Die normativen Normen und die kritische Kritik – eine Polemik

Bedeutet wissenschaftlicher „Pluralismus“ nichts weiter als ein Nebeneinander unterschiedlicher Positionen? Die Politikwissenschaft hat meist darauf verwiesen, dass sich politische Gegner zwar anerkennen können, aber nichtsdestotrotz Gegner bleiben. Agree to disagree – das heißt ja immer noch: disagreeing. Vielleicht hilft es, diese einfache Erkenntnis ab und zu auch auf die eigene Disziplin anzuwenden. Denn in letzter Zeit, so scheint es, hat sich in der deutschsprachigen Politischen Theorie und Ideengeschichte in Sachen Disagreeing eine gewisse Müdigkeit eingeschlichen. Nicht, weil man sich sonderlich einig wäre, sondern weil man offenbar akzeptiert hat, dass grundverschiedene Leute eben grundverschiedene Dinge tun. Aber würde sich das Streiten dann nicht umso mehr lohnen?

Pazifistischer Pluralismus 

Auf dem Theoriekongress in Bremen, der hier aufgrund seiner außerordentlichen Größe als Fallbeispiel herangezogen wird, brachte Martin Nonhoff die streitmüde Einstellung treffend auf den Punkt, als er bescheiden zugab, die radikale Demokratietheorie, wie er sie verstehe (dazu unten mehr), sei vorrangig im kritischen Geschäft aktiv und nehme von „demokratischen Vollständigkeitsphantasien“ Abstand, wie etwa der Aufgabe, politische Institutionen oder normative Ideale zu begründen. Denn: Keine Demokratietheorie muss alle Fragen beantworten.

Das Problem ist nur: Auch sämtliche Irritationen, die die radikale Demokratietheorie in den letzten Jahren ausgelöst hatte, schienen damit abgeräumt, wie auch die anschließend eher stockende Diskussion im Plenum bewies – nicht, weil die Kritiker falsch gelegen hätten oder widerlegt worden wären, sondern einfach, weil sich das Objekt der Kritik gar nicht getroffen fühlte. 

Unter der Bedingung eines solchen pazifistischen Pluralismus scheinen selbst jüngere Debatten über die Sinnhaftigkeit bestimmter politischer Theorien zu verblassen, ohne dass die darin aufgeworfenen Probleme eigentlich gelöst wären: Angefangen mit Raymond Geuss‘ Kritik an der Politische Philosophie als „angewandte Ethik“, über den nun schon sieben Jahre alten, aber eigentlich immer noch treffenden Vorwurf, die „Politische Theorie in der Krise“ sei sprachlos geworden und habe, wie es Hubertus Buchstein jüngst formuliert hat und von den Nachbarfächern längst vorgetragen wurde, eine „notorisch anmutende Aversion gegenüber der empirischen Sozialwissenschaft“ entwickelt, bis zu selbst allerjüngsten Debatten um „Realität und Realismus in der Demokratietheorie“.  

Damit dieser Streit nicht weiter aus den Panels verschwindet und – quasi privatisiert – als bloße Aversion (oder noch schlimmer: als Gleichgültigkeit) in den Gesprächen nach den Vorträgen wiederkehrt, will dieser Beitrag an die Kritik der letzten Jahre anschließen und die Prämissen zweier, auch auf dem Theoriekongress prominenter Theorierichtungen, mit einer – hoffentlich – frischen Erläuterung der Streitgründe herausfordern. 

Das Sollen gegen das Sein 

Was etwa Geuss zum Vorschein bringen wollte und seitdem immer wieder problematisiert worden ist, war ein grundsätzliches Selbstmissverständnis der Disziplin, nämlich die Annahme, man könne „zuerst eine Theorie dessen entwickeln, wie wir idealerweise handeln sollen, und dann, in einem zweiten Schritt, diese Theorie auf die Handlungen politischer Akteure anwenden“. Zuallererst zielte dieser Vorwurf auf jene englischsprachige Politische Philosophie, die in Rawlsland um sich selber kreiste. Ihr warf Geuss vor, ihren eigentlichen Gegenstand zu verfehlen, wenn sie Politik, die ja überhaupt nur notwendig ist, weil die meisten Menschen oder zumindest ihre Kooperationsweisen nicht rational sind, von vornherein aus einer idealisch-normativen Brille betrachtet – und erst im Anschluss nach so etwas wie Anwendungsbedingungen fragt. 

Die Abwesenheit rawlsianischer Beiträge auf dem Theoriekongress könnte den Eindruck erwecken, als hätte sich dieser Vorwurf längst erledigt. Doch beim genaueren Zuhören konnte man bemerken, dass das freie Normativieren selbstverständlich ganz ohne Rawls wunderbar funktioniert: Ob es um das Herbeiwünschen ‚utopischer Vorgriffe geht, die eine „radikale Transformation“ herbeiführen, oder eine neue, frische Solidarität, die endlich inklusiv genug ist, eine noch neuere „Ethik der institutionellen Unsicherheit“ oder Möglichkeiten, die „Demokratie neu/kreativ zu denken“. Nicht selten endeten Vorträge damit, Forderungen aufzustellen, die, wie es eine ökologische Modemarke einmal formulierte, die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen sollen. 

Das neue Sollen geht, anders als das alte, nicht mehr mit einer umfangreichen Philosophie einher, die sie begründet und absichert, wie das beim egalitären Liberalismus noch der Fall war, sondern entsteht ganz unmittelbar aus der Analyse vorhandener Missverhältnisse, etwa Ausschlüsse bei staatsbürgerlichen Rechten oder Ungleichheiten im sozialen Raum. Doch die Probleme mit ihm sind die alten geblieben: Die Gegenüberstellung von Sollen und Sein, die dem Theoretiker das pointierte Auftreten gegen die politisch-gesellschaftlichen Realitäten erst erlaubt – so berechtigt es an sich ist –, besitzt, wie es Odo Marquard einmal formuliert hat, einen ihm „innewohnenden Zwang zur Etablierung eines wirklichkeitsunterbietenden Wirklichkeitsbegriffs“. Das soll heißen: Weil man der Wirklichkeit in erster Linie fordernd gegenübertritt, übersieht man, was sich in dieser Wirklichkeit eigentlich längst tut und regt, was der Realisierung des Normativen eigentlich genau im Wege steht, oder gar welcher Stand der Sollensrealisierung schon längst erreicht ist. 

Manchmal schießen die Forderungen deswegen so weit über ‚das Bestehende‘ hinaus, dass man sich ratlos fragt, wer denn der politische Akteur sein soll, der ein solches Programm verfolgt; wie sich so weitreichende Anliegen im vorhandenen politischen Raum, der von der „Verfolgung von (Partikular-) Interessen, strategische[m] Abwägen, Taktik, d[em] Organisieren von Mehrheiten“ geprägt ist, einfügen könnten. Das Sollen wird dann, wieder Marquard, zur „unendlichen Aufgabe und immer fernen Zukünftigkeit“. 

Manchmal, wie in Sofia Näsströms Keynote, bleibt das Sollen aber auch ganz einfach hinter dem Bestehenden zurück: Ihr vielversprechender Versuch, prominente Ansätze zu überwinden, die das Politische vom Sozialen trennen, steuerte im Schlussplädoyer nicht etwa auf den Auftrag zu, das gegenseitige Bedingungsverhältnis der beiden Sphären des menschlichen Lebens wieder in den Mittelpunkt einer theoretischen Analyse der Politik zu stellen, sondern, typisch sollensdenkerisch, auf die Forderung, es umzukrempeln. Wer die Demokratie retten wolle, der müsse „Ungewissheit teilen und gleich verteilen“.  

Man nickt. Man möchte zustimmen. Doch man fragt sich: Machen wir das nicht längst? Und zwar viel ausgefuchster als eine einfache Sollenstheorie das beschreiben kann: Familien teilen sich eine gemeinsame wirtschaftliche Zukunft, das Versicherungsgewerbe erwirtschaftet hierzulande über dreihundert Milliarden Euro pro Jahr, die Sozialversicherungen verteilen über eine Billion Euro um, es gibt Berufsversorgungswerke, Pensionskassen, staatliche Kompensationen und Härtefallregelungen, Flut- und Katastrophenhilfe usw. usf. Gut möglich, dass gewisse Risiken nicht demokratisch gleich verteilt sind – aber welche? Und was heißt hier „gleich“? Und müsste man dieses Ausmaß an realer Umverteilung nicht erst ernst nehmen und theoretisch durchdringen, bevor man ihm dann, sicherlich berechtigt, im Anschluss normativ gegenübertritt? 

Das Sollen ganz allein 

Als energische Kritikerin liberaler Formen der Sollensphilosophie tritt meist eine Spielart radikaler Demokratietheorie auf, die die Aufgabe, Normen und Institutionen zu begründen, gar nicht erst auf sich nehmen will und stattdessen politische Theorie als ständige Kritik des Bestehenden begreift. Dadurch sollen die „Grenzziehungen“ der Gegenwart infrage gestellt werden, um die „Offenheit und Kontingenz sozialer und politischer Verhältnisse … zu markieren“ (Comtesse et al. 2019, S. 15).  

Aber sind sich Kritiker und Kritikobjekt, Sollensphilosophie und radikale Demokratietheorie, wirklich so unähnlich? Hofft der normative Theoretiker auf die Realisierung seines Sollens, ist für den Radikaldemokraten das Misstrauen gegenüber dem Gegebenen so angewachsen, dass es in ein fundamentales Selbstmisstrauen umschlägt: le politique und la politique kommen niemals zur Deckung! Das außer- und gegeninstitutionelle muss das institutionalisierte politische Geschehen immer infrage stellen. Radikaler ist der Radikaldemokrat zwar darin, dass er auch das Normativieren kritisch befragt. Aber das gleiche Geschäft betreibt er dennoch, insofern auch er die Politische Theorie methodisch vor allem auf Gegnerschaft gegen das Vorhandende verpflichten will. 

