Schwerpunkt: Cornelius Castoriadis zum 100. Geburtstag

Am heutigen 11. März hätte Cornelius Castoriadis seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Damit ist ein Anlass für den vorliegenden Schwerpunkt gegeben. Das anhaltende und ausdifferenzierte (wenn auch nicht immer weithin sichtbare) Rezeptionsinteresse an Castoriadis‘ Werk und Denken liefern zudem auch einen mehr als überzeugenden Grund dafür, sich mit dessen unterschiedlichen Facetten und Anschlussmöglichkeiten auseinanderzusetzen.

Zweifellos sind Castoriadis‘ umfangreiche Schriften im Vergleich zu anderen Denker:innen, mit denen sich seine Wege etwa im Kontext von Socialisme ou Barbarie (wie Claude Lefort und Jean-François Lyotard, siehe Poirier 2019), seiner Tätigkeit an der EHESS (wie Jacques Derrida) oder im Umfeld der radikalen Demokratietheorie (wie Chantal Mouffe) kreuzten, bislang weniger umfangreich rezipiert worden. In der Tat ist Castoriadis’ Werk, aus einer links-libertären Strömung der französischen Linken kommend, in der deutschen Theorielandschaft nur spät und dann zögerlich zur Kenntnis genommen worden. Am fehlenden Zugang zu englischsprachigen Ausgaben seiner Schriften kann es allerdings nicht gelegen haben: So liegen schon seit 1988 drei umfangreiche Bände seiner Political and Social Writings bei University of Minnesota Press in englischer Übersetzung vor. Die deutsche Übersetzung seines Hauptwerks, Gesellschaft als imaginäre Institution, 1990 bei Suhrkamp erschienen, hat im deutschsprachigen Raum ebenfalls kaum dazu geführt, Castoriadis als jene wichtige Stimme in Debatten um kritische Theorie und radikale Demokratie zu etablieren, als die er auf internationaler Ebene seit mindestens den 70er Jahren weithin bekannt geworden ist.

So ist Castoriadis im deutschsprachigen Raum über lange Zeit eine Art theoretischer Geheimtipp geblieben. Daran haben auch Jürgen Habermas’ explizite kritische Auseinandersetzung mit Castoriadis Gesellschaftstheorie in einem Exkurs-Kapitel von Der philosophische Diskurs der Moderne (1985) und Axel Honneths Dialog mit Castoriadis (1986) wenig geändert. Diese Dialogversuche aus der Mitte der 80er Jahre stellen aber eine wichtige Wegmarke dar für den theoretischen Austausch zwischen der Frankfurter Schule (der zweiten und dritten Generation) und den postmarxistisch geprägten französischen Theorien des Politischen – eine Tradition nicht ganz einfacher Begegnungen, die zuletzt im Gespräch zwischen Honneth und Rancière ihren Widerhall gefunden hat. In diese Entwicklungslinie der deutschen Rezeption französischer politischer Theorie gehören unbedingt auch weniger prominente Stimmen, wie Ulrich Rödel († 2019), dessen zu Unrecht vernachlässigter Sammelband Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie (ebenfalls 1990 bei Suhrkamp) wichtige Texte von Castoriadis und Lefort erstmals der deutschen Leser:innenschaft zugänglich machte und einführend vorstellte.

