Volkssouveränität und demokratische Politik. Zu Ingeborg Maus’ „Politischer Politischer Theorie“ 

Sonja Buckel und Oystein Lundestad haben mit ihren Beiträgen zum Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat bzw. zur Frage der Moral in Recht und Politik den Theorieblog-Schwerpunkt zum Werk der im Dezember verstorbenen Ingeborg Maus begonnen. Felix Petersen schließt die Trias der Beiträge heute mit einem Beitrag ab, der Maus noch einmal als Gegnerin Schmittscher Souveränitäts- und Verfassungsverständnisse präsentiert und ihre bleibende Aktualität betont.

Machtzentralisierung, exekutive Politik, und Autoritarismus sind Grundcharakteristika der aktuellen demokratischen Schieflage. Gerade bezüglich dieser politischen Entwicklungen, kann Ingeborg Maus’ politisches Denken Orientierung bieten. Entlang einiger grundsätzlicher Aspekte ihres Buchs Über Volkssouveränität (Maus 2011) möchte ich im Folgenden zeigen, dass wir uns an ihrer „Politischen Politischen Theorie“ (Jeremy Waldron) vergewissern können, warum es sinnvoll ist, Politische Theorie auf reale Machtverhältnisse und Institutionen auszurichten.  (mehr …)

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Recht und Moral bei Ingeborg Maus

Ingeborg Maus ist am 14. Dezember 2024 im Alter von 87 Jahren verstorben. Der Theorieblog widmet Ingeborg Maus einen Schwerpunkt, der in Form von drei Beiträgen in dieser und den kommenden zwei Wochen unterschiedliche Aspekte ihres politischen Denkens beleuchtet. Den Auftakt gab vergangene Woche Sonja Buckel mit Perspektiven auf Maus‘ demokratietheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat. Wir führen den Schwerpunkt fort mit einem Beitrag von Øystein Lundestad zum Verhältnis von Moral und Recht sowie Maus‘ Auseinandersetzung mit Kant.

Ingeborg Maus’ Artikel „Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts“ wurde erstmals 1989 in der Zeitschrift Rechtstheorie veröffentlicht. Er wurde später auch in den Anhang ihres bedeutendsten Werks Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992) aufgenommen. Dieser Titel kann zugleich auch als Einstieg in ihr gesamtes Werk dienen: Ein Schwerpunkt für Maus war der für einige kontraintuitive Satz, dass die Legitimation und Struktur des modernen, demokratischen Rechtsstaats eine Trennung zwischen Recht und Moral voraussetzt.

Maus lehnt alle Versuche ab, das Recht an die Moral zu binden. Im Artikel nennt sie die Theorie Ronald Dworkins und die Praxis des Bundesverfassungsgerichts als Beispiele dafür. Maus zufolge stehen aber solche Versuche in Gefahr, die formellen Strukturen des Rechts zu wandeln: Statt eine Art Garantie gegen positiv-rechtliches Unrecht zu bieten, wird das Recht dem willkürlichen Handeln des Staatsapparats und dessen moralischer Selbstbegrenzung überantwortet. Dem Gewaltenteilungsprinzip ähnlich sorgt die Trennung zwischen Recht und Moral eher für eine normativ notwendige Begrenzung des Rechtsbereichs. Wo andere ein normatives Problem in den amoralischen Zügen des Rechts gesehen haben, sah Maus darin seine normative Autonomie, und warnte vor allen Versuchen, moralische Kategorien ins Recht einzuführen.

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Bruch am Rand. Lesenotiz zu Norma Tiedemanns „Un/gehorsame Demokratie und umkämpfte Patronagestaatlichkeit in Südosteuropa“

Die Demokratie scheint derzeit global auf dem Rückzug. Europa ist keine Ausnahme. Gerade der europäische Osten scheint mit Blick auf Ungarn, die Slowakei oder Serbien ein Labor für den autoritären Backlash. Doch selbst mit Blick auf Osteuropa greift das Narrativ des democratic decline zu kurz. Wer sich auf die Dissertation „Un/gehorsame Demokratie und umkämpfte Patronagestaatlichkeit in Südosteuropa. Eine Konjunkturanalyse der munizipalistischen Plattformen in Zagreb und Belgrad“ der Kasseler Politologin Norma Tiedemann einlässt, um über den Tellerrand der westeuropäischen Kernstaaten und der rechtspopulistischen Konjunktur zu blicken, dürfte überrascht werden. Hier erscheint Südosteuropa als ein radikaldemokratisches Experimentierfeld – was wertvolle Impulse liefert für den oft territorial verengten Blick der (deutschsprachigen) politischen Theorie. Die Studie argumentiert analytisch präzise und bewegt sich auch sprachlich auf einem (sehr) hohen Niveau. Meine Lesenotiz möchte für die Arbeit neugierig machen, indem es zugleich Teile des Arguments skizziert und dessen Spannungslinien benennt – insbesondere hinsichtlich des komplizierten Verhältnisses zwischen Tiedemanns materialistischer Position und der radikalen Demokratietheorie.  (mehr …)

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Mit Kant gegen Schmitt – Demokratie und Rechtsstaat bei Ingeborg Maus

Ingeborg Maus ist am 14. Dezember 2024 im Alter von 87 Jahren verstorben. Aus dem Kreis der Politischen Theorie und Ideengeschichte sind Nachrufe hier, hier und hier erschienen.
Der Theorieblog widmet Ingeborg Maus einen Schwerpunkt, der in Form von drei Beiträgen in dieser und den kommenden zwei Wochen unterschiedliche Aspekte ihres politischen Denkens beleuchtet. Den Auftakt gibt heute Sonja Buckel mit Perspektiven auf Maus‘ demokratietheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Demokratie und Rechtsstaat.

 

„Radikaldemokratie in Königsberg“, so lautete der Titel der 1993 erschienen Rezension von Reinhard Brandt über das Kant-Buch von Ingeborg Maus im Rechtshistorischen Journal. „Radikaldemokratie“ – das war bisher eher nicht mit Kant in Verbindung gebracht worden. Ihre Auseinandersetzung mit Kants Politischer Theorie, für die Maus den Titel „Zur Aufklärung der Demokratietheorie“ gewählt hatte, wich von gängigen Auslegungen ab. Das irritierte. Maus, die am 14. Dezember 2024 aus dem Leben schied, wollte in der Tat aufklären über „die emphatischste Demokratietheorie der Moderne“ (S. 34f.), die noch von keiner realexistierenden Demokratie je eingeholt worden sei (S. 15).

Aufklärung sei notwendig, da die Rezeptionsgeschichte obrigkeitsstaatlichen Verzerrungen unterliege und zudem „die konsequentesten Demokratietheorien des 18. Jahrhunderts“ an jenen begrenzten Formen politischer Beteiligung gemessen werden, die heutzutage überhaupt noch möglich erschienen (S. 8). Gegenwärtige Demokratietheorien, so Maus, artikulierten die institutionalisierte Hoffnungslosigkeit, etwa wenn Niklas Luhmann den demokratischen Souverän in das bloße „Publikum“ überführe (S. 20).

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Theoriepolitische Polemik im Gewand der Werkexegese. Eine Replik auf die Replik

Julian Nicolai Hofmann und Dirk Jörke haben den Umstand, dass Martin Oppelt ihre Lefort-Lektüre in seinem Beitrag zum 100. Geburtstag Claude Leforts einer kritischen Betrachtung unterzogen hat, zum Anlass genommen, ihre grundlegende Kritik an Lefort und vor allem an der Lefort-Rezeption im Kontext der deutschsprachigen Debatten über radikale Demokratietheorie zu erneuern. Was auf den ersten Blick wie die Auseinandersetzung darüber erscheinen könnte, wie das Werk eines politischen Theoretikers zu lesen ist, erweist sich dabei rasch, wie auch schon im ursprünglichen Lefort-Artikel der beiden Autoren, auf den sich Martin Oppelts Kritik bezieht, als eine theoriepolitische Polemik im Gewand der Werkexegese. (mehr …)

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Replik: Befragung der eigenen Grundlagen statt Wiederkehr des Immergleichen

Die politische Theorie Claude Leforts erfreut sich im deutschen Sprachraum einer ungebrochenen Beliebtheit. Davon zeugen nicht zuletzt die hier auf dem Blog versammelten Beiträge anlässlich seines hundertsten Geburtstages. Sie entstammen vorwiegend einer Theoriekonzeption, die sich selbst als radikaldemokratisch versteht und dabei in sehr affirmativer Weise auf Leforts politisches Denken bezieht. Unser kritisch-kontextualisierender Zugang zum Werk von Lefort wird von Martin Oppelt in einer Weise kritisiert, die fast den Eindruck erweckt, wir würden uns der unangemessenen Hinterfragung einer zentralen (demokratischen) Autorität schuldig machen. Das wollen wir zum Anlass nehmen, noch einmal unsere Gründe für eine distanzierte Auseinandersetzung mit Lefort anzuführen. Diese lassen sich gerade auch an den Beiträgen des hiesigen Forums demonstrieren.

So erinnert Oliver Flügel Martinsen mit Lefort einmal mehr daran, Demokratie als eine „Befragungspraxis des Politischen“ zu verstehen, die als „Kontestation und Transformation bestehender Ordnungen keine Fakten beschreiben, sondern einen Konstitutionsmodus gesellschaftlicher Ordnungen umreißen“ soll. Sara Gebh und Sergej Seitz sehen das Verdienst von Lefort vornehmlich darin, die „Spannung zwischen Demokratie und Institution produktiv zu wenden“. Martin Oppelt schließlich gelangt zu der Einschätzung, dass Leforts Abschied vom Marxismus wesentlich darauf zielte, „die Bedingungen der Möglichkeit zu analysieren, vor dem Hintergrund einer geteilten Erfahrung der Welt verschiedene Antworten auf dieselbe Frage (der Demokratie) überhaupt zueinander in Konkurrenz bringen zu können.“ Wir müssen gestehen, dass wir mit derartigen Formulierungen recht wenig anzufangen wissen. Was soll hier konkret „produktiv gewendet“ werden? Welche „geteilten Erfahrungen“ werden auf welche Weise „zueinander in Konkurrenz gebracht“? (mehr …)

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Die Gemeinschaft im Urteil: Sensus communis bei Kant und Arendt (Tagungsbericht)

Unter Rückgriff auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft bestimmt Hannah Arendt das subjektive Urteilsvermögen als konstitutiv überindividuell und intersubjektiv: „Wenn man urteilt, urteilt man als Mitglied einer Gemeinschaft“ (Arendt 2012 [1970], Das Urteilen, 113). Dieser Ansatz einer politischen Philosophie des Urteilens ist untrennbar verbunden mit Arendts Diagnose der ‚Krise der Moderne‘, in der die Urteilskraft des Subjekts und die sie ermöglichende Integration der Gemeinschaft in einem Missverhältnis stehen. Auch das seit Kurzem neu auftretende Interesse an Arendts Begriff des Urteilens ist angesichts gegenwärtiger Krisen als Versuch eines Brückenschlags zwischen partikularen, epistemischen Standpunkten und dem Bedürfnis nach einer allgemeingültigen, normativen Orientierung zu verstehen. In diesem Sinn organisierten Martin Baesler (Freiburg) und Kevin Licht (Bonn) am 4. Dezember 2024 an der Universität Freiburg die Tagung „Individueller Universalismus? Sensus communis und reflektierendes Urteilen bei Kant und Arendt“.

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Replik auf Niklas Angebauers „Vom Gemeinbesitz zu den Commons?“

Im Rahmen unserer aktuellen ZPTh-Debatte antwortet heute Eva Weiler auf den Kommentar von Niklas Angebauer zu ihrem ZPTh-Artikel „Vom Gemeinbesitz zum Privateigentum?“, den wir am Dienstag veröffentlicht haben.

In seinem Kommentar zu meinem Artikel „Vom Gemeinbesitz zum Privateigentum?“ formuliert Niklas Angebauer begriffliche und interpretatorische Einwände sowie eine kritische Schlussüberlegung. Ich werde die Einwände chronologisch durchgehen und, da Angebauer sich vornehmlich auf Eigentumsfragen konzentriert, die eigentlich nicht im Fokus des Artikels stehen, dabei auch noch einmal das Anliegen meines Beitrages skizzieren. (mehr …)

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Vom Gemeinbesitz zu den Commons? – Kommentar zu Eva Weilers ZPTh-Artikel „Vom Gemeinbesitz zum Privateigentum?”

Die neue Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie ist erschienen! Oliver Eberl und Silviya Lechner geben im aktuellen Heft einen Schwerpunkt zum Thema „Der Naturzustand zwischen Kontext und Konstruktion: Methodische Bedingungen politischer Theoriebildung“. Vier spannende Abhandlungen sind unter diesem Themenschwerpunkt versammelt: Helga Varden diskutiert Stärken und Grenzen von Kants Transformation der Gesellschaftsvertragstradition, David Boucher untersucht den Charakter von Hobbes‘ Darstellung der menschlichen Zwangslage im Naturzustand und Laura Soréna Tittel beleuchtet in ihrem Artikel das Verhältnis von Naturzustand und Antiziganismus. Den Beitrag von Eva Weiler haben wir als Gegenstand für die Debatte auf dem Theorieblog ausgewählt – dieser ist damit zugleich hier open access verfügbar. Eva Weiler geht der Frage nach, „warum die Theorien der Aufklärung aus dem ursprünglichen Gemeinbesitz nicht zum Gemeineigentum kommen und unter welchen methodischen Bedingungen sich das ändern ließe?“.
Im Anschluss an den Themenschwerpunkt befasst sich der Aufsatz von Marc Dreher mit Verschwörungsmythen und der Mythenlehre Georges Sorels und Thomas Krumm widmet sich dem Freund-Feind-Denken bei Karl Popper und Carl Schmitt. Den Abschluss des Heftes bildet ein Beitrag von Peter Niesen zum 300. Geburtstag Immanuel Kants im vergangenen Jahr mit dem Titel „Wohin mit Kants politischer Philosophie?“.

Wir freuen uns sehr, dass Niklas Angebauer von der Universität Oldenburg mit einem Kommentar zum Beitrag von Eva Weiler die ZPTh-Debatte auf dem Theorieblog im Folgenden eröffnen wird, worauf wiederum die Autorin in Form einer Replik antworten wird. Wie immer sind alle herzlich eingeladen, in den Kommentarspalten mitzudiskutieren! Wir wünschen eine gute Lektüre und übergeben nun das Wort an Niklas Angebauer.

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Marx im umkämpften Erbe des Republikanismus: Ein Interview mit Bruno Leipold

Mit Citizen Marx: Republicanism and the Formation of Karl Marx’s Social and Political Thought (Princeton University Press) legte der Politische Theoretiker Bruno Leipold kürzlich eine Monographie über Karl Marx und sein komplexes Verhältnis zur Tradition des Republikanismus vor. Jochen Schmon hat darüber mit dem Autor gesprochen, das Interview erschien zuerst auf dem Blog des Journal of the History of Ideas im November 2024. Wir veröffentlichen es hier in gekürzter Form in deutscher Übersetzung.

 

Jochen Schmon (JS): Der Großteil der Marx-Forschung stützt sich bis heute auf die Annahme eines „epistemologischen Bruchs“, der Marx‘ Schriften in eine „junge“ humanistisch-philosophisch geprägte Frühphase und eine „reife“ historisch-materialistische Wissenschaft der politischen Ökonomie unterteilt. Ihr neues Buch charakterisiert stattdessen die intellektuelle Entwicklung von Marx anhand bestimmter politischer Brüche, die allen voran durch seine sich stetig verändernde Haltung zum Republikanismus zu erklären sei. Ihr Anliegen scheint es zu sein, theoretische Veränderungen in Marx‘ Werk weniger durch seine persönliche Forschung und wissenschaftliche Lektüre zu verstehen als anhand politischer Ereignisse – eine, wie ich finde, geradezu mustergültige historisch-materialistische Ideengeschichte. Wie Sie mit Rückgriff auf Autoren der Cambridge School wie J.G.A Pocock oder Quentin Skinner betonen, stieg der Republikanismus im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa, Nord- und Lateinamerika zum vorherrschenden Gedankengut der Massenpolitik auf. Was sind für Sie die zentralen theoretischen Besonderheiten des republikanischen politischen Denkens?

Bruno Leipold (BL): Was mir in diesem Buch sehr wichtig war, (mehr …)

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