Staat als „archimedischer Punkt“

Lesenotiz zu Hermann Heller: Kleine politische Schriften hg. v. Hubertus Buchstein und Dirk Jörke, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2023. 

Die gegenwärtige politische Lage gleicht nicht jener von Weimar. Zu viel ist ökonomisch, sozial, technisch und politisch heute anders. Dennoch gibt es gute Gründe, sich in der gegenwärtigen veritablen Krise der Demokratie den einstigen Kämpfern für die Weimarer Demokratie mit einem Abstand von nahezu 100 Jahren zuzuwenden – und zwar gerade solchen politischen Denkern, die sich wie Hermann Heller ins politische Schlachtgetümmel gestürzt haben, statt in geschützten, aber sehr moralisierten Räumen von Akademia zu verweilen. 

Hermann Heller, 1891 geboren, ist ein Staatsrechtslehrer und Ideenhistoriker, der 1933 in Madrid an einem Herzinfarkt starb. Die Konturen seines Werkes traten erst posthum richtig hervor: seine große unvollendete Staatslehre erschien 1934. Nach der Finsternis der totalitären deutschen Diktatur widmete der Soziologe Wolfgang Schluchter (1968) als erster Heller eine Monographie, dann wurde das Interesse an ihm sukzessive verstetigt. Bereits 1971 erschien eine von Christoph Müller edierte gediegene dreibändige Werkausgabe, die 1992 eine zweite Auflage erfuhr. Heller sickerte nun nicht nur in die Überblicksdarstellungen zu Weimar ein, sondern wurde in politikwissenschaftlichen Monographien u. a. durch Eun-Jeung Lee (1994), Michael Henkel (2011) analysiert. In jüngerer Zeit ist das Interesse von Seiten des Öffentlichen Rechts (Kathrin Groh 2010) und der Politikwissenschaft (Verena Frick/Oliver W. Lembcke 2022) erneut erwacht.  

Brauchen wir nach all diesen Publikationen eine Ausgabe von Hellers kleinen politischen Schriften? Wenn man den von Hubertus Buchstein und Dirk Jörke herausgegeben Band (180 Seiten, Taschenbuchformat) liest, kann man das aus mehreren Gründen vorbehaltlos bejahen. Heller überzeugt in den zehn ausgewählten Texten, die zwischen 1924 und 1933 entstanden, mit seinem kämpferischen Einsatz und der theoriegeleiteten Zuwendung zu tagespolitischen Fragen wie der sozialen Fundierung von Rechtsstaatlichkeit. Er identifiziert, was nur im Rückblick leicht erscheint, zentrale Probleme für seine Interventionen, namentlich Grundrechte, Fragen von Demokratie und Diktatur sowie autoritärem Liberalismus. Insbesondere ist er in systematischer Hinsicht überaus anregend, weil er sich frühzeitig als Gegner von Carl Schmitt positionierte: Nicht nur trat Heller vor dem Leipziger Staatsgerichtshof beim sog. Preußenschlag für die sozialdemokratische Fraktion an, während Carl Schmitt für das Reich sprach und die rechtswidrige Absetzung des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun verteidigte. Er leitete zudem das Politische von der Stadt (polis) und nicht vom Krieg/Bürgerkrieg (polemos) her und Souveränität nicht von der Ausnahme, sondern dem Normalfall der Verfassung und deren Bewährung in hunderten von alltäglich kleineren und größeren Entscheidungen her. All dies zeigt bleibende theoretische Relevanz seiner in das politische Feld zielenden Interventionen. 

