Kongresssplitter: Theorie komm raus, Du bist umzingelt! Widersprüchliche Praxis als Theorieprogramm

— Panel 4.E:  Zur Methode der Widerspruchsoffenheit —

Das komplett von Bremer Forscher*innen besetzte Panel „Zur Methode der Widerspruchsoffenheit“ macht den Widerspruch zum Programm des Theoretisierens. Die Funktion des Widerspruchs für die Theoriebildung variiert dabei mit dem Verständnis des damit angesprochenen Theorie-Praxis-Verhältnisses. Während die radikaldemokratischen Überlegungen von Martin Nonhoff und Christian Leonhardt vor der widersprüchlichen Praxis – theoretisch in gewisser Hinsicht konsequent – kapitulieren, suchen Carolin Zieringer und Samia Mohammed in umgekehrter Stoßrichtung nach Wegen, der kritischen Theorie als Praxis durch eine widerspruchsoffene Theorieproduktion neue Impulse zu verleihen.

Auf Grundlage einer ‚Praxistheorie der Demokratie‘, die den Erhalt und Ausbau von Demokratie als Aufgabe alltäglicher herrschaftskritischer Praxis versteht, will sich Nonhoff von ‚demokratischen Vollständigkeitsphantasien‘ verabschieden. Keine Demokratietheorie müsse alle Probleme lösen, Institutionentheorie ist in diesem Sinne die Sache der Radikaldemokratie nicht. So konsequent das angesichts der angenommenen Grundlosigkeit ist, kommt es doch einer Kapitulation vor der ‚immer schon da-seienden institutionellen Ordnung‘ gleich. Den Rückzug tritt auch Leonhardt an, wenn er lokal situative Bearbeitungsstrategien von Widersprüchen zum Ausgangspunkt nimmt. Mit einer ‚Poetik der Theorie‘ schlägt er davon ausgehend vor, Theorien als Erzählungen zu verstehen und aktivistische Theorieproduktion in die Theoriebildung einzubeziehen, was darauf hinausläuft, Widersprüche der Praxis in die Theorie zu verlängern. Die von beiden in unterschiedlicher Weise betriebene Kapitulation der Theorie vor der Praxis mag theorieimmanent schlüssig sein, doch taugt sie auch für die radikaldemokratische Praxis?

Vom anderen Ende her, vonseiten der Theorie, genau genommen der kritischen Theorie und der in ihr nicht überwundenen, sondern als zu überwindend gedachten Hierarchie zwischen Theorie und Praxis, nähern sich Carolin Zieringer und Samia Mohammed dem Verhältnis von Theorie und Widerspruch. Indem sie die in eine kritische Theorie als Praxis zu integrierenden Widersprüche ausdifferenzieren, geben sie zugleich den Anspruch auf, den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zu überwinden. Die kritische Theoriebildung muss sich demnach insbesondere der durch die eigene Positionierung entstehenden Widersprüche praktischer Theoriebildung gewahr sein. So bleibt auch die als Sorgearbeit verstandene Theorieproduktion als Praxis des Widerspruchs durchzogen von Macht (Zieringer) und ist das Konzept der Freiheit, analog der Rolle der Theoretikerin, der Verunreinigung auszusetzen, sprich als in sich gebrochen und niemals widerspruchsfrei zu verstehen (Mohammed). In der Ausdifferenzierung des ohnehin komplexen Theorie-Praxis-Verhältnisses der kritischen Theorie erfährt auch hier die widersprüchliche Praxis (der Theoriebildung) eine Aufwertung gegenüber dem Gestaltungsanspruch der Theorie.

Egal wie, das Verständnis politischer Theorie im Verhältnis zu einer als Widersprechen oder Widerspruch dechiffrierten Praxis bleibt ihrerseits widersprüchlich. So stellt sich nicht zuletzt die Frage, inwieweit eine Theorie, die Widersprechen perpetuieren oder Widersprüche inkorporieren möchte, noch Theorie bleibt. Ist Theorie doch auch und gerade in Gestalt der Radikaldemokratie und der kritischen Theorie als Ausdruck menschlichen Welterschließens zu verstehen, das notwendig vereinfacht und festschreibt, indem es darauf zielt, Widersprüche zu erklären und Ungewissheit zu minimieren. Aber eben nie ein für alle Mal, weil einer Theorie, die als menschengedacht verstanden wird, zu widersprechen immer möglich ist. In diesem emanzipativen Impetus liegt die Stärke einer solchen im eigentlichen Sinne politischen Theorie, der verloren zu gehen droht, wo sie den Anspruch aufgibt, Welt zu gestalten.

Frauke Höntzsch ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie der Universität Augsburg, sie lehrt und forscht u. a. zu den Themen politikwissenschaftliche Anthropologie, demokratischer Liberalismus und ziviler Widerstand.

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