“Die Vorstellungskraft par excellence ist die Vorstellungskraft des musikalischen Komponisten. […] Plötzlich dringen Figuren nach Vorne, die nicht im Geringsten visuell sind. Sie sind im Wesentlichen auditiv und kinetisch – denn da ist auch der Rhythmus. […] Es ist ein Nach-Vorne-Dringen, […] das etwas von der Vergangenheit behält [und das] nichtsdestoweniger […] kreativ ist.”
Cornelius Castoriadis, World in Fragments, S. 182-3.
“Die Vorstellungskraft ist Exzess: Sie ist das, was das Gefängnis nie einsperren konnte, das was immer über das Gefängnis hinaus weisen wird.”
– Jackie Wang, Carceral Capitalism, S. 316.
Cornelius Castoriadis zeichnet sich innerhalb der radikal-demokratischen Tradition besonders dadurch aus, dass er die kreative Macht der Vorstellungskraft hervorgehoben hat. Anlässlich des 100. Jahrestages seiner Geburt richte ich meinen Blick auf sein Werk vor dem Hintergrund von zwei unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Phänomenen. Das erste besteht in der Omnipräsenz der digitalen Welt und digitalen Plattformen, die heute für demokratische Gesellschaften, demokratische Politik und mit ihnen für das, was Castoriadis das „gesellschaftlich-historisches Sein“ des radikalen Imaginären genannt hat (Castoriadis 1975, S. 369), formgebend sind. Das zweite Phänomen ist die andauernde Bewegung für eine radikale Transformation der Beziehung zwischen Bürger:innen und den Institutionen des Rechts, die in den Vereinigten Staaten besonders durch die Arbeit von Schwarzen Feministinnen und Verteidiger:innen des Abolitionismus, d. h. der Abschaffung von Gefängnis und Polizei, ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt worden ist. Was meines Erachtens beide Phänomene miteinander vermittelt, ist die Tatsache, dass Technologie eine Art von Demokratisierung politischer Bewegungen ermöglicht, die es wiederum radikalen Aktivist:innen, deren Stimmen bisher marginalisiert oder zum Verstummen gebracht worden waren, erlaubt hat, in den Mittelpunkt zeitgenössischer Bewegungen vorzudringen. Diese Demokratisierung hat jenen Stimmen, die den Mut zum Ausdruck bringen, radikal neue Formen der sozialen Organisation zu entwerfen, erlaubt, in der Öffentlichkeit Raum einzunehmen. So wie die Vorstellungskraft für Castoriadis einen zentralen Stellenwert einnahm, so trifft dies genauso auf das Projekt des Abolitionismus zu. Doch in der digitalen Welt, in der Bedeutungen auf neue Art und Weise reproduzierbar geworden sind, hat das visuelle Element eine besonders herausgehobene Bedeutung eingenommen: Dies gibt Anlass, zu fragen, wie eine Schöpfung ex nihilo, in Castoriadis’ Sinn, ‚aussehen‘ könnte, die in diesem Kontext in Erscheinung treten kann, ohne auf ihr bloß visuelles Element reduzierbar zu sein. Wie können zeitgenössische Abolitionist:innen „neue Figuren des Denkbaren“ (Castoriadis 2007) eröffnen? Oder anders gesagt, wie sieht das radikale Imaginäre heute aus?
Castoriadis in Fragmenten: Praxis und Vorstellungskraft
Castoriadis zu lesen, bedeutet, mit einem intellektuellen Projekt konfrontiert zu werden, dessen Einzelteile ein Gesamtmodell vorauszusetzen scheinen – auch wenn Castoriadis selbst bekanntlich die Bedeutung von Fragmenten und Singularität für Politik und Philosophie betont. Dennoch erscheinen mir zwei seiner Begriffe als hilfreich, um die Schöpfung des Neuen im digitalen Raum in den Praktiken zeitgenössischer Abolitionist:innen zu verstehen. Diese Begriffe sind einerseits die kreative Vorstellungskraft und andererseits die revolutionäre Praxis.