Erklärungen für das relative Schweigen um Castoriadis gäbe es zur Genüge. In gewisser Hinsicht stand er immer zwischen den Stühlen verschiedener Strömungen, sowohl in praktisch-aktivistischer als auch begrifflich-theoretischer Hinsicht: zu anti-marxistisch für die Einen, in seiner oft polemischen Abrechnung mit jeder Form von Strukturdeterminismus; zu nostalgisch für die Anderen, in seiner Vision vom antiken Athen und geradezu unbelehrbar einer oft als anachronistisch verworfenen Vorstellung von Direktdemokratie verhaftet; und überhaupt zu abstrakt in seiner Theorie des radikalen Imaginären, die, wie Habermas und Honneth meinen, den modernen Revolutionsbegriff aus der Immanenz der Geschichte in eine Ontologie demiurgischer Schöpfung aus den Tiefen des unbestimmten Seins überführt. So ist selbst bei deutschsprachigen Vertreterinnen der radikalen Demokratietheorie, Castoriadis trotz seiner herausragenden Stellung im Kreis von Socialisme ou Barbarie eher in eine zweite Reihe gerückt worden. Oliver Marcharts einflussreiches Werk Die politische Differenz (2010) widmet Castoriadis im Kreis der Post-Fundamentalist:innen kein eigenes Kapitel. Denn auch von Seiten einer ontologischen Theorie des Politischen bleibt Castoriadis‘ philosophische Rehabilitation der Vorstellungskraft schwer zu fassen; in ein heideggerianisches Schema einer ontisch-ontologischen Differenz lässt sich Castoriadis ebenfalls kaum übersetzen, da er (im Unterschied besonders zu Lefort) das Politische (le politique) nicht etwa als ontologische Nicht-Identität denkt, sondern schlicht und einfach als Dimension einer institutionalisierten Macht, die laut Castoriadis in allen Gesellschaften existiert. Das Politische bezeichnet für Castoriadis den politischen Raum als solchen (und gerade keine auf Antagonismus oder Nicht-Identität bezogene Tiefendimension). Politik im engeren Sinn (la politique) gäbe es ihm zufolge aber nur dort, wo Institutionen ein Projekt der Autonomie – d. h. der permanenten kollektiven Selbstbefragung und Neuschöpfung – stabilisieren und verstetigen (siehe Poirier 2009).

Zu den Schwierigkeiten dieser idiosynkratischen Variante einer ‚politischen Differenz‘ kommt noch dazu, dass Castoriadis‘ z.B. im Vergleich zu Rancière (oder gar Foucault) geradezu unverblümtes Bekenntnis zu einem normativen Begriff demokratischer Autonomie post-fundamentalistische Denker:innen vor den Kopf stoßen mag: Verspielt Castoriadis mit diesem affirmativen Bekenntnis zur Autonomie nicht ein post-fundamentalistisches Alleinstellungsmerkmal, das darin besteht, die Methode kritischer Theorie von der moralphilosophischen Sorge um ‚Normativität‘ zu befreien? Dass Castoriadis die demokratische Autonomie dann auch noch mit bestimmten institutionellen Formen in Verbindung bringt – nämlich mit einem Föderalismus demokratischer Räte –, setzt ihn dann endgültig in ein Spannungsverhältnis mit post-fundamentalistischen Ansätzen. Ist in Castoriadis’ Rede von der kollektiven Selbstschöpfung also nicht letztlich ein mit Transparenzdenken gepaarter Dezisionismus am Werke, der, wie schon Habermas in den 80er Jahren mahnte, vielleicht in der Athener Polis seinen Ausgang nimmt, aber am Ende bei Carl Schmitt landet? Wohin also mit Castoriadis, diesem angriffslustigen Fürsprecher von Autonomie als einem revolutionären und doch permanent wiederkehrenden Schöpfungsakt und zugleich von Demokratie als der institutionalisierten Form gesellschaftlicher Selbstinstituierung?

Doch gerade in den aktuellen Debatten ist es vielleicht Castoriadis‘ Denken, das eingefahrene Dualismen aufsprengen könnte. Castoriadis lässt sich nicht einfach zuordnen in der Debatte zwischen Paris und Frankfurt – zwischen der post-fundamentalistischen These ontologischer Nicht-Identität und dem Fragen nach demokratischen Institutionen und normativen Zielsetzungen, hin zu einer politischen Theorie, die es sich nicht versagt, zugleich eine kritische Sozialtheorie liefern zu wollen. Wie im deutschsprachigen Raum zuletzt Arbeiten von Paula Diehl (2019), Heike Delitz (2019), Regine Herbrik und Tobias Schlechtriemen (2019) deutlich gemacht haben, besitzt Castoriadis’ Begriff des sozialen Imaginären große Relevanz für interdisziplinäre und empirische Ansätze der Sozialforschung. So ist es vielleicht paradoxerweise gerade der vermeintlich ‚ontologische‘ Castoriadis, der als Inspirationsquelle dienen kann, um auf Lois McNays Kritik an der vermeintlichen ‚social weightlessness‘ in der radikalen Demokratietheorie eine gehaltvolle Antwort  zu formulieren. Und wenn, wie Larissa Pfaller (2021) schreibt, in der aktuellen soziologischen Forschung tatsächlich “eine (wieder-)aufkommende Aufmerksamkeit für Imaginationen und das soziale Imaginäre” zu verzeichnen ist, dann steht gerade auch Castoriadis’ Gesellschaft als imaginäre Institution wieder auf der theoretischen Tagesordnung.

Doch Castoriadis’ Aktualität ist keinesfalls bloß philosophischer Natur: So haben die Bewegungen der Plätze, von der Tunesischen Revolution (vgl. Abbas 2019) über die spanischen Indignados und Occupy bis zum Gezi Park, nicht nur die Möglichkeit neuer gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen aufgezeigt, die in einem von vielen als Überraschung erlebten Moment kollektiver Mobilisierung geradezu in die Welt gebrochen sind. Zugleich ist es aber auch Castoriadis, der nicht beim Bruchmoment aufständischer Bewegungen stehen bleibt, sondern nach den institutionellen Bedingungen der Verstetigung von kollektiver Autonomie fragt. Die derzeitige Debatte um Institutionen des Politischen (vgl. Flatscher und Herrmann 2020) kann daher ebenfalls bei Castoriadis, besonders bei seiner Vision des Rätesystems, wichtige Einsichten gewinnen, die über eine radikaldemokratische Theorie des ‚Moments des Politischen‘ hinausweisen (vgl. Ask Popp Madsen 2021). Und nicht zuletzt war es auch Castoriadis, der trotz des ausgeprägten Eurozentrismus seiner eigenen Geschichtserzählung, zwischen den 40er und 60er Jahren im Austausch stand mit C. L. R. James und Grace Lee Boggs, führenden Denker:innen schwarzer und anti-kolonialer politischer Praxis, deren Platz in der stets von Frankreich her erzählten Geschichte des Postmarxismus erst noch herauszuarbeiten wäre (vgl. Plätzer 2021). Auch hier kann die Kategorie des Imaginären – mit und gegen Castoriadis – neue Wege aufzeigen und helfen, eurozentrische Gemeinplätze innerhalb der politischen Theorie zu hinterfragen: etwa die Idee einer in den Revolutionen Amerikas und Frankreichs, nicht aber dem transatlantischen Sklavenhandel begründeten politischen Moderne, die mit Castoriadis‘ Begriffen als kontingent instituierte imaginäre Bedeutung kritisch reflektiert werden kann. Castoriadis selbst ist eurozentrischen Denkmustern verhaftet geblieben und hat die ihm zufolge für die Autonomietradition des Westens eigentümliche Qualität der kritischen Selbstbefragung nicht auf seine eigene, konstitutive Verbindung mit einer kolonialen Gewaltgeschichte bezogen. Und dennoch haben Denker der Black radical tradition, wie Cedric Robinson (1983) oder Robin D. G. Kelley (2003), explizit Castoriadis‘ Werk als eine Inspirationsquelle ihrer kritischen Arbeiten benannt – vielleicht gerade auch deshalb, weil Castoriadis‘ Theorie des Imaginären immer auch als Kritik an einem orthodox-marxistischen Klassenreduktionismus gemeint war und, trotz der Grenzen seiner eigenen Vorstellungskraft, die Pluralität emanzipatorischer Kämpfe immer am Anfang seiner Reflektion stand.

