Tagungsbericht: Marx oder die Sintflut

Tagungsbericht zur Tagung „The Futures of Marx“; Volksbühne Berlin, 28. – 29.06.2023.

Die Gründe sich heute wieder mit dem Denken von Karl Marx zu beschäftigen sind vielfältig: Entfremdung im Arbeitsalltag, wachsende Armut, nicht nur im globalen Süden, die zunehmende Bedrohung des planetaren Klimas durch die Folgen des fossilen Kapitalismus, etc. Dementsprechend ließe sich die Frage nach den „Futures of Marx“, die sich die Tagung an der Volksbühne Berlin stellte, auch umdrehen: Ist eine Zukunft ohne Marx überhaupt denkbar? Die Antwort der Tagung schien ein klares Nein: Denn mit Marx stellte sie die Frage nach dem Kapitalismus nicht nur als Frage nach der Ausbeutung des Menschen und der Natur (und der Natur des Menschen) sondern auch als Frage nach den Perspektiven für ein kollektives Handeln gegen denselben – und damit gegen die unweigerlich ins Haus stehende Sintflut. 

 

„Nach mir die Sintflut“ scheint in der Tat das Motto des heutigen fossilen Kapitalismus zu sein, der im Zentrum der Kritik dieser Tagung stand. Dies ist nun noch kein Alleinstellungsmerkmal, zumal Konzepte wie Green Capitalism, Green New Deal oder Degrowth Capitalism seit Jahren rege diskutiert werden. Gegenüber diesen Ansätzen, die vor allem nach technischen Perspektiven fragen, wie (und ob überhaupt) ein „grüner“ Kapitalismus möglich sei, zeichnete sich die Tagung an der Volksbühne durch einen radikaleren Ansatz aus: Der Naturbegriff, den die kapitalistische Produktionsweise produziert, wurde als solcher problematisiert. Das heißt, es wurde die These vertreten, dass es dem Kapitalismus gar nicht anders möglich ist als sich ausbeutend auf die Natur zu beziehen. Gleichzeitig wurde nach der Möglichkeit für kollektive Praktiken gegen diese Produktionsform gefragt.  

 

Der Begriff der Natur bei Marx 

Insbesondere die Frage nach der Stellung des Menschen als Teil der Natur und gleichzeitig als von ihr getrennt, kamen auf der Tagung wiederholt zur Sprache. Zu nennen ist hier zunächst der Vortrag von Alec Hinshelwood „Marx on rational animality“: Ausgehend von der aristotelischen Figur des Menschen als vernünftigem (bzw. vernunftbegabten) Tieres, rekonstruierte er Marx Überlegungen zum Nexus Mensch-Natur als produktiven Zusammenhang. Produktion (und damit auch Reproduktion) erscheint so nicht nur (wie im fossilen Kapitalismus) als ein Modus der Aneignung und des Raubes, sondern (insbesondere, wenn man den Menschen als Tier, als Teil der Natur begreift) als produktive Praxis: Denn, so sozial vermittelt sie auch sein mag, die physische Reproduktion des Menschen bleibt ein natürlicher Vorgang. Der Mensch ist ein rationales Tier. Konkret bedeutet das, dass er zwar einerseits selbst Teil der Natur ist, gleichzeitig aber, in seinen Praktiken von Produktion und Reproduktion, Bezug auf sie nehmen kann. Dieses doppelte Verhältnis ist die Grundlage um die Praktiken von Produktion und (Care-)Arbeit richtig zu verstehen – und dieses Verständnis ist zentral, um diese Praktiken kollektiv zu organisieren.   

In eine ähnliche Richtung ging Thomas Khurana in seinem Vortrag „The Resurrection of Nature“, in welchem er sich einem Begriff der werdenden Natur aus dem Begriff des Gattungswesen der Philosophisch Ökonomischen Manuskripte  von 1844 näherte. Der Begriff des Gattungswesens, so seine Argumentation, ist dabei ein Modus des In-Beziehung-Setzens unseres Seins in der Natur, das uns Zugang gibt zum Begriff der Gattung als solchem: Indem der Mensch sich selbst als Teil der Natur erkennt, stell er zugleich einen Bezug zu seinem Ort in der Natur her und der Form, wie er in der Natur ist. Mit Bezug auf Hegel definierte Khurana das Sein der Gattung hierfür (bzw. das Gattungswesen) als das bewusste Beziehen auf die eigene Gattung, auf den Prozess der Metamorphose des Lebens, welche zwar den Begriff, aber nicht das Bewusstsein der Gattung schafft. Der so entstehende  Begriff der werdenden Natur spielt für Marx eine entscheidende Rolle: Die Entfremdung, die die kapitalistische Gesellschaftsformation zeitigt, ist damit eine doppelte. Nicht nur von uns selbst als Gattungswesen, sondern auch von der Natur, die sich uns als unseren externen Körper, als rationales Tier, das in die Natur versenkt ist, gegenüberstellt,  spielt für Marx eine entscheidende Rolle: Die Entfremdung, die die kapitalistische Gesellschaftsformation zeitigt, ist damit eine doppelte. Nicht nur von uns selbst als Gattungswesen, sondern auch von der Natur, die sich uns als unseren externen Körper, als rationales Tier, das in die Natur versenkt ist, gegenüberstellt.  

Khurana argumentierte nun dafür, die Natur, d.h. hier die äußere Natur einerseits, die Natur des Menschen als Gattungswesen, als „zweite Natur“ andererseits, in diesem Kontext zu verstehen: Mit Marx, der über den Begriff der Entfremdung dem Begriff des Gattungswesen einen praktischen, historischen, sozialen Charakter gab, ist die Aufgabe der Aufhebung der kapitalistischen Entfremdung zugleich die Aufgabe der (praktischen) Bewusstwerdung dieses Gattungswesens. Im Kontext der Klimakrise und der fortschreitenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ist diese Bewusstwerdung zugleich Grundlage für den politischen Kampf gegen den Kapitalismus. 

 

Eine eurozentristische Kritik am Eurozentrismus 

Amy Allen widmete sich dagegen einem anderen Thema in ihrem Vortrag „Marx and the Problem of History“: dem Problem des Eurozentrismus im Marx’schen Denken. Ihr ging es dabei hauptsächlich um die Problematisierung eines bestimmten Fortschrittsdenkens, das für den Kolonialismus zentral war, das sie in Marx‘ Frühschriften (bis in die 1850er Jahre) am Werk sah: Ein Fortschrittsdenken, das im Universalismus der abendländischen Aufklärung sein Endziel sieht, und sich so das Recht gibt den „asiatischen Despotismus“ zu vernichten. Zentral für dieses Denken ist ein allgemeines universelles Menschheitsideal, das sich aber in letzter Instanz als weiß, männlich und besitzend entpuppt. Allen dagegen zeichnete sich kritisch gegenüber einer einfachen Konzeption von „universellem Fortschritt“, der sich auf der ganzen Welt unilinear (und das heißt de facto: nach westlichem Vorbild) vollziehen müsse.  

Gleichzeitig unterstellte sie Marx jedoch eben jenen Begriff von Universalismus (als universelle Herrschaft des Westens) unkritisch zu teilen. Hier vollzieht Allen aber einen m.E. unzulässigen Kurzschluss des Universalismusbegriffes der deutschen Aufklärung mit Marx‘ Begriff der Kapitalistischen Totalität. Im Gegensatz zu ersterem muss diese Totalität als radikal negativer Universalismus (der kapitalistischen Produktionsweise, die sich die ganze Welt Untertan – und sie damit (tendenziell) unterschiedslos – macht) gelesen werden. Die koloniale Herrschaft des Westens erscheint so nicht mehr als wünschenswerter Sieg der Rationalität, sondern als Faktum, gegen das der Kampf zu organisieren ist. Ihr Projekt den Fortschrittsbegriff durch den Marxismus zu problematisieren, verwechselt daher diese Kritik eines Universalismus im Denken mit dem realen Universalismus der globalen Ausbeutungsstrukturen (die sich nicht zuletzt im Klimawandel niederschlagen) und begnügt sich mit einer Kritik des ersteren. 

