Schon vor einiger Zeit haben Dirk Jörke und Christoph Held die Radikalität der Demokratietheorie Chantal Mouffes bezweifelt und ihr unterstellt, in die „Lefortsche Liberalismusfalle“ geraten zu sein, ja sich in dieser gar „verstrickt“ zu haben. Zu sehr stütze Mouffe sich seither auf liberale Autor*innen und habe sich damit einen „problematischen institutionellen Universalismus“ eingekauft, der in letzter Konsequenz gegen ihre Absicht zu einer Verstetigung gesellschaftlicher Machtungleichgewichte führen müsse. Insbesondere die Übernahme der Lefortschen Figur der „leeren Mitte der Macht“ habe sie übersehen lassen, dass sich liberale Institutionenarrangements mit Lefort nicht radikal verändern ließen, wo diesen der Ausschluss der Massen von der Politik eingeschrieben sei.
Radikale Demokratietheorie
Lefort-Schwerpunkt: Was sind demokratische Institutionen? Eine radikaldemokratische Antwort mit Claude Lefort
Wer von „demokratischen Institutionen“ spricht, scheint eine contradictio in adiecto zu begehen. Jedenfalls sind Antidemokrat:innen seit Platon dieser Auffassung: Während Institutionen Ordnung schaffen, steht Demokratie für Unordnung. Noch der (früh)moderne Republikanismus teilt diese Sichtweise: Montesquieu, James Madison oder Benjamin Constant warnen in ihren Plädoyers für die Mischverfassung vor der Institutionenfeindlichkeit des demokratischen Moments. Ausgehend von der platonischen Karikatur der Demokratie als Quasi-Anarchie, die permanent Gefahr läuft, sich selbst abzuschaffen, ist die Geschichte der demokratischen Idee auch eine Geschichte ihrer institutionellen Widerspenstigkeit. Während viele aktuelle Demokratietheorien versuchen, diese Spannung aufzulösen, plädiert der Jubilar Claude Lefort, dem dieser Schwerpunkt gewidmet ist, dafür, sie anzuerkennen und produktiv zu wenden. Die Friktion zwischen Demokratie und Institution erscheint in seinen Schriften nicht als Widerspruch oder als zu überwindendes Hindernis, sondern als eine produktive Aporie – eine Aporie, die nicht nur Kennzeichen einer radikaldemokratischen Perspektive ist, sondern, so unsere These, in jeder Theorie demokratischer Institutionen reflektiert werden muss. (mehr …)
Lefort-Schwerpunkt: Lefort und die Idee einer befragenden Kritik
Ist es Zeit, Schluss mit der Befragung zu machen?
Die Idee, Institutionenordnungen demokratischer Rechtsstaaten einer befragenden Kritik zu unterwerfen, könnte im gegenwärtigen politischen Kontext geradezu aus der Zeit gefallen wirken. Demokratische Rechtsstaatlichkeit kann in der heutigen Welt leicht als eine zarte Pflanze erscheinen, die des Schutzes und der Stärkung bedarf – aber nicht einer politischen Philosophie, die sich eine befragende und infragestellende Kritik zur Aufgabe macht. Wenn Lefort daher Merleau-Pontys Forderung aus Le visible et l’invisible (Paris 2006), Philosophie als Befragung zu verstehen, folgt, und sein Projekt einer Wiederherstellung der Politischen Philosophie deshalb ins Zeichen von Ungewissheit und Befragung stellt, dann scheint dieses Vorhaben selbst heute in Frage gestellt zu sein. Im Anschluss an Merleau-Pontys These, dass die Philosophie Frage bleibe und als solche die Welt befragt – „elle interroge le monde“ heißt es in Le visible et l’invisible(S. 134) –, ließe sich dann umgekehrt auch davon sprechen, dass die Welt die Philosophie mit Fragen konfrontiert. Als dringlichste Frage für die Politische Philosophie könnte dann die Frage danach erscheinen, wie sich eine demokratische Institutionenordnung schützen und befestigen lässt – nicht, wie sie in Frage gestellt werden kann.
Lefort-Schwerpunkt: Ein Blick jenseits des Rheins: Die französischsprachige Lefort Rezeption
In den vergangenen Jahren ist Claude Lefort im deutschsprachigen Raum vor allem als Radikaldemokrat in Erscheinung getreten, spätestens seit seiner Erwähnung als einer der zentralen Referenz-Autor:innen im Handbuch Radikale Demokratietheorie. Wenn man allerdings auf den französischsprachigen Raum blickt, zeichnet sich ein etwas anderes Bild: Es fällt vor allem auf, dass Lefort vielschichtiger gelesen wird. So wird beispielsweise seine eigenwillige Lese- und Denkmethode, die auch literarische Texte miteinschließt, herausgestrichen, seine Interpretationen demokratischer Ereignisse in Ländern der ehemaligen Sowjetunion beleuchtet sowie Verbindungen zur Psychoanalyse herausgestellt. Die radikaldemokratische Auslegung stellt dabei nur eine der zahlreichen Facetten seines Denkens dar.
