In seinem inspirierenden Beitrag „Postkolonialität und die Methodologie normativer politischer Theorie“ denkt Floris Biskamp ausgehend von meinem Aufsatz „Zur Kolonialität der liberalen Demokratie“ darüber nach, welche methodologischen Implikationen sich aus der dort präsentierten Zusammenstellung unterschiedlicher postkolonialer Theorieperspektiven auf Demokratie ergeben – und zwar für die normative politische Theorie. Biskamp kommt zu einem zweigliedrigen Programm: zum einen „postkoloniale Ideologiekritik“, eine ideologiekritische Reflexion der Praxisimplikationen politiktheoretisch als legitim ausgewiesener Normen; zum anderen „plurale theoretische Diskurse“ über die gegebene Vielfalt normativer, hier v.a. demokratischer Ordnungen. Die postkoloniale Ideologiekritik ist inspiriert vom Verweis auf zwei Aspekte der Kolonialität, d.h. eingeschriebener kolonialer Machtstrukturen der liberalen Demokratie. Dabei handelt es sich zum einen um strukturellen Rassismus (in meinem Aufsatz argumentiert unter Rekurs auf Arbeiten von Achille Mbembe) und zum anderen um die Stützung von Freihandelsimperialismus (argumentiert mit Bezug auf Texte von James Tully). Ich komme weiter unten auf beide Aspekte zurück. Die vorgeschlagene Strategie der diskursiven Pluralisierung reagiert zum einen auf Iris Marion Youngs Arbeit über die beschwiegenen indigenen Einflüsse auf das US-amerikanische Föderalismusverständnis und zum anderen auf eine politikethnologische Studie von Jean und John Comaroff über die mangelnde Passförmigkeit des Mehrparteiensystems im unabhängigen Botswana. Mangelnde Passförmigkeit verweist hier darauf, dass dieses System nicht gut zur demokratischen politischen Kultur im Land passte, da sich diese im Zusammenhang eines deutlich anders funktionierenden politischen Systems etabliert hatte. In beiden Fällen, beim US-amerikanischen Föderalismus wie auch bei der real existierenden Mehrparteiendemokratie in Botswana, hat man es in gewissem Sinne mit hybriden Demokratieformen zu tun: in den USA verschmolzen indigene und europäische Ideen zu einem Modell (bezeichnenderweise einem Modell, das die indigenen Einflüsse negierte und die indigene Bevölkerung in der Umsetzungspraxis weitgehend ausschloss), in Botswana funktionierte ein europäisches Modell aufgrund lokaler Kontextbedingungen anders als erwartet.
Bis auf fünf Punkte – zwei kleine und drei etwas grundlegendere –, die im Folgenden textchronologisch genannt seien, folge ich Biskamps instruktiven Ausführungen gerne. Danach allerdings werde ich die Frage aufwerfen, wie sinnvoll es ist, die methodologischen Potentiale des Dargestellten auf die normative Demokratietheorie (als den in diesem Zusammenhang relevanten Teilbereich der von Biskamp ins Spiel gebrachten normativen politische Theorie) zu beschränken. Aber zunächst zu den besagten fünf Punkten.
Erstens: Ich würde nicht notwendig so weit gehen, zu behaupten, dass Aktivitäten westlicher Demokratieförderung „mit einem ‚low-intensity‘-Konzept von liberaler Demokratie arbeiten“, wie Biskamp unterstellt. Aber sie fördern ein Modell der Demokratie, dessen Umsetzung unter den gegebenen globalen Bedingungen in der Praxis oft zu Demokratie schwacher Intensität führt.
Zweitens: Ich weiß nicht, ob man mit Blick auf die Kritik am repräsentativen Wahlsystem, die die Comaroffs aus dem botswanischen Fall extrahieren, soweit gehen muss, der elektoralen Demokratie „partizipative und deliberative Substanzlosigkeit“ zu unterstellen. „Relative Substanzarmut“ reicht vermutlich – ich komme weiter unten darauf zurück.