Deutlich wurde dies besonders in ihrer eklektischen Bezugnahme auf die Tradition des (anti-)kolonialen Marxismus: Einzelne Denker etwa des Black Marxism, die heute salonfähig geworden sind, zieht sie heran, andere (mitunter zentrale) Figuren wie etwa Mao Zedong will sie explizit ausschließen. Damit schreibt sie jedoch selbst eine der westlichen Akademie genehme Kritik des Eurozentrismus, ihr Blick auf die Tradition ist wieder der des westlichen Wissenschaftlers, der anhand der eigenen „Rationalität“ entscheidet, welche nicht westlichen Denker gnädig in den Kanon aufgenommen werden dürfen, und welche ausgeschlossen bleiben. Ihre Kritik des Eurozentrismus wiederholt die Geste, die zu kritisieren er angetreten ist, er soll nur ein neuer Eurozentrismus sein, einer der nicht nach Eurozentrismus riecht 

 

Klassenkampf als reale Bewegung zur Freiheit hin 

In dieser Hinsicht war Vanessa Wills Vortrag „Marx’s Ethical Vision“ radikaler: Sie beschäftigte sie sich mit der Frage des Widerspruchs zwischen Moralität und Determinismus, zwischen menschlicher Freiheit und dem gesetzlichen Charakter der Geschichte.Wills betonte dabei, dass der Widerspruch, den Marx aufmacht nicht der einfache Widerspruch zwischen Determinismus und Freiheit ist, sondern, für Marx, gerade die ökonomische Determination der kapitalistischen Gesellschaftsformation die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit des Arbeiters ist. Freiheit hier verstanden als die Bewegung der Selbstbefreiung der Arbeiter*Innen als Klasse. Die bürgerliche/kapitalistische Klasse steuert damit unweigerlich auf die eigene Zerstörung, die Zerstörung der Welt und der Arbeiter*Innenklasse zu, da sie sich auf diese lediglich als auf Mittel der Profitmaximierung beziehen kann. Sie zeigte so, wie es einerseits der Kapitalismus selbst ist, der uns jederzeit zu kollektiven Handlungen zwingt, wenn wir unsere imminente Vernichtung durch denselben abwenden wollen, wie in diesen kollektiven Handlungen aber zugleich unsere Spielräume für freies, selbstbestimmtes, solidarisches Handeln wachsen.  

Zentrales Thema der Tagung war also nicht nur die reine Frage danach, wie ein marxistischer Begriff der Natur zu denken sei, sondern wie sich dieser konkret als Kampfplatz zeigt: Einerseits ist es der kapitalistischen Produktionsweise eigen, sich nur ausbeuterisch auf die Natur beziehen zu können, andererseits formt sie auch den Menschen im Kapitalismus als einen von der Natur getrennten. Die Frage nach der möglichen produktiven Bezugnahme auf die Natur und unsere Selbstwahrnehmung als Teil der Natur, werden damit selbst zu Schauplatz des Klassenkampfes. Es ist die konkrete Drohung der Vernichtung der Welt durch den fossilen Kapitalismus, der diese Fragen zu konkreten Fragen macht: zu Fragen der kollektiven Organisation von Produktion und Reproduktion, zu Fragen der Umverteilung von Besitz und Reichtum, kurz: zu Fragen des Klassenkampfes. Sind die Zukünfte von Marx in diesem Szenario auch vielfältig, in einem dürften sich alle Teilnehmer der Tagung wohl einig gewesen sein: ohne Marx wird es wohl – in einem schrecklich wörtlichen Sinne – keine Zukunft mehr geben: Marx oder die Sintflut!   

 

Till Hahn promoviert an der Leuphana Universität Lüneburg über Marx Begriff der Form.    

 

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