Mit dem Theoriekongress hat in Bremen nicht nur eine sehr gut besuchte und äußerst lebendige Tagung stattgefunden, sondern wurde gleichzeitig auch ein innerhalb der DVPW-Sektion „Theorie und Ideengeschichte“ präzedenzloses Tagungsformat erprobt. Sektionsmitglieder mögen sich erinnern, dass die Kongress-Initiator:innen seinerzeit nicht wenig Überzeugungsarbeit leisten mussten, um Zustimmung für den Kongress und damit eine Abweichung vom tradierten Format der Sektionstagung zu gewinnen. Immerhin – und ein solches Sakrileg war zuvor allein durch den DVPW-Kongress zu rechtfertigen – sollte für dieses Experiment sogar eine Herbst-Sektionstagung ausfallen! Zweifellos erwartet uns also, nicht zuletzt mit Blick auf eine im Schlusswort zum Kongress von Martin Nonhoff bereits in den Raum gestellte Wiederholung dieses Experiments, zweifellos eine Debatte um Sinn und Unsinn des Formats ‚Theoriekongress‘, auch und gerade im Vergleich zum Format der ‚Sektionstagung‘. Warum also nicht – und so serviceorientiert kennen uns schließlich unsere Leser:innen – hier auf dem Theorieblog damit beginnen?
Der Charme des Alten
Blicken wir zunächst noch einmal auf das Für und Wider der altbewährten Sektionstagung. Der Charme ist unbestreitbar: Gleichsam einem Klassentreffen kommen halbjährlich die deutschsprachigen politischen Theoretiker:innen zusammen, um sich der Zusammengehörigkeit als Gruppe von Gleichgesinnten zu vergewissern bzw. – angesichts der dynamischen Zusammensetzung der Gruppe – diese Zusammengehörigkeit jeweils erneut zu (re-)konstituieren. Mithin fungiert die Sektionstagung als Ort des Eintritts in ‚die politische Theorie‘, an dem sich letztere aber insofern stets auch selbst ‚entdecken‘ und neu beschreiben kann bzw. muss. Eben hierfür erweist sich die strikt synchrone Tagungsstruktur als dienlich: Weil stets alle im gleichen Raum sind, generiert jeder Beitrag maximale Sichtbarkeit und maximales Potenzial zur (produktiven) Auseinandersetzung. Ein Oberthema stellt dabei einen strukturierenden Rahmen für die gemeinsame Diskussion dar und eröffnet überdies den Teilnehmenden halbjährlich einen Einblick in unterschiedliche Bereiche aktueller Forschung innerhalb der politischen Theorie.
Zu diesem – romantisch-kommunitaristischen – Idealbild der Sektionstagung gab und gibt es allerdings auch eine Reihe kritischer Rückfragen: Kann hier angesichts des halbjährlichen Turnus und der teilweise engen Oberthemen tatsächlich die politische Theorie in ihrer Breite und Pluralität in Erscheinung treten? Führen die wenigen Vortrags-Slots und die knappe Diskussionszeit nicht zu einer relativen Bevorzugung etablierter Kolleg:innen? Führen nicht (akademische) Macht- und die diesen korrespondierenden Diskursstrukturen innerhalb der Sektion zur Reproduktion ebendieser Strukturen bei gleichzeitiger Marginalisierung bestimmte (Sprecher:innen-)Positionen? Bleiben bei Desinteresse am Oberthema nicht häufig viele Kolleg:innen der Tagung weitgehend fern? Und inwiefern kann der ‚interne‘ Austausch der deutschsprachigen politischen Theorie für diese überhaupt internationale Sichtbarkeit erzeugen – auch wenn einzelne Keynote-Speaker:innen aus dem Ausland eingeladen werden?
Go big or go home
Gerade mit Blick auf die damit aufgerufenen Bedenken versprach das Kongressformat gleich mehrfach Abhilfe. Und tatsächlich: So gut besucht wie der Theoriekongress war wohl noch keine Sektionstagung, und zwar von Kolleg:innen aller Alters- und Statusgruppen bzw. aus allen ‚Karrierephasen‘ – wodurch, so könnte man schlussfolgern, auch den Rufen nach einer dezidierten ‚Nachwuchstagung‘, wie sie bekanntlich in anderen Bereichen der Politikwissenschaft etabliert ist, nachhaltig jeglicher Wind aus den Segeln genommen wurde. Die relative thematische Offenheit und die große Anzahl an (parallel stattfindenden) Panels sorgten außerdem augenscheinlich dafür, dass im Programm für eine Vielzahl von Forschungsgegenständen, -perspektiven und -ansