Der Liberalismus gegen sich selbst und die Rückkehr des Kalten Krieges. Ein Gespräch mit Samuel Moyn – Teil 2

Während der erste Teil des Gesprächs zwischen Samuel Moyn und Julian Nicolai Hofmann, der gestern hier auf dem Blog erschienen ist, auf die zentralen Begriffe, Argumente und Referenzautorinnen und -autoren von Liberalism against Itself eingeht, adressiert der zweite Teil nun einen breiteren theoretischen Kontext. Darin sprechen die beiden über die Krise der liberalen Demokratie, Varianten des Cold War Liberalism und Frage, wie der Liberalismus überleben kann.  

Hofmann: Lassen Sie uns den Blick etwas weiten. Die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie wurde häufig als Legitimationsverlust ihrer Kerninstitutionen und Aushöhlung ihrer politischen Grundlagen beschrieben. Welchen Beitrag leistet Ihr Buch zu den laufenden Diskussionen über die Krise der Demokratie? 

Moyn: Ich schließe mich denjenigen an, die die Krise der Demokratie als eine Krise des Liberalismus betrachten, die er durch selbstverschuldete Fehler verursacht hat. Im Gegensatz zu den schärfsten Kritikern des Liberalismus bin ich allerdings der Meinung, dass der Liberalismus eine weitere Chance verdient hat oder zumindest die Möglichkeit bekommen sollte, sich zu rehabilitieren. In diesem Zusammenhang möchte ich seine emanzipatorischen Potentiale wieder aufgreifen und zugleich davor warnen, dass ihre Liquidierung im Kalten Krieg den Liberalismus beschnitten hat. Diese Verabschiedung wesentlicher Aspekte hat nicht nur den Weg für Neokonservatismus und den Neoliberalismus geebnet, sondern ebenso eine Rhetorik bereitgestellt, um deren verheerende Auswirkungen komplett zu verschleiern. Ich bezweifle nicht, dass es heute institutionelle Geschichten über die Krise der Demokratie zu erzählen gibt. Tatsächlich haben wir es oftmals jedoch mit einer liberalen Angst vor der Demokratie zu tun, und deren Dynamik besteht nicht in der Aushöhlung institutioneller Macht, sondern in ihrer Stärkung (man denke an die Zentralbanken oder die obersten Gerichte). Ich glaube grundsätzlich nicht, dass die Wahldemokratie wirklich bedroht ist. Die schärfsten Beobachter unserer Gegenwart haben eher gezeigt, wie die politische Rechte sich gerade im Rahmen von Demokratie und Gesetz bewegt, anstatt beides einfach abzuschaffen. Was meiner Meinung nach allerdings wirklich auf dem Spiel steht, ist die Frage, ob die breite Masse der Bürger unsere gegenwärtige Form liberaler Demokratie noch als ansprechend und inspirierend empfindet. Der Cold War Liberalism hat ihnen schließlich versucht zu vermitteln, solche Erwartungen grundsätzlich nicht zu haben. Wenn man die Demokratie verteidigt, indem man permanent wiederholt, dass sie vor ihren Feinden gerettet werden muss, hat sie auf lange Sicht schlicht nicht mehr genügend Freunde. 

Hofmann: Das Hauptaugenmerk von Liberalism against Itself liegt auf der Herausbildung eines amerikanischen Liberalismus des Kalten Krieges. Gibt es auch europäische Varianten des Cold War Liberalism?  

Moyn: Natürlich, allerdings habe ich mich bewusst bemüht, ein anglo-amerikanisches Buch zu schreiben. Nur zwei meiner sieben oder acht Hauptfiguren sind in den Vereinigten Staaten geboren, Berlin und Popper waren die meiste Zeit ihrer Karriere Briten und mindestens die Hälfte meiner Figuren stellt Großbritannien und nicht die Vereinigten Staaten als das ideale Modell einer freien Gesellschaft dar. Die Beschränkung des Buches auf anglo-amerikanische Charaktere (mit einer ehrenvollen Ausnahme für den israelischen Talmon, der ohnehin anglophil war) ist jedoch mit gewissen Kosten verbunden. Ebenso ist der Franzose Raymond Aron nicht das aufschlussreichste Beispiel für einen europäischen Cold War Liberal, wie einige Kritiker des Buches festgestellt haben.n. Liberale des Kalten Krieges gab es überall, natürlich auch in Westdeutschland. Einer der interessanteren Beiträge zur Erforschung der Geschichte des Liberalismus in jüngster Zeit ist die Studie über einen philippinischen Cold War Liberal von Lisandro Claudio. Sie zeigt den besonderen Wert einer Globalisierung der Geschichte des Liberalismus. Darüber hinaus waren viele Liberalen in Westeuropa und in der ganzen Welt Teil eines Netzwerks, das durch den Kongress für kulturelle Freiheit geschaffen wurde. Diese Institution war in ihrer Reichweite völlig global, auch wenn die Wissenschaft ihn bisher nicht auf diese Weise untersucht hat. 

Hofmann: Auch in der europäischen Linken hat sich seit den 1960er Jahren ein spürbarer Wandel vollzogen. Ähnlich wie ihre politischen Gegner haben auch prominente linke Denker den Wohlfahrtsstaat kritisiert, sich entschieden gegen Etatismus ausgesprochen und ihre Besorgnis über totalitäre Bedrohungen zum Ausdruck gebracht. Um eine provokante Frage zu stellen: Gab es eine linke Variante des Cold War Liberalism, die ebenso zur Neuinterpretation des liberalen Projekts beitrug? 

Moyn: Ich würde es anders formulieren und sagen, dass der Neoliberalismus progressive Züge angenommen hat. Nancy Fraser hat auf ideologischer Ebene darauf hingewiesen. Zudem haben Wissenschaftlerinnen wie Stephanie Mudge gezeigt, wie sich linke Parteien in Westeuropa verändert haben und dabei insbesondere ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse im neoliberalen Zeitalter aufgaben. Mit diesen Folgen leben wir heute. Eine weitere wichtige, wenn auch zweitrangige Rolle für den Cold War Liberalism sehe ich auf der Ebene der Rhetorik. Wie oben angedeutet, haben viele Liberale in der politischen Linken ihre eigenen inhaltlichen Anpassungen an neoliberale Ordnungsvorstellungen durch eine liberale Rhetorik des Kalten Krieges verschleiert. Gleiches gilt im Bereich der Außenpolitik. Dort ist die Debatte unter westlichen Kommentatoren (ganz sicher auch unter Progressiven) in einem liberalen Framework des Kalten Krieges gefangen, in dem es primär um die Konfrontation mit Feinden geht. Die Trennlinie läuft dabei zwischen „Eindämmungsstrategien“, für die sich die meisten Figuren in meinem Buch entschieden haben und den deutlich aggressiveren „Rollback-Strategien“, die sich später schließlich durchsetzen. 

Hofmann: Lassen Sie uns noch einmal auf den Begriff des Liberalismus zurückkommen: Es scheint, dass Sie die Wiederbelebung einer früheren, weniger verfälschten Form des Liberalismus vorschlagen. Können wir an liberale Ideale vergangener Zeiten anknüpfen, wenngleich sich die intellektuellen, politischen und sozialen Grundlagen vollständig verändert haben? Gibt es die Möglichkeit, eine sozial bewusste, nicht repressive Form des Liberalismus zurückzugewinnen, die historisch an Bedingungen geknüpft war, die scheinbar nicht mehr existieren? 

Moyn: Ich glaube nicht, dass der Liberalismus jemals rein war, und es ist mir sehr wichtig klarzustellen, dass sich meine Kritik am Cold War Liberalism explizit auf die liberale Theorie aus der Mitte des Jahrhunderts bezieht. Gleiches gilt für meine Rückbesinnung auf den früheren Liberalismus sowie einzelne Aspekte der liberalen Theorietradition: Selbst auf dieser Ebene lassen sich frühere liberale Theorien nicht als Allheilmittel behandeln, sondern höchstens als Ausgangspunkt für die Schaffung eines anderen, neuen Liberalismus. Auf der praktischen Ebene hat es meines Erachtens nie einen emanzipatorischen Liberalismus gegeben, was aber zugleich nicht bedeutet, dass keine emanzipatorischen Elemente darin existieren, die für unsere Gegenwart zu reklamieren wären. Gleiches gilt für seine problematischen Bestandteile, die einzudämmen oder vollständig zu verwerfen sind. Natürlich sind sowohl das intellektuelle Leben als auch politische Hoffnungen stets an die konkreten Bedingungen zukünftiger Möglichkeiten gebunden, die niemals unbegrenzt offen, sondern jeweils historisch spezifisch sind. Aber anstelle eines grimmigen Determinismus, den ich genau wie die Liberalen des Kalten Krieges ablehne, gibt es eine gewisse intellektuelle Freiheit, vorhandene Optionen zu bewerten und sich anschließend für die beste Option zu entscheiden. In diesem Bereich bewegt sich mein Buch auf bescheidene Weise. Ich bin der Meinung, dass bestimmte Autoren des frühen neunzehnten Jahrhunderts, wie etwa Giuseppe Mazzini, John Stuart Mill und insbesondere Alexis de Tocqueville die Hoffnung auf einen perfektionistischeren und fortschrittlicheren Liberalismus zulassen. Ebenso erinnern uns die späteren Liberalen des 19. Jahrhunderts daran, dass der Liberalismus nie nur eine libertäre Ideologie des Laissez-faire war. Ansonsten sind wir bei der Ausarbeitung eines solchen Liberalismus, den bisher noch niemand entwickelt hat, weitgehend auf uns allein gestellt.  