Der Antirealismus der radikalen Demokratietheorie ist den unrealistischen Annahmen mancher Sollensphilosophie viel näher, als es die polemischen Abgrenzungen erscheinen lassen: An die Stelle eines Sollens, das auf seine – irgendwie zu bewerkstelligende – Verwirklichung wettet, tritt eine Kritik, die nun sogar ihre eigene Realisierbarkeit negiert. Man könnte dies als Kuriosität abtun, käme nicht hinzu, dass das Bedürfnis nach praktischer Wirksamkeit mit der Entfernung von der Realität eher zu-, denn abnimmt. Nicht nur einzelne Normen oder Institutionen möchte man hier realisiert sehen. Nein, Ziel ist es, „durch beharrliche Gegenwartsbefragungen Teil“ einer „widerständigen Praxis zu sein“ (Flügel-Martinsen 2021, S. 37), die beim „emanzipatorischen Kampf um eine Gestaltung der Zukunft“ kräftig mitkämpft (ebd. S. 13).

Auch in Bremen wurden dann allerdings nur die Occupy-Proteste genannt und vage auf anarchistische Bewegungen im Süden Europas verwiesen, um diesen Kampf in der Realität zu verankern. Wie erfolgversprechend diese Form ‚widerspenstiger Praxis‘ ist, zeigt jetzt eine Untersuchung von Vincent Bevins: ‚The Mass Protest Decade and the Missing Revolution‘. Demnach sind in den letzten fünfzehn Jahren diejenigen sozialen Bewegungen, die am ehesten den horizontalistischen Präferenzen vieler radikaler Demokratietheorien entsprachen (die also, so das magische Wort, ‚präfigurierten‘) gleichzeitig die unwirksamsten gewesen: Sie scheiterten, wo nicht an äußeren Umständen, entweder an fehlender Organisation und der damit einhergehenden Unfähigkeit zur Strategie, oder an der Kaperung durch fremde Interessen und politische Bewegungen. 

Statt weiterhin auf soziale Bewegungen zu verweisen, die die Kluft zwischen le und la politique real repräsentieren sollen, kann man inzwischen auch eine gewisse Flucht in das Selbstreferentielle feststellen. Als nun etabliertes Paradigma rückt offenbar die hyperkritische Selbstbefragung in den Mittelpunkt: Auf einem von Radikaldemokraten besetzten Panel wurde etwa vorgeschlagen, die beklemmenden Widersprüche zwischen radikaler Theorie und nicht ganz so radikaler Praxis dadurch zu bearbeiten, dass sich die Theoriebildung mit ihren eigenen Widersprüchen auseinandersetzt: Auch die Theorieproduktion sei durchzogen von Macht und auch die Theoretikerin sei den Problemen der Gegenwart ausgesetzt, sprich niemals von Widersprüchen frei.  

Wenn die kritische Kritik nur endlich selbstkritischer würde, so könnte man das Panel zusammenfassen, dann … – ja was wäre dann eigentlich? Wären die Probleme, die man der Gegenwart zum Vorwurf macht, ein Stückchen besser verstanden, oder einen einzigen Schritt der Lösung näher? Meist bleibt unklar, wie diese Form der Selbstbefragung nun eigentlich einen Beitrag zu jenem „emanzipatorischen Kampf“ leisten soll, dem sich diese Variante radikaler Demokratietheorie verschrieben hat. Verständlich wird die Flucht in die Selbstreferenz dagegen als Ergebnis der eigenen methodologischen Prämissen: Die Verpflichtung auf einen radikalen Antirealismus verleitet dazu, eher bei sich selber als irgendwo sonst nach einem geeigneten Analysegegenstand zu suchen. 

Aber ist es wirklich die vorrangige Aufgabe eines Teilfachs mit einer zweistelligen Zahl von Professuren Tendenz sinkend – sich selber zum politischen Analyseobjekt zu machen? Oder, wie das Sollensdenken, am laufenden Band normative Forderungen zu produzieren, die man (wer eigentlich?) der Welt abtrotzen möchte? Womöglich wäre es sinnvoll, das Sollen erst einmal links liegenzulassen und dem Umkreisen einer ‚Gemeinschaft, die sich nie verwirklicht‘ abzuschwören, um dafür, wie es jüngere Realismen in der Politischen Theorie und viele weitere, hier nicht thematisierte Theorieströmungen vormachen (neuere Beispiele etwa hier oder hier), dem Bestehenden und seiner Funktionslogik das volle Recht einzuräumen: Machtverhältnisse, Gesellschaftsstrukturen, strategisches Handeln, Interessenverfolgung, nicht zuletzt Ideologien erst einmal zu verstehen, bevor man sie ändern will. Jedenfalls sollte man den Streit darüber nicht aufgeben, ob eine im Hinblick auf die politische Wirklichkeit bescheidenere Theorie nicht an Hellsichtigkeit gewänne. 

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