Castoriadis ist vielleicht am besten für seine Wiederentdeckung der Vorstellungskraft bekannt, die er zugleich als konstitutiv und sozial versteht. In seinen Schriften erscheinen die Begriffe der ‚Imagination‘ und des ‚Imaginären‘ zuweilen als fast deckungsgleich, während er an anderer Stelle eine Unterscheidung vornehmen will. Was beide gemeinsam haben, ist, dass sie für sein Verständnis der gesellschaftlich-sozialen Sphäre grundlegend sind. Das Gesellschaftlich-Historische (le social-historique) ist wiederum laut Castoriadis durch Unbestimmtheit (indétermination) charakterisiert. Die Anerkennung von Unbestimmtheit ist für Castoriadis das Herzstück des Projekts der Autonomie, welches nicht nur hervorhebt, dass Individuen die Gesellschaft selbst erzeugen, sondern sich zugleich auch der Kontingenz ihrer eigenen Schöpfung bewusst sind. Das Imaginäre, so erläutert er, ist nicht nur repräsentational, also nicht nur eine Darstellung von etwas, sondern die „unaufhörliche und essentiell unbestimmte (sozial-historische und psychische) Schöpfung von Figuren/Formen/Bildern, auf deren Grundlage allein überhaupt von ‚so etwas‘ wie einem revolutionären Projekt die Rede sein kann“ (Castoriadis 1975, 3). Die Vorstellungskraft ist nicht nur eine re-kombinatorische Fähigkeit, sondern eine schöpferische. Schöpfung, so Castoriadis, „heißt, vor allem, Diskontinuität, Entstehung des radikal Neuen und Stratifizierung dessen, was existiert.“ (Castoriadis 2007, 190). Castoriadis Betonung von Diskontinuität könnte uns dazu verleiten, die schöpferische Vorstellungskraft als Quelle einer neuen Art von Transzendenz zu interpretieren, doch bei einem genaueren Blick auf sein Verständnis der revolutionären Praxis erweist sich das Neue als immanent mit einer historisch situierten schöpferischen Aktivität verbunden.
Laut Castoriadis hat die Autonomie individuelle und gesellschaftliche Komponenten und sie ist am besten als eine soziale Beziehung zu verstehen. Autonomie nimmt ihren Anfang auf der individuellen Ebene, doch das Verlangen nach Autonomie kann niemals befriedigt werden, wenn es nicht vom Verlangen begleitet wird, dass alle anderen Mitglieder der Gesellschaft ebenfalls ihre Autonomie verwirklichen können (Castoriadis 1975, 180-184). Revolutionäre Praxis ist nun laut Castoriadis jener Modus des Schöpfens und Handelns, dessen Mittel und Zweck die Autonomie ist (Castoriadis 1975, 150). Das Ziel einer solchen Praxis ist das Neue und ihr Hauptanliegen ist die mögliche Transformation der Wirklichkeit im Sinne einer Abschaffung von Leid (Castoriadis 1975, 160). Eine revolutionäre Politik wäre laut Castoriadis eine Form von Praxis, die eine gesellschaftliche Transformation anstrebt, die die Gesellschaft auf der Grundlage der Autonomie ihrer Mitglieder organisieren würde (Castoriadis 1975, 152). Eine revolutionäre Haltung, so schreibt er, erkennt an, dass ein Individuum nicht frei sein kann, wenn andere nicht auch frei sind (Castoriadis 1975, 166-168). Revolutionäre Praxis im Castoriadis’schen Sinne hat daher viel mit den Grundüberzeugungen des zeitgenössischen Abolitionismus gemeinsam, dessen Zurückweisung des karzeralen Regimes ebenfalls auf dem Verlangen nach der Freiheit aller Menschen beruht.
Composing Abolition: “Sleepwalkers” (2021)
Zeitgenössische abolitionistische Praktiken können mit Castoriadis als Instanzen einer schöpferischen Vorstellungskraft und revolutionärer Praxis verstanden werden. Dies ist gerade deshalb der Fall, weil Abolitionist:innen die gemeinsame Arbeit und den Austausch zwischen Aktivist:innen, Akademiker:innen und Künstler:innen im Prozess der Schaffung einer anti-karzeralen Gesellschaft betonen. Die Kunst der Abolition ist schöpferisch in Castoriadis’ Sinn, weil sie „neue Normen setzt: Sie ist ein neuer Eidos“ (Castoriadis 1991, 97). Künstler:innen und Kunst-Kollektive zum Beispiel, die unter dem Banner des Visualizing Abolition Projekts zusammenkommen, lassen sich von der Vergangenheit inspirieren, aber auf eine Art und Weise, die der von Sammler:innen ähnelt – was heißen soll, dass ihr Zugang zur Vergangenheit autonom strukturiert ist: Sie wählen und beurteilen Fragmente, die sie in den Dienst von alternativen, anti-karzeralen Zukünften stellen. Solche Praktiken der Einbettung der Vergangenheit in eine schöpferische Aktivität verkörpert das Projekt der Autonomie, das Castoriadis im Sinn hat: Ihre Rechtfertigung liegt in nichts anderem begründet, als in der „aktiven und selbst-schöpferischen Partizipation und Kooperation“ der Abolitionist:innen in der „Instituierung des Neuen“ (Castoriadis 1991, 99). Ihre Kunstwerke sind bildend, in dem Sinne, dass sie im Kreis ihres (dank des digitalen Zugangs überaus vielfältigen) Publikums ein neues Verlangen nach Freiheit stiften; sie sind zugleich autonom, indem sie die Organisation der karzeralen Gesellschaft in Frage stellen und neue gesellschaftliche imaginäre Bedeutungen hervorbringen.