Deswegen möchte dieser Beitrag zum einen dafür argumentieren, Lefort nicht nur als Radikaldemokraten zu verstehen, sondern, inspiriert von französischsprachigen Auseinandersetzungen, vielschichtiger zu lesen, beispielsweise als eigenwilligen Machiavelli- oder LaBoétie-Interpreten, oder literarisch versierten politisch-phänomenologischen Philosophen. Zum anderen ergäben sich aus dieser komplexeren Lesart neue Perspektiven für radikaldemokratische Auslegungen, beispielsweise in Bezug auf sein Demokratie- und Politikverständnis. Um diesen möglichen Horizont aufzuzeigen, soll nun im Folgenden, nach einem kurzen Blick auf den deutschsprachigen Raum, die breitere französischsprachige Rezeption schlaglichtartig beleuchtet werden.
Schwerpunkt: 100 Jahre Lefort
In diesem Jahr wäre Claude Lefort 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dessen wird es auf dem Theorieblog einen Schwerpunkt rund um sein Denken geben. Als Denker des Politischen ist Lefort, durch seine Auseinandersetzungen mit der Demokratie und dem Totalitarismus, mit seinem geflügelten Wort des “leeren Ortes der Macht”, seiner Kritik an politischen Wissenschaften, aber auch durch seine Machiavelli-Lesart sowie seinem frühen Engagement in der Revue “Socialisme ou Barbarie” bis heute in Erinnerung geblieben und Referenzpunkt aktueller Debatten in der politischen Theorie.
In dieser und der kommenden Woche werden sich fünf verschiedene Beiträge mit unterschiedlichen Aspekten seines Werkes beschäftigen: Ragna Verhoeven widmet sich in vergleichender Absicht der Rezeption Leforts im deutsch- und französisch-sprachigen Raum. Oliver Flügel-Martinsen erörtert die Rolle der befragenden Kritik im Werk Leforts. Welchen Stellenwert demokratische Institutionen im Denken Leforts einnehmen, arbeiten Sara Gebh und Sergej Seitz in ihrem Beitrag heraus. Anschließend zeigt Paula Diehl, dass sich mit den Ressourcen von Leforts Theorie das Verhältnis von Populismus und Totalitarismus erhellen lässt. Zum Abschluss behandelt Martin Oppelt in seinem Beitrag die Frage, inwiefern Lefort als ein liberaler Denker gelesen werden kann.
Wir freuen uns sehr auf die kommenden Wochen und wünschen viel Spaß beim Lesen und Diskutieren!
Eure Theorieblog-Redaktion
Book-Launch: „Szenen des Politischen“ (Bremen)
Am 5. Dezember findet an der Universität Bremen ab 18:30 der Book-Launch von „Szenen des Politischen“, dem neuen Buch von Christian Leonhardt, statt. Einer anarchistischen Intuition folgend sieht er sich Momente politischen Konflikts genauer an: soziale Bewegungen, Proteste, Widerstände ebenso wie unterschätzte Orte der Theorieproduktion, z.B. Theaterstücke, Romane und Kinderbücher. So entstehen „Szenen des Politischen“, die kritische Deutungen der demokratischen Aushandlung des Gemeinsamen ermöglichen. Nach und nach entwickeln sich daraus lokal-situative Theorien radikaldemokratischen Handelns.
Nach einführenden Beiträgen von Martin Nonhoff und Franziska Martinsen wird Christian Leonhardt aus dem Buch lesen. Anschließend geht es in die gemeinsame Diskussion mit Mareike Gebhardt und dem Publikum. Der Abend wird mit einem kleinen Umtrunk beschlossen.
Die Teilnahme ist ohne vorherige Anmeldung via Zoom unter http://t1p.de/01dvt oder vor Ort an der Universität Bremen, Gebäude GW2, Raum B2890 möglich. Für Rückfragen steht Carolin Zieringer unter zierinca@uni-bremen.de zur Verfügung. Mehr Infos gibt es im Flyer.
Tagungsbericht: Demokratie als Streitganzes
Viele der heutigen Zeitdiagnosen attestieren unserer Demokratie, dass sie sich in einem prekären Zustand befindet. Als die zwei zentralen Herausforderungen sind ein aufstrebender Populismus und postdemokratische Tendenzen zu nennen, die für angespannte Konfliktlinien entlang divergierender Lebensstile sowie einen schleichenden Prozess der Aushöhlung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten stehen. Steffen Herrmann, dessen Habilitationsschrift „Demokratischer Streit: Eine Phänomenologie des Politischen“ am Ende vergangenen Jahres in Gestalt eines Buchforums an der Universität Wien besprochen wurde, vertritt die These, dass durch eine sich gegenwärtig verschärfende gesellschaftliche Spaltung ein genuin politischer Streit um die gemeinsame Lebensgestaltung aus dem Fokus gerät. Mit seinem Buch will Herrmann die Bedeutung des politischen Streits als produktives demokratisches Element betonen. Der Tagungsbericht orientiert sich argumentativ am Hergang des Buchforums. So wird zunächst Herrmanns Konzept von Demokratie als „Streitganzem“ beschrieben, um sodann zu prüfen, inwiefern die Methode einer politischen Phänomenologie in besonderer Weise ermöglicht, jenes Konzept nicht nur zu analysieren, sondern auch praktisch zu erweitern. (mehr …)
Ein neues Unbehagen in der Demokratietheorie?
