Kongresssplitter: Über die Möglichkeitsbedingungen von Solidarität im Kontext von Alterität

— Panel 6E: Krisen der Solidarität. Radikaldemokratische Perspektiven —

Das von Michaela Bstieler und Sergej Seitz ausgerichtete Panel „Krisen der Solidarität. Radikaldemokratische Perspektiven“ verortete sich im Zusammenhang von Solidaritätsbeschwörungen im Kontext gegenwärtiger Krisen und Unsicherheitserfahrungen wie Klimawandel oder Flucht. Gleichzeitig bestand der Beitrag des Panels vor allem darin, das Spannungsfeld zwischen Alterität und Ähnlichkeit, zwischen Situiertheit und Universalismus, in dem Solidarität verhandelt wird, zu beleuchten. Dieser zweiten Dimension der Diskussion werde ich im Folgenden weiter nachgehen und die einzelnen Beträge stärker unter diesen Gesichtspunkten miteinander kommunizieren lassen, wofür ich die Reihenfolge der Beiträge umstelle. 

Thomas Telios setzte sich in seinem Beitrag „Solidarität als Überdetermination: Eine Dependenzerklärung“ zum Ziel, einen Begriff von Solidarität anzubieten, der sowohl intentionale als auch moralische Verständnisse von Solidarität überwindet und somit nicht mehr geteilter Interessen oder Identitäten als Grundlage bedarf. Bezugnehmend auf Jean-Luc Nancy entwarf er einen Begriff von Solidarität als notwendig kollektive Handlungsmöglichkeit. Sich von solipsistischen Vorstellungen verabschiedend, versteht er das Subjekt als pluralistisch und kollektiv hervorgebracht, wobei das Andere schon immer im Selbst und das Selbst im Anderen inkorporiert seien. Normativ verstanden resultiert dies in einer Solidarität, die inklusiv verstanden werden muss, die das Andere nicht wegen geteilter Ziele oder Identitäten mit einbezieht, sondern wegen ebendieser pluralen, relationalen Subjektkonstitution, die die Abhängigkeit vom Anderen anerkennt. Wie aber kann solch ein Verständnis von Solidarität politisch existierende Machtasymmetrien erfassen? 

Diesen blinden Fleck versuchen Michaela Bstieler und Sergej Seitz in ihrem Beitrag „Transformationen der Solidarität: Von der Identität zur Alterität“ zu beleuchten. Auch sie kritisieren die Bindung von Solidarität an eine gemeinsame Identität oder abstrakte, universalistische Grundannahmen. Stattdessen fordern sie eine „groundless solidarity“, die als prekäre politische Aufgabe verstanden wird und die Situiertheit der Beteiligten reflektiert. Zunächst greifen die Vortragenden auf Bruno Latour zurück, der aufgrund des Zwangscharakters der klimatischen Notlage einen konsequenten Materialismus fordert und Solidarität daher in einer Anerkennung unserer Interdependenz begründet. Sie attestieren Latours Vorstellung jedoch einen Mangel an affektiver Bindungskraft, weshalb sie auf Sara Ahmeds Idee einer affektiven Solidarität zurückgreifen, die auf „acts of translation“, also konkrete Vermittlungspraktiken zur Herstellung von Solidarität setzt. Mit ihrem Fokus auf Situiertheit gelingt es den Vortragenden, Machtasymmetrien bei der Herstellung von Solidarität grundsätzlich mitzudenken, sie erkennen aber auch Schwierigkeiten für marginalisierte Andere an, ihren Ausschluss zu überwinden. Denn was ist, wenn sich hegemoniale Subjekte den Vermittlungspraktiken verweigern, welche eigentlich dazu dienen sollten, marginalisierte Positionen mit einzubeziehen? 

Auf die Frage nach der Möglichkeit von Solidarisierung in von Machtasymmetrien geprägten Kontexten bezog sich wiederum stärker Mareike Gebhardts Beitrag „Un-mögliche Solidarität. Zivile Seenotrettung als Praxis der kommenden Demokratie?“. Für sie stellen Solidaritätsbekundungen mit bei der Überfahrt über das Mittelmeer getöteten Geflüchteten eine Verkündung des „Un-möglichen“ nach Derrida dar. Solidarität sei das „Un-mögliche“, das als unwahrscheinlich oder unangemessen geltende, das nicht sein dürfte, aber trotzdem ist, ein Gespenst, das in der Gesellschaft hause und diese immer wieder heimsuche. Sie kontrastiert Konstellationen bzw. Ein- und Ausschließungen der Solidarität: auf der einen Seite die zivile Seenotrettung, welche als radikaldemokratische Praxis zu verstehen sei, aber gleichzeitig ein Spannungsfeld zu neokolonialen Reproduktionen von White Saviorism eröffne; auf der anderen Seite eine hermetisch verstandene Solidarität, wie sie beispielsweise von der Identitären Bewegung vertreten werde und sich auf eine ausschließlich weiße Solidarität verenge. 

Alles in allem vereinte das vorliegende Panel somit auf hoch spannende Weise Beiträge, die die gegenwärtigen Forderungen nach Solidarität, ihre Herstellung und ihre (Un-)Möglichkeit kritisch im Spannungsfeld zwischen Alterität und Ähnlichkeit bzw. Identität sowie zwischen einer Situiertheit und universalistischem Anspruch verorten und lieferte damit einen Beitrag dazu, Solidarität losgelöst von Identitäten zu betrachten und dabei Machtbeziehungen zu reflektieren. 

Katja Reuter arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erfurt und geht in ihrer Promotion der Frage nach, wie Öffentlichkeit in radikaler Demokratietheorie gedacht werden kann und wie sich die Digitalisierung darauf auswirkt. 

Ein Kommentar zu “Kongresssplitter: Über die Möglichkeitsbedingungen von Solidarität im Kontext von Alterität

  1. Ganz ehrlich. Ich schätze Theorieblog, ich bin/war Soziologin, aber diese Sprache, diese Piruetten ins White savorism, diesen Kauderwelsch versteht keiner derer, die auf Solidarität besonders angewiesen sind. Deshalb sind die Sozialwissenschaften, insbesondere die Soziologie, gänzlich unerheblich bei der Frage, warum die Demokratie, das Bewusstsein, dass alle verletzlich sind und deshalb solidarisch.Seenotrettung ist chic, AFD in Sonnenberg ist kein Thema. Die Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit =Ideologie (Marx) hat die Wissenschaft völlig verzerrt. So eine Sozialwissenschaft braucht keiner. Mit freundlichen Grüßen Renegade

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