Im Zentrum steht bei Heller die Staatslehre im Sinne einer Gestaltung der „Massendemokratie“. Auch wenn wir heute im Zeitalter von Mehrebenenpolitik, zerfransender Staatlichkeit und Populismen vieles anders begreifen, sind die Effektivität staatlichen Handelns und die Bewahrung entsprechender Voraussetzungen dafür nach wie vor drängende Probleme. Heller fragt theoriegeschichtlich, woher das Staatsunverständnis bei Marx kommt, und führt es auf einen problematischen Gesellschaftsbegriff zurück, der den Staat nicht als „ordnende und geordnete Gebietsgesellschaft begreift“ und daher diesen „archimedischen Punkt“ verfehlt (S. 26, 31). Damit markiert er wie seinerzeit Hans Kelsen (Sozialismus und Staat, 1920) die fehlende Theorie der Politik bei Marx, an der dessen Follower bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts, also bis zum Postmarxismus herumgedoktert haben. Erst dann wurde das Ansinnen, dieses Defizit irgendwie doch noch vermittels Marxscher Gedanken beseitigen zu können, zu Gunsten eigenständiger Ansätze aufgegeben. 

Heller bleibt anregend, weil er keine gereinigt-durchgefeilte Konzeption vertrat, sondern seine Gedanken im Getümmel entwickelte und dabei Motive mischte, die inzwischen divergierenden Theoriecamps zugeordnet werden. So setzt er sich bei allem sozialem Engagement dezidiert für Eliten und Führungsgestalten (bei ihm oft individuell unter dem Titel Genie gefasst) ein, die jenseits von Funktionärstum liegen. Dies ist kein taktisches Manöver, sondern vielmehr Ausdruck von komplexem Denken und notwendiger Umorientierungen angesichts sich verändernder Bedingungen politischer, sozialer und ökonomischer Strukturen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Heller warnt auf der Grundlage seines Studiums des italienischen Faschismus (Europa und der Fascismus 1929, 1931 2. Aufl.) bis zur letzten Minute in Deutschland vor einer antidemokratisch-diktatorischen Wende.  

Zurecht betonen die Herausgeber, dass Heller nicht unmittelbar aktuell ist, stellen einige heute missverständliche Begriffe (soziale Homogenität und autoritärer Liberalismus) in den richtigen Kontext und erläutern sein Verständnis von sozialem Staat und Nation, das sich gegen naiven Kosmopolitismus wendet. Es gibt aber noch einen weiteren Grund dafür, aus den dicken Bänden der Gesamtausgabe einen portablen Heller herauszulösen: Die dezidierte Rechte sucht sich Hellers zu bemächtigen. Die 2019er Neuausgabe von „Sozialismus und Nation“ [1925] im Jungeuropa Verlag zeigt diese Ambition überdeutlich. Dort formuliert der Neurechte Vordenker Thor von Waldstein: „Die Gretchenfrage der kommenden Jahre lautet: Ist die oppositionelle Rechte in Hellerschem Geist fähig und willens, zum Zwecke der Zuspitzung der eigenen Programmatik an das verratene Erbe des nicht-internationalistischen deutschen Sozialismus vor 1933 anzuknüpfen?“ Es ist daher geradezu geboten, in einer Zeit, in welcher der Kampf um kulturelle Hegemonie forciert wird, ideengeschichtlich auf- (für jene die Heller nicht kennen) bzw. nachzurüsten (für diejenigen, deren Kenntnisnahme länger zurückliegt). Dafür bietet der Band übrigens neben den erwähnten einschlägigen Heller-Texten einen neuen Fund, den Marcus Llanque unlängst ausgegraben hat:  Hellers „Der Beamte im sozialen Volksstaat“, der 1930 in der Allgemeinen Deutschen Beamtenzeitung erschien. Auch dies zeigt das Gespür von Heller, der ahnte, dass der Beamtenschaft für den Erhalt der Weimarer Republik eine Schlüsselrolle zufallen würde, deren zunehmende soziale Unsicherheit aber bekanntlich zu erheblichen Instabilitätseffekten führte. 

Wie ansteckend der kämpferische Enthusiasmus des „Linksetatisten“ Heller – so eine schöne Wendung der Herausgeber – ist, kann man den Schlusspassagen des Nachwortes entnehmen, die eine weitreichende politische Agenda andeuten, nach der Heller und das Denken im Anschluss an ihn heute auf der Seite der dezidiert politischen Linken und kaum mehr bei der heutigen Sozialdemokratie zu verorten sei. 


Harald Bluhm lebt in Berlin und ist Seniorprofessor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
 

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