Abolitionistische Kunstwerke erscheinen mir ebenfalls als sehr bewusste Versuche, sich mit den Dilemmata der Reproduzierbarkeit in einem digitalen Zeitalter auseinanderzusetzen, in dem das visuelle Element dominiert. Hier beschäftigt mich vor allen Dingen die ‚Music for Abolition‘-Veranstaltungsreihe – ein Projekt, das während der Covid-Pandemie von Terri Lyne Carrington geleitet und kuratiert worden ist und das sowohl online als auch in einem physischen Museumsraum zu erleben war. In dieser Reihe war kreative Praxis nicht auf ein visuelles Element reduzierbar, sondern verband ein Geschichtenerzählen mit musikalischer Improvisation, Text und lyrischer Performance. In der Komposition Sleepwalkers, welche Teil der Reihe ist, weisen Kris Davis, Val Jeanty und Lily Finnegan über die Grenzen des historischen Zitats, der lyrischen Poesie, der Theorie und der Musik hinaus. Das Ergebnis ist ein Soundtrack für Abolition: Ein Soundtrack, der auditiv und kinetisch ist und der diejenigen, die ihn empfangen, dazu aufruft, eine neue Gesellschaft zu schaffen, im Licht eines Projekts von Autonomie und Abolition, demzufolge alle Mitglieder frei sein müssen, damit das Individuum frei sein kann. Sleepwalkers ist daher meines Erachtens eine Form, sich der Abolition kompositorisch zu nähern, die den Kerngedanken des autonomen Denkens und Handelns zum Ausdruck bringt. Laut Castoriadis besteht eine solche praktische Autonomie nämlich nicht „im Bauen von Kathedralen und dem Komponieren von Symphonien“, sondern vielmehr in der aktiven Schöpfung einer Symphonie im Geiste des Empfängers, der mithilfe seiner Ohren selbst einen schöpferischen Akt vollzieht (Castoriadis 1975, 2).
Es ist hier keinesfalls mein Anliegen, zu behaupten, dass die abolitionistische Praxis nicht ohne den Bezug auf Castoriadis zu verstehen wäre. Worum es mir geht, ist lediglich, zu beleuchten (einer von Castoriadis‘ Lieblingsbegriffen), worin die anhaltende Bedeutung seiner theoretischen Einsichten besteht, wenn wir seine Begriffe von Schöpfung und revolutionärer Praxis in einen Dialog setzen mit abolitionistischer Ästhetik und zwar insbesondere, wenn letztere sich in digitalen Formaten ereignet. Für mich liegt diese Bedeutung in einer konkret erlebbaren Neuformulierung der Beziehung zwischen sinnlicher Erfahrung und dem politischen Imaginären: Denn wer bei den ästhetischen Formen des Abolitionismus genau hinhört, dem können Symphonien des Neuen erklingen.
(aus dem Englischen übersetzt von Niklas Plätzer)
Agatha A. Slupek ist Doktorandin in politischer Theorie an der University of Chicago. Ihre Dissertation trägt den Titel Fury at the Limits of Law: Towards a Feminist Political Theory of Vengeance. Ihre Forschungsinteressen liegen in der zeitgenössischen feministischen und demokratischen Theorie und in der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Agatha hat einen MA an der University of Chicago absolviert (2017), wo ihre Master-Arbeit mit dem Joseph Cropsey-Preis für die beste Arbeit in politischer Philosophie ausgezeichnet worden ist; zuvor hat sie an der McGill University Philosophie und politische Theorie studiert (BA, 2015).
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