Dies ist der zweite Beitrag unserer kleinen Reihe rund um das große Thema „Herausforderungen der Demokratie(theorie)“, die wir in Kooperation mit dem Philosophieblog praefaktisch veröffentlichen. Den Auftakt machte ein Beitrag von Tine Stein über “Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart”, nächsten Donnerstag (14.12.) gibt André Brodocz Antworten auf die Frage „Müssen in einer Demokratie immer alle mit allen reden? Über die Herausforderungen des Populismus an Universitäten“.
In einem viel beachteten Aufsatz aus dem Leviathan diagnostizierten Hubertus Buchstein und Dirk Jörke (2003) vor ziemlich genau 20 Jahren ein massives „Unbehagen“ über die Entwicklung der zeitgenössischen Demokratietheorie. Damals sahen die beiden Politikwissenschaftler den (ebenso legitimen wie notwendigen) Kampf um den Demokratiebegriff als mittlerweile einseitig von einer semantischen Transformation dominiert, die die Idee der ,Volksherrschaft‘ von ihrer wörtlichen Bedeutung und somit „weitestgehend von [allen] partizipativen Momenten“ abgeschnitten hatte. Jene Entwicklung, bei der laut Buchstein und Jörke das „akademische Demokratietheoretisieren“ (ebd.: 471) den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Stichworte: Rationalisierung, globaler Markt, Komplexitätszuwachs, Pluralismus) nachgab oder auch bewusst in die Hände spielte, machten die Autoren u.a. an Theoretiker*innen wie Jürgen Habermas, John Rawls, David Held, Fritz W. Scharpf, Norberto Bobbio, Anne Phillips, Robert A. Dahl, Adam Przeworski, Cass Sunstein, Claus Offe, Arthur Benz oder Robert E. Goodin fest. Vom ,Ballast‘ der Partizipation befreit und allen sonstigen Differenzen zwischen deliberativen, liberalen, feministischen und sogar kritisch-republikanischen Ansätzen zum Trotz, sei die Demokratie von den genannten Vertreter*innen der Politischen Theorie seinerzeit an der Qualität ihrer Ergebnisse, sprich: an ihrem Output und nicht länger am Input ihres Zustandekommens gemessen worden. Ob sich die Bürger*innen an der Demokratie beteiligen sollen, habe dadurch nicht länger einen Selbstzweck der Volksherrschaft benannt, sondern sei allenfalls noch als Mittel zum Zweck, das heißt zur potenziellen Erhöhung der Rationalität, Effektivität oder Implementierbarkeit politischer Entscheidungen in die jeweiligen theoretischen Überlegungen eingeflossen. Über die traditionelle liberale Elitentheorie etwa von Giovanni Sartori hinaus, welche die Demokratie einst im Namen der Rationalität zu begrenzen trachtete, seien die modernen Demokratietheorien um die Jahrtausendwende angetreten, um „die Rationalität der Politik zum eigentlichen und tieferen Sinn des Demokratiebegriffs“ zu deklarieren (ebd.: 475).
Die normativen Normen und die kritische Kritik – eine Polemik
Bedeutet wissenschaftlicher „Pluralismus“ nichts weiter als ein Nebeneinander unterschiedlicher Positionen? Die Politikwissenschaft hat meist darauf verwiesen, dass sich politische Gegner zwar anerkennen können, aber nichtsdestotrotz Gegner bleiben. Agree to disagree – das heißt ja immer noch: disagreeing. Vielleicht hilft es, diese einfache Erkenntnis ab und zu auch auf die eigene Disziplin anzuwenden. Denn in letzter Zeit, so scheint es, hat sich in der deutschsprachigen Politischen Theorie und Ideengeschichte in Sachen Disagreeing eine gewisse Müdigkeit eingeschlichen. Nicht, weil man sich sonderlich einig wäre, sondern weil man offenbar akzeptiert hat, dass grundverschiedene Leute eben grundverschiedene Dinge tun. Aber würde sich das Streiten dann nicht umso mehr lohnen?
CfP: Futures Past. Feminism and the Radical Democratic Imaginary (Wien)
Am 6. und 7. Juli 2023 findet an der Universität Wien ein von Sara Gebh und Sergej Seitz organisierter internationaler Essay-Workshop zum Thema „Futures Past. Feminism and the Radical Democratic Imaginary“ statt, der im Rahmen des PREDEF Projekts gemeinsam von Linda Zerilli und Oliver Marchart ausgerichtet wird. Noch bis zum 21. April können Abstracts (max. 300 Wörter) eingereicht werden. Mehr Informationen zum Thema und Format des Workshops findet ihr hier im CfP.
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