Tagungsbericht: Demokratie als Streitganzes

Viele der heutigen Zeitdiagnosen attestieren unserer Demokratie, dass sie sich in einem prekären Zustand befindet. Als die zwei zentralen Herausforderungen sind ein aufstrebender Populismus und postdemokratische Tendenzen zu nennen, die für angespannte Konfliktlinien entlang divergierender Lebensstile sowie einen schleichenden Prozess der Aushöhlung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten stehen. Steffen Herrmann, dessen Habilitationsschrift „Demokratischer Streit: Eine Phänomenologie des Politischen“ am Ende vergangenen Jahres in Gestalt eines Buchforums an der Universität Wien besprochen wurde, vertritt die These, dass durch eine sich gegenwärtig verschärfende gesellschaftliche Spaltung ein genuin politischer Streit um die gemeinsame Lebensgestaltung aus dem Fokus gerät. Mit seinem Buch will Herrmann die Bedeutung des politischen Streits als produktives demokratisches Element betonen. Der Tagungsbericht orientiert sich argumentativ am Hergang des Buchforums. So wird zunächst Herrmanns Konzept von Demokratie als „Streitganzem“ beschrieben, um sodann zu prüfen, inwiefern die Methode einer politischen Phänomenologie in besonderer Weise ermöglicht, jenes Konzept nicht nur zu analysieren, sondern auch praktisch zu erweitern. 

Herrmann geht sowohl in seinem Buch als auch in seinem Wiener Vortrag von einem Demokratiebegriff aus, der in seinem Kern von intensiven Meinungsverschiedenheiten geprägt ist. Demokratie zeugt grundlegend von Meinungsstreitigkeiten, die verschiedene Formen annehmen können, indem sie nicht nur politische Inhalte, sondern auch die Praxis und Mechanismen von Streitkulturen selbst betreffen. Ein zentrales Argument Herrmanns ist dabei, dass auch darüber gestritten wird, wie eine gesellschaftliche „Mitte“ – repräsentiert durch den Demos (das Volk), das Kratos (die Macht) und die Doxa (die Meinung) – verstanden und konstituiert wird. Mit seiner Theoretisierung des politischen Streits zielt Herrmann auf eine Konzeptualisierung komplexer und produktiver Formen demokratischer Auseinandersetzungen, die sich nicht in öffentlichen Meinungsäußerungen erschöpfen, sondern ebenfalls die Existenzberechtigung der Konflikte selbst betreffen. Die Herausforderung liegt hier sowohl in einer angemessenen Beschreibung als auch in einem fruchtbaren Umgang mit vielfältigen Formen von Meinungsverschiedenheiten im demokratischen Kontext. 

 

Demokratie als Streitganzes: Doxa, Demos, Kratos 

Herrmanns Konzept des Streitganzen versteht Demokratie als ein Streitsystem, in welchem drei zentrale Streitebenen auseinander hervorgehen und aufeinander zurückverweisen: dem Streit um Doxa, Demos und Kratos. Die Ebene der Doxa bezieht sich auf öffentlich vertretene Meinungen und Grundüberzeugungen; hier finden Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Normen, kulturelle Werte und moralische Prinzipien statt. Herrmann beschreibt diese Ebene entlang des konkreten Beispiels des Diskurses über Sozialleistungen, in dem verschiedene Normen und Werte sich in der Frage widerspiegeln, was wir als Gesellschaft für erstrebenswert halten und wie wir unser Leben konkret gestalten wollen. Die Demos-Ebene betrifft den Streit um die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen. Hier geht es etwa um Fragen der Staatsbürgerschaft und Einwanderungspolitik, die sich damit beschäftigen, wer eigentlich zu einer Staatsgemeinschaft gehört und somit zuallererst das Recht und die Möglichkeit erhält, Teil jenes Demos zu werden, der den Prozess auf Selbstbestimmung initiiert. Der Streit um das Kratos betrifft dann die spezifische Frage, wie die Herrschaft des Demos über sich selbst eingerichtet werden soll. Anhand des Beispiels um das „Wahlrecht für Ausländer“ beschreibt Herrmann den Streit um das Kratos als den Streit um die Frage, wie der Prozess der kollektiven Selbstbestimmung konkret gestaltet werden soll.  