Drittens, und das ist schon etwas grundsätzlicher: Bei der in meinem Text unter Rekurs auf Arbeiten von Achille Mbembe vorgebrachten Kritik am strukturellen Rassismus als Relikt des Kolonialrassismus geht es nicht in erster Linie darum, De-Realisierungsprobleme theoretisch sinnvoll legitimierter (und von der hier dann tätig werdenden Ideologiekritiker:in im besten Fall geteilter) Normen zu analysieren. Denn zwar war die kolonialrassistische Praxis normativ legitimiert. Die Rassentheorien, die zu diesem Zweck zum Einsatz kamen, fanden beim Praktisch-Werden allerdings ihre Realisierung, und grade keine De-Realisierung. Der Kolonialrassismus war kein nicht-intendierter Praxiseffekt theoretisch guter, verallgemeinerbarer oder zumindest Freiheit und Gleichheit versprechender Normen, sondern die direkte Umsetzung schlechter, auf Ungleichheit und Unfreiheit zielender Normen. Ähnliches kann man, so denke ich, über die Etablierung des Freihandelsimperialismus sagen, die Tully beschreibt. Zumindest in abgeschwächter Form: denn hier geht es nicht um den praktischen Einsatz eines explizit hierarchisierenden Differenzierungsprinzips wie der Rassentheorie, sondern um Ungleichheitseffekte der globalen Umsetzung formal einheitlicher Prinzipien vor dem Hintergrund einer klar asymmetrischen Ausgangskonstellation. Tullys Thema ist die Etablierung eines internationalen Staaten- und Rechtssystems, das (westlichen) Partikularinteressen dient. Aus westlicher Sicht mögen die Normen, die dabei instruktiv waren, legitimiert gewesen sein – aber das sagt ja noch lange nichts darüber, wie legitim sie sind, und wie es um ihre etwaige Legitimierung in anderen, ebenfalls betroffenen Weltregionen stand – und zwar just in jenen, die nach abgeschlossener Realisierung am unteren Ende der neuen globalen Hierarchie landeten.
Dies alles heißt nicht, dass eine postkoloniale Ideologiekritik einschließlich des hierfür nötigen transdisziplinären Forschungsprogramms, wie Floris Biskamp sie vorschlägt, nicht überaus sinnvoll wäre. Ich denke nur nicht, dass die Positionen, die ich in meinem Aufsatz vorgestellt habe, dabei in erster Linie einen Fokus auf nicht intendierte De-Realisierungseffekte nahelegen. Eher legen sie – das ist ja nicht zuletzt der zentrale Punkt der Arbeiten Mbembes – eine ernsthafte und entsprechend grundlegende kritische Analyse aller diskursiven wie auch strukturellen Formen von Rassismus nahe, einschließlich ihres komplexen Verhältnisses mit der politischen Theorie und Philosophie, die Rassentheorien und rassistische Differenzierungen teilweise formuliert hat, hinsichtlich ihrer praktischen Implikationen oft dethematisiert und damit stützt, zum Teil aber auch explizit kritisiert. Ferner legen die in meinem Aufsatz vorgestellten Positionen nahe, bei der Legitimitätsfrage global wirkmächtiger Normen zu unterstellen, dass diese Frage an unterschiedlichen Orten unterschiedlich beantwortet werden kann – und darüber nachzudenken, was das bedeutet, gern auch mit Blick auf ideologiekritische Vorgehensweisen.
Viertens, auch dies – zumindest mit Blick auf die methodologischen Implikationen – schon etwas grundlegender: Weder die Comaroffs noch ich würden behaupten, dass das gelebte Demokratiemodell der Setswana, das mit dem westlichen Modell nicht harmonierte, allgemein gesprochen besser war als das westliche. Der wichtige Punkt ist hier vielmehr ein doppelter: zum einen war es anders, und zwar anders demokratisch; zum anderen offenbart der Vergleich – genauer die mangelnde Passförmigkeit – Defizite des westlichen Modells. Weder die Setswana noch die Comaroffs (noch ich) schlagen vor, das skizzierte Modell zu universalisieren oder irgendwohin zu exportieren. Aber sein von den Comaroffs analysierter anhaltender Niederschlag in der politischen Kultur könnte ein Anzeichen dafür sein, dass es Akzeptanz genoss und damit funktionierte. Das fordert die koloniale Vorstellung heraus, dass die westlichen Modelle notwendig, qua Herkunft nämlich, die besseren und die präferierten sind. Der Fall Botswana ist in diesem Sinne demokratietheoretische Eurozentrismuskritik.