Hofmann: Gegenwärtig drehen sich zahlreiche Beiträge um das Schicksal des Liberalismus: Kann er überleben oder ist er bereits verloren? Vertreter des postliberalen politischen Denkens wie Patrick Deneen, Adrian Pabst und John Gray nutzen die Krise des Liberalismus, um ihn fundamental in Frage zu stellen. Welche Aspekte dieser Sichtweise halten Sie für problematisch und welche Argumente finden Sie überzeugend? 

Moyn: Berlin hat einmal bemerkt, dass es manchmal interessanter ist, die Feinde des Liberalismus zu studieren als seine Freunde. Darin stimmen wir überein. Aber die zeitgenössischen Kritiker des Liberalismus haben, abgesehen davon, dass sie alte konterrevolutionäre Themen wiederbeleben, allgemein mit einem sehr unzureichenden Verständnis der intellektuellen Geschichte des Liberalismus gearbeitet. Das gilt sogar für Gray, der einst ein großer Gelehrter dieser Geschichte war. Bei all dem wird auch deutlich, dass es sich längst nicht mehr um eine rein akademische Debatte handelt: Wenn wir ausschließlich mit einem Strohmann-Konzept des Liberalismus antreten, haben wir schlechte Karten. Zugleich ist es jedoch ein Fortschritt, eine Zeit hinter sich zu lassen, in der der Liberalismus theoretisch als selbstverständlich angesehen wurde, auch weil es meist als Deckmantel für den Aufstieg des Neoliberalismus diente. Meine ganze Absicht war es, diesen historischen Moment gerechtfertigter Kritik zu nutzen, um die aktuellen Liberalen in eine andere Richtung zu drängen, von denen ich durchaus hoffe, dass sie in Zukunft bessere Entscheidungen treffen werden. Es wäre wirklich ironisch, wenn man sich an Patrick Deneen und andere erinnern würde, weil sie den Liberalismus gerettet haben, anstatt ihn zu zerstören. Darin liegt schließlich noch eine große Hoffnung. 

Hofmann: Im politischen Diskurs der Gegenwart kehrt der Kalte Krieg zurück. Ihr Buch argumentiert jedoch, dass der Cold War Liberalism niemals wirklich verschwunden war, sondern vielmehr in die liberale Demokratie eingeschrieben ist. Das zeigt sich gegenwärtig insbesondere im Umgang mit externen Bedrohungen oder auch dem Populismus. Gibt es überhaupt Aussichten auf einen langfristigen Wandel? 

Moyn: Richtig. Was Sie beschreiben gilt vor allem für Deutschland, wo der Krieg in der Ukraine und die Bedrohung durch die Alternative für Deutschland eine deutliche Erinnerung daran sind, dass die liberalen Denkgewohnheiten des Kalten Krieges nie aus ihren einstigen Geburtsstätten verschwunden sind. Wie Sie bereits angedeutet haben, spielen Ideen über den Liberalismus aber letztlich eine weitaus geringere Rolle, als die konkreten strukturellen Gegebenheiten, die sich historisch herausgebildet haben und nur sehr schwer zu erneuern sind. Dennoch haben Ideen stets dazu beigetragen, diese Realitäten überhaupt zu ermöglichen oder sie zumindest politisch zu legitimieren. Nicht zuletzt helfen sie uns dabei, unter den eingeschränkten Bedingungen der Gegenwart die besten Optionen auszuwählen. Ich glaube, dass die Wiederauferstehung eines liberalen Optimismus aus dem Grab, in das ihn die Cold War Liberals einst verbannt haben, in diesem Sinne eine doppelte Rolle spielen kann: Einerseits kann er uns entscheidende inhaltliche Aspekte für einen Liberalismus bereitstellen, der es wirklich wert ist, entwickelt zu werden. Zugleich kann Optimismus dazu beitragen, sich eine Zukunft vorzustellen, die eher verlockend als beängstigend ist. Ein kümmerlicher Liberalismus, dem jede Hoffnung auf Fortschritt fehlt, wird das Überleben unserer liberalen Gegenwart kaum ermöglichen. 

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