Mit Blick auf Castoriadis‘ Werk ist es daher bemerkenswert, aus wie vielen und ganz unterschiedlichen politischen und theoretischen Perspektiven heraus produktiv daran angeschlossen worden ist. Von der Neuen Linken über Jürgen Habermas und Charles Taylor bis zu Achille Mbembe findet sich eine Vielzahl ganz unterschiedlich motivierter Auseinandersetzungen mit verschiedenen Facetten in Castoriadis‘ Denken, die darin Impulse für demokratietheoretische Überlegungen, Analysen imaginärer Bedeutungen und Reflektionen über die Methoden einer kritischen und zugleich politischen Theorie finden konnten. Wenn also einerseits Castoriadis‘ Werk nur mit einiger Mühe zu erschließen ist, spricht ganz offensichtlich viel dafür, dass sich diese Mühe andererseits unbedingt lohnen kann – und zwar für deutlich mehr Themen, theoretische und aktivistische Perspektiven als so manche:r Leser:in zunächst vermuten würde.

Vor diesem Hintergrund können die Beiträge dieses Schwerpunkts vielleicht zumindest exemplarisch einen Eindruck davon vermitteln, welche vielfältige Anschlussmöglichkeiten das Denken und Werk von Cornelius Castoriadis bietet. Wir sind sehr glücklich, dass mit unseren Beitragenden – denen wir ganz herzlich danken! – vielfältige Lesarten von Castoriadis’ Werk zu Wort kommen können: sowohl von etablierten Forscher:innen, die teils persönlich mit Castoriadis vertraut waren, als auch von jungen Stimmen der politischen Theorie, die Castoriadis’ Werk in neue Kontexte stellen und die dazu einladen, vielleicht zum ersten Mal die Gesellschaft als imaginäre Institution in die Hand zu nehmen.

Pünktlich zum heutigen Jahrestag beginnen wir mit drei Beiträgen von Jean Cohen, Sophie Klimis und Paul Sörensen. Im Laufe der kommenden Woche werden diese dann ergänzt durch drei weitere Texte von Nabila Abbas, Victor Galdino und Agatha Slupek. Wir freuen uns, dass in Kooperation mit dem Journal of the History of Ideas Blog voraussichtlich im April außerdem eine – um einige weitere Beiträge ergänzte – englische Version unseres Schwerpunkts erscheinen wird. Die zusätzlichen Beiträge werden dann aber zeitgleich auch hier auf dem Theorieblog in deutscher Fassung erscheinen – also unbedingt die Augen offenhalten!

 

Zum direkten Ansteuern hier noch einmal eine Übersicht über die Beiträge dieses Schwerpunkts:

Jean Cohen: Das unabgeschlossene Projekt demokratischer Autonomie: Zum 100. Geburtstag von Cornelius Castoriadis

Sophie Klimis: Zurück in die Zukunft, nach Griechenland: Castoriadis und der ‚Keim‘ des alten Athen

Paul Sörensen: Von der Politischen Ökologie zu Wirtschaftsdemokratie und demokratischem Eigentum

Nabila Abbas: „Wenn Leute sich etwas vorstellen können, dann wird auch die Zeit kommen, wo sie es vollbringen“. Zur Bedeutung des Imaginären für das Verständnis von Revolutionen

Victor Galdino: Mbembe liest Castoriadis: Notizen aus der Postkolonie

Agatha K. Slupek: Castoriadis, Abolitionismus und das radikale Imaginäre heute

Ein Kommentar zu “Schwerpunkt: Cornelius Castoriadis zum 100. Geburtstag

  1. Auf Deutsch sind nicht nur die Gesellschaft als imaginäre Institution und der Sammelband von Ulrich Rödel bei Suhrkamp erschienen: Der kleine Verlag Edition AV hat die verdienstvolle Aufgabe übernommen, seit ca. 2008 nach und nach Ausgewählte Schriften von Cornelius Castoriadis herauszugeben. Bisher sind neun Bände erschienen, übersetzt von Michael Halfbrodt. http://www.verlag-av.de/index.htm

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