Dies führt direkt zu meinem fünften Punkt. In der Tat zielt die postkoloniale Kritik an der liberalen Demokratie, die ich in meinem Aufsatz präsentiere, nicht auf Relativismus. Und in der Tat braucht und erzeugt die normativen Demokratietheorie (als Teilbereich der normativen politischen Theorie) Geltungskriterien. In der westlichen Tradition sind das in der Regel allgemeine, verallgemeinerbare, man könnte auch sagen: universale Kriterien. Nun ist im Prinzip kaum etwas Sinnvolles gegen solche Kriterien einzuwenden, solange sie sich als wahrhaft universal erweisen und keine eurozentrischen, androzentrischen, anthropozentrischen und sonstigen Schlagseiten aufweisen. Da dies allerdings selten der Fall ist, ist zumindest ihre Anwendungspraxis selbst längst Gegenstand postkolonialer Kritik: mit dem Hinweis, dass solche Kriterien meist nicht so universal sind, wie sie beanspruchen, sondern stattdessen westliche (und damit im Weltkontext gesehen provinzielle) Überlegungen verallgemeinern. Ich möchte an dieser Stelle gar nicht erst damit beginnen, die Vorzüge und Nachteile des normativen Universalismus zu diskutieren (das habe ich an anderen Stellen getan, z.B. hier und hier). Das in meinen Augen Interessante an der Vorgehensweise der Comaroffs, die als Ethnolog:innen weitgehend die Finger von explizit normativen Überlegungen lassen, besteht nämlich darin, dass sie die in ihrem Text deutlich werdende Kritik an der prozeduralen Mehrparteiendemokratie anhand lokaler Erfahrungen und Äußerungen formulieren – statt auf Grundlage allgemeiner Geltungskriterien. Freilich: solche allgemeinen Kriterien mögen sie bei ihrer Forschung im Hinterkopf gehabt haben. Aber die Stärke ihrer Kritik liegt im lokalen, man könnte auch sagen: relativen Abgleich, nicht in einer Prüfung anhand eines allgemeinen Kriterienkatalogs.
Soweit zu den fünf Punkten. Abschließend möchte ich – wie angekündigt – noch die Frage aufwerfen, wie sinnvoll es ist, die methodologischen Potentiale des Dargestellten auf die normative Demokratietheorie allein zu konzentrieren. Folgt man einer äußerst hilfreichen Einteilung von Hubertus Buchstein (2016, S. 8), ist die normative Demokratietheorie einer von insgesamt vier Zugängen oder Typen auf diesem Gebiet. Neben ihr gibt es noch historische, empirische und formale Zugänge – wobei die historischen „im Fundus der politischen Ideengeschichte nach Traditionslinien und Anknüpfungspunkten sowie nach verschütteten Einsichten für aktuelle Debatten und Kontroversen zum Thema Demokratie“ suchen und in diesem Sinne sowohl als Archiv als auch als Arsenal fungieren, empirische Theorien ermitteln, „inwieweit sich empirische Befunde aus der Politik zu verallgemeinerbaren theoretischen Aussagen verdichten lassen“ und formale Demokratietheorien mit theoretischen Demokratiemodellen auf Grundlage spezifischer Verhaltensannahmen bzw. Grundannahmen über Systemzusammenhänge arbeiten. Normative Demokratietheorien beschäftigen sich Buchsteins Heuristik zufolge „mit der Konstruktion, Begründung und kritischen Analyse von Sollensaussagen über die grundlegenden Normen und institutionellen Konfigurationen demokratischer Systeme“ (ebd.).
Meine These wäre nun, dass die postkoloniale Demokratietheorie methodologisch nicht nur über die normative Demokratietheorie hinausweist, sondern auch über die skizzierte Liste – sie mindestens modifiziert. Denn zumindest da, wo sie – wie von Biskamp vorgeschlagen – plural wird und damit den Schulterschluss schafft zum Feld der trans- und interkulturellen Politischen Theorie bzw. der Comparative Political Theory (CPT), kreiert sie ein Komplement zur historischen Demokratietheorie. Und zwar indem sie die Bestände des politischen Denkens (einschließlich seiner nicht-verschriftlichten Praxisvarianten) nicht lediglich historisch, d.h. in der zeitlichen Tiefe, sondern zudem global, in der geographischen Breite zusammenträgt und bewahrt (Archivfunktion) – und damit ihr Ideenarsenal über den europäischen bzw. westlichen Horizont hinaus erweitert. Es ist klar, dass bei diesem Unterfangen die ein oder andere Übersetzungsleistung nötig ist – aber das trifft freilich auch auf das historische Arsenal zu. Aktuelle Demokratieprobleme in Deutschland haben nicht notwendig weniger mit jenen in Botswana oder auch Venezuela als mit jenen im antiken Griechenland zu tun.
Das ist weder ein Einwand gegen Biskamp noch einer gegen Buchstein – sondern ein weiterer Aspekt des breiten Spektrums neuer Aufgaben und Möglichkeiten, die sich aus der Ernstnahme postkolonialer Theorieperspektiven in der Demokratietheorie und -forschung ergeben. Dass angesichts der Breite dieses Spektrums kaum Konsens über die prioritären unter diesen Aufgaben und Möglichkeiten zu erwarten ist, macht nichts. Es bleibt eh mehr als genug zu tun.
Ina Kerner ist Professorin für Politische Wissenschaft im Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Ihre aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen zum einen an der Schnittstelle von Politischer Theorie und Postkolonialen Studien und betreffen zum anderen den Themenkomplex, der sich zwischen den Begriffen Religion, Politik, Geschlecht und Feminismus aufspannt.
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