwei Ursprünge der souveränen Macht: das Volk (Demokratie) oder, wenn es seine Macht rechtskräftig verschenkt hat, den Fürst (Aristokratie, Monarchie). Der Versuch, die Souveränität zwischen beiden aufzuteilen, sei immer zum Scheitern verurteilt, souveräne Macht durch politische Reformen wieder dem jeweils anderen Ursprung zuzuführen ein heikles Unterfangen. Bodin hatte politische Herrschaft also schon auf einer schwachen Prämisse von Volkssouveränität angelegt, die von Hobbes später abgelehnt und deren Rechtmäßigkeitsanspruch von Rousseau auf aristokratische, selten auch demokratische Herrschaftsformen zugespitzt wurde. Herrschaftswechsel von monarchisch verfassten Fürstenrepubliken hin zu reinen Demokratien hielt Bodin aufgrund der spezifischen Historie und der geografisch-klimatischen Bedingungen Europas nicht für ratsam; an die florentinische Mischverfassungstradition – prominent von Machiavelli vertreten – sollte nicht angeknüpft werden.

Bodin über Tyrannenherrschaft und republikanische Regierungen

Die entpersonalisierte und entzeitlichte souveräne Hoheit, der „jede Begrenzung hinsichtlich der Machtbefugnis, der Aufgabenstellung oder ihrer Dauer fremd“ (Bodin 1981b, 206) sei, ermöglicht bei Bodin aber nur innerhalb der Republik eine personale, dadurch besitzlich und zeitlich gebundene Regierungstätigkeit: etwa „einen Krieg zu führen, einen Aufstand niederzuschlagen oder eine Staatsreform  durchzuführen oder neue Beamte zu bestellen“ (Bodin 1981b, 206). Der Regierung wird die souveräne Macht folglich nur begrenzt übertragen, auch wenn sie innerhalb dieser Schranken absolut verpflichtend gegenüber dem Souverän in seiner Gesamtheit – also auch den passiven Untertanen – sein müsse.

Was aber, wenn die vom Souverän verliehene Macht von der Regierung missbraucht wird? Diesem fortdauernden Grundproblem war sich Bodin durchaus bewusst:

„Wenn nun ein […] höchster Amtsträger über die […] begrenzte Amtszeit hinaus die ihm verliehene Macht weiterbehält, so muß er dazu entweder das Einverständnis [des Souveräns] erhalten oder aber Gewalt angewandt haben. Ist Gewaltanwendung der Grund, so liegt zwar eine Tyrannenherrschaft vor, der Tyrann ist aber gleichwohl souverän.“ (Bodin 1981b, 209)

Eine „am Recht orientierte“ (Bodin 1981b, 98) Regierung dürfe Gewalt in Abgrenzung zur Tyrannenherrschaft nur als letztes Mittel anwenden, wenn ihre zivilen, d.h. juristischen Zwangsmittel erschöpft sind – selbst wenn Rechtsträger aus verschiedenen Rechtstraditionen und Geltungsbereichen entstammten. Zwar fielen Legitimationen von alten Gesetzen, Machtansprüche neuer „Parteiungen“ (Bodin 1981a, 136) und damit verwobene philosophische bzw. religiöse Rechtfertigungsversuche unterschiedlich aus, aber Bodin glaubte dennoch, dass sich die Aufrechterhaltung besonderer Gesetze ‚harmonisieren‘ ließe. Zu diesem Zweck könne die republikanische Regierung – wenn nötig – alle Gesetze revidieren, sie dürfe nur das ‚richtige‘ Ziel nicht aus dem Blick verlieren, denn dadurch „unterscheiden sich Staaten (R) von Räuber- von Piratenbanden“ (Bodin 1981b, 98), die zwar souverän, aber niemals rechtmäßig sein könnten.

Bodins republikanisches Telos: Freiwilligkeit statt Zwang 

In einer wohl geordneten Republik liegt das Telos laut Bodin darin, möglichst allen die Bedingungen einer Lebensführung zu garantieren, bei der sie intellektuelle und kontemplative Tugenden ausbilden könnten. Nur von tugendhaften Menschen könne man erwarten, dass sie naturrechtliche Pflichten auch in öffentlichen Angelegenheiten als geboten anerkennen. So gehöre es zu einer der wichtigsten königlichen Pflichten, vertragliche Bedingungen einzuhalten – sowohl gegenüber verbündeten Republiken als auch gegenüber dem fürstlichen oder demokratischen Ursprung ihrer eigenen souveränen Macht. Die Übertragung der Souveränität an den Monarchen solle in Fürstenrepubliken daher unbedingt feierlich begleitet, urkundlich beschlossen und die Regierungszeit vertraglich gebunden sein. Werden zeremonielle Bräuche und juristische Verfahren gewahrt, würden solche Republiken Gerechtigkeit auf Erden verkörpern und das Volk zu wahrer, vielleicht sogar ewiger Glückseligkeit erheben. Andernfalls bleibe es fraglich, wie lange das Volk Gottes Gnade empfängt, bevor sein „Staat (R) Schiffsbruch erleidet“ (Bodin 1981b, 93) und Feinde „über seine Überreste herfallen“ (Bodin 1981b, 93).