Dass diese drei Dimensionen von Demokratie als Steitganzem eine genuin ästhetische Komponente haben, betonte Michaela Bstieler in ihrer Respondenz. Die ästhetische Dimension ist hier zunächst in Anlehnung an den Ursprung des Wortes aus dem altgriechischen Begriff der aísthēsis zu verstehen, wodurch Fragen der Wahrnehmung einbezogen werden. Bstieler stellte heraus, dass Herrmanns Theorie des politischen Streithandelns insbesondere der systematischen Ungleichverteilung öffentlicher Teilhabe entgegenwirken möchte, was durch die ästhetisch-wahrnehmungsbasierte Dimension seiner Analyse deutlich wird. In  diesem Rahmen greift er  besonders auf Hannah Arendts politische Phänomenologie des Erscheinens zurück. Auf diese Weise gedacht, entfalten sich demokratische Meinungsverschiedenheiten stets im Kontext eines Erscheinen-Könnens und in Erscheinung-Tretens, beziehungsweise einer Verwehrung dessen. Bstieler wies darauf hin, dass durch die ästhetische Dimension eine Verschiebung der Fragen nach rechtlicher Gleichheit hin zu Fragen nach öffentlicher Gleichheit stattfindet. Kritisch wurde hier angemerkt, dass die Frage danach, ob Personen öffentlich erscheinen, nicht hinreichend ist, um gesellschaftliche Teilhabe abschließend analysieren zu können. Vielmehr, so der Gegenvorschlag, gelte es ein differenziertes Vokabular zu entwickeln, durch das zusätzlich Dimensionen der „Zwischenstufen“ gesellschaftlicher Teilhabe in den Blick geraten. Hier könne zusätzlich danach gefragt werden, wer auf welche Weise die Möglichkeit erhält, öffentlich in Erscheinung zu treten. Indem Herrmann jedoch auch nach den Bedingungen der Möglichkeit des In-Erscheinung-Tretens fragt, scheint er solch nuancierte Zwischenstufen im Ansatz mitzudenken. In Anlehnung an seinen methodischen Bezug zu einer politischen Phänomenologie bezieht seine Theorie grundlegend Analysen normativer Wahrnehmungsstrukturen ein, die sich generativ in den sozialen und historischen Sinnhorizont einer Gesellschaft einschreiben und sich auf diese Art auch in einzelne Wahrnehmungsstrukturen sedimentieren.  

 

Einfache, tiefe und unvernehmliche Meinungsverschiedenheiten 

Die drei Dimensionen von Demokratie als Steitganzem gehen darüber hinaus mit unterschiedlichen Tiefengraden einher, die sich durch verschiedene Arten von Meinungsverschiedenheiten auszeichnen. Herrmann benennt diese als einfache, tiefe und unvernehmliche Meinungsverschiedenheiten. Einfache Meinungsverschiedenheiten bestehen in solchen Situationen, bei denen konfligierende Gruppen in der Bewertung einer faktischen Situation nicht übereinstimmen. Der Streit betrifft hier die Frage, wie sich ein Sachverhalt nachweisen lässt oder ob eine spezifische Situation unter eine bestimmte Norm fällt. In tiefen Meinungsverschiedenheiten wird dann nicht die Realisierung einer Norm, sondern die Norm selbst infrage gestellt. Solche Meinungsverschiedenheiten liegen dann vor, wenn die jeweiligen Seiten ihre eigene Position schlüssig und konsistent darlegen können und es dennoch nicht möglich ist, so Herrmann, die Meinungsverschiedenheit durch argumentative Gründe aufzulösen. Unvernehmliche Meinungsverschiedenheiten umschreibt Herrmann als den „Streit um das Streitbare“, bei dem die gesellschaftliche Existenz der Streitelemente selbst im Vordergrund steht. Auf dieser Stufe wird noch darum gerungen, dass sich ein Konflikt allererst gesellschaftswirksam konstituiert.  

In seiner Respondenz griff Gerald Posselt  Herrmanns Ansatz einer ästhetischen Argumentation wieder auf, die mit der Betrachtung unterschiedlicher Meinungsverschiedenheiten eine neue Tiefe erreicht. Herrmanns ästhetische Argumentation rekurriert auf Ludwig Wittgenstein, der den Streit um Überzeugungen auf Gewissheiten gründet, die aus Routinevollzügen resultieren und in Lebensformen eingebettet sind. Auf diese Weise sind unsere Überzeugungen zunächst jenseits „reiner“ Rationalität situiert, indem sie als Lebensformen allererst den Hintergrund bilden, vor dem wir über Wahrheit urteilen. Posselt merkte kritisch an, dass durch diese Herangehensweise nicht klar wird, inwiefern Dimensionen des „Überredens“ und „Überzeugens“ noch unterschieden werden können. Überzeugen wird hier gedacht als eine Tätigkeit des Argumentierens auf dem Boden der Rationalität, während das Überreden als der Versuch der Änderung einer Meinung durch Suggestion beschrieben wird. Die kritische Anfrage an Herrmann lautet hier, ob er durch seine ästhetische Herangehensweise beide Dimensionen synonym setzt. Diese Frage ist auch deshalb berechtigt, da er auf Arendts Konzept des peithein rekurriert, das „jenes Überreden und Überzeugen“ meint, „welches der Polis als die hervorragende Art und Weise des politischen Miteinandersprechens galt“. Die kritische Anmerkung Posselts konzentrierte sich vorwiegend darauf, dass der Bezug zur Dimension der Wahrheit, die eine zentrale Rolle im politischen Streit spielt, auf diese Weise nicht hinreichend besprochen wird. 

 

Die Methode der politischen Phänomenologie  

Um Demokratie als Streitganzes in den Blick zu nehmen, plädiert Herrmann für eine Methode der politischen Phänomenologie, die er durch eine Ausarbeitung der ‚klassischen‘ Phänomenologie entlang der kritischen Anfragen an diese fortführt. Hier knüpft er an gegenwärtige ‚politische‘ und kritische Entwicklungen der phänomenologischen Denktradition an. Die politische Phänomenologie bleibt dabei dem Ansatz der erstpersonalen Erfahrungsinterrogation treu, erweitert diesen Ansatz jedoch gleichzeitig um die elementare sozio-materielle und sozio-politische Situiertheit von Personen, die auch in der phänomenologischen Analyseausrichtung weiterhin wirken. Durch diesen neuen Fokus werden erstpersonale Gegebenheiten weniger durch eine theoretische Selbstbeobachtung in den Blick genommen als wesentlich durch eine kritische Interrogation von situierter Subjektivität entlang ihrer, von Machtverhältnissen geprägten, Erscheinungsräume. Im Zentrum der Analyse einer politischen Phänomenologie stehen folglich nicht mehr die transzendentalen Bedingungen von Sinnbildung, sondern die „quasi-transzendentalen“ Strukturen unserer Lebenswelt in ihrer faktischen Bedingtheit. Auch hier argumentiert Herrmann für eine ästhetische Herangehensweise, die ihren Ausgang im anschaulichen und nicht im formalen Raum analytischer Rationalität findet.  

Darüber hinaus betonte Matthias Flatscher in seiner Respondenz, dass Herrmann die phänomenologische Aufklärung über eigene Vorurteilsstrukturen entlang einer grundlegenden Konfrontation mit Alteritäts- und Kontingenzstrukturen transformiert. Auf diese Weise wird nicht mehr von einem transparenten, transzendentalen Zentrum ausgehend gedacht, sondern vielmehr die stets offenen und teils kontingenten Dimensionen der eigenen Subjektivität betont. Durch den ästhetischen Fokus tritt die politische Phänomenologie, so Flatscher, zusätzlich als ein pädagogisches Projekt auf, das von deliberativen Argumentationsstrategien wegführt und den Weg zu einer politischen Praxis der Demonstration, im doppeldeutigen Sinn, ebnet. Indem Herrmann die Methode der politischen Phänomenologie als eine „aufweisende“ und darstellende Erkenntnismethode positioniert, die im Modus des Zeigens verfährt, werden vielmehr sachorientierte Konstellationen und Beziehungen betrachtet, anstatt sich auf immanente Logiken von Argumentationsketten zu reduzieren. Auf diese Weise ergründet Herrmann durch seine politisch-phänomenologische Methode eine Form „demonstrativer Kritik“, bei der eine Praxis des Aufzeigens, Anzeigens und Vorzeigens darauf zielt, anderen Personen neue Perspektiven zu eröffnen, die Meinungsverschiedenheiten bereits auf einer Wahrnehmungsebene adressieren und im besten Fall zu einer Horizonterweiterung führen.  

Das hier besprochene Buchforum deutet einen Weg an, auf welche Weise die Methode einer politischen Phänomenologie das Streitganze der Demokratie als stets unabgeschlossene Auseinandersetzung mit öffentlichen Konflikträumen in den Blick nehmen kann, indem Herrmann für eine produktive Konfliktpraxis argumentiert, in der Streit nicht aufgehoben wird, sondern sich als genuin demokratischer Konflikt zu einer konstruktiven Aushandlung pluraler Lebensformen entwickeln kann.  

 

Vanessa Ossino promoviert an der Universität zu Köln und der Universität Fribourg zu dem Thema der „Medialität von Erfahrung in ihrer sozialen Situation“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Phänomenologie, Sozialphilosophie und post-marxistischen Theorie. 

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