Bemerkenswert an dieser normativen Fundierung einer republikanischen Form von Monarchie ist, dass für Bodin nicht Zwang zur Einhaltung der universellen Naturrechte, sondern das Ideal der Freiwilligkeit die privaten und öffentlichen Tätigkeiten anleiten und dadurch die öffentliche Herrschaftsform letztinstanzlich sichern sollte. Im Privaten könnten dann verschiedene Religionen bzw. Konfessionen und ihre entsprechenden Bildungsideale weiter ausgeübt werden – erst recht, wenn es der historische Zustand nicht anders zulässt und die wahre Religion des Fürsten nicht mehr durchgesetzt werden kann. Das normative Telos der republikanischen Ordnung zielte jedenfalls darauf, der monarchischen Regierung und ihren Untertanen einen Privatbereich abzusichern, damit sie sich in Ruhe und Frieden der wichtigsten Tätigkeit auf Erden widmen könnten: „sich in der Betrachtung der natürlichen, göttlichen, Dinge zu üben und für alles den mächtigen Fürsten der Natur zu lobpreisen“ (Bodin 1981b, 101). Aus dieser naturrechtlichen Herleitung ergibt sich die oberste Pflicht souveräner Regierungen: die Voraussetzungen für die Ausbildung individueller Freiwilligkeit zu schützen.

Demokratische Prämissen und die Forderung nach globalisierter Souveränität

Um einen Impuls für die konzeptionellen Fragen rund um den heutigen Souveränitätsbegriff geben zu können, muss abschließend kritisch bemerkt werden, dass Bodins Souveränitäts- und Rechtsverständnis heutigen demokratietheoretischen Prämissen selbstverständlich nicht genügen kann. Zwar sollten alle Teile des republikanischen Gemeinwesens – auch die politisch inaktiven – in die Herrschaftsordnung integriert werden und einen Beitrag zum Erhalt der öffentlichen Sache(n) beitragen. Über die Gesetzgebung innerhalb einer monarchisch verfassten Republik sollten aber nur wenige entscheiden. Gesetzesänderungen zu legitimieren, oblag einzig der souveränen Regierung, deren Regierungszeit zwar begrenzt sein, die sonst allerdings keinerlei demokratischen Kontrollinstanzen unterliegen sollte. Die Unterdrückung von Sklaven, Frauen und Kindern durch die subsidiäre Ordnungsvorstellung vom vormodernen Privathaushalt über die Regierung hin zur obersten souveränen Instanz präsentierte Bodin als naturalistische Grundlage mit universellem Anspruch, die in der Republik gesetzlich gesichert werden sollte. Diese Normvorstellungen dienen daher als bestes Beispiel, dass selbst universelle Rechtsansprüche per se als unabgeschlossen begriffen und stets neu demokratisch konsolidiert und an die Herausforderungen der jeweiligen Zeit angepasst werden sollten.

Eine Erkenntnis für gegenwärtige Debatten kann demgegenüber darin liegen, dass der Kern der republikanischen Ordnung von Bodin in einem subsidiären Prinzip ausgemacht wurde. Eine subsidiäre Macht- und Rechtsordnung ermöglicht es, dass kleinere Herrschaftsverbände ihrer besonderen Regierungspraxis weitestgehend unabhängig von einer übergeordneten Instanz und frei von Zwang nachgehen können. Dafür müssen in demokratischen Gefügen allerdings gleichberechtigte freie Individuen statt Privathaushalte die unterste Ebene bilden. Sie alle sollte ein universeller Rechtskanon verbinden, dessen Geltungskraft sich aus dem Ideal der freiwilligen Anerkennung ergibt. Die höchste Instanz vereinigter Souveränität soll nur dann mit Zwangsmitteln eingreifen, wenn diese republikanische Ordnung oder einzelne Glieder durch Versuche tyrannischer Machtübernahmen in Gefahr sind.

Dass souveräne Ordnungen auf Freiwilligkeit fußen sollten, verbleibt ein Ideal, das in republikanischen Spielarten bis heute als enorm anspruchs- bzw. voraussetzungsvoll diskutiert wird. Ein zeitgemäßer Vorschlag unter demokratietheoretischen Vorzeichen – die hier nur schemenhaft als Ausblick angerissen werden kann – findet sich beispielsweise bei Philip Pettit, der daraus die Forderung nach globalisierter Souveränität ableitet: Repräsentative Demokratien sollen ihren Regierungsgeschäften möglichst unabhängig nachgehen können, während eine internationale Körperschaft geschaffen wird, die es allen gleichermaßen erlaubt, international geltende Rechte und zwischenstaatliche Praktiken zu identifizieren und zu schützen. Bestehende suprastaatliche Körperschaften, wie die United Nations oder die Europäische Union, seien nur als erste Versuche in diese Richtung zu verstehen. Die Entwicklung demokratischer Verfahren in internationalen Institutionen müsste in Zukunft im Mittelpunkt stehen, damit die unabgeschlossene Inkraftsetzung der Voraussetzungen von individueller Freiheit und die daraus abgeleiteten universellen Rechtsansprüche auch im globalen Maßstab weiter vorangetrieben werden können.

Eva-Sophie Mörschel ist Christoph-Martin-Wieland Stipendiatin am Lehrstuhl für Politische Theorie & am Center for Political Practices and Orders (C2PO) der Universität Erfurt. Derzeit forscht sie in ihrem Dissertationsprojekt zur historischen Entwicklung und demokratietheoretischen Bedeutung des Privatsphärekonzepts in (neo-) republikanischen Vorstellungen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt insbesondere auf Begriffsgeschichten des frühneuzeitlichen politischen Denkens und den Transformationsprozessen von Öffentlichkeit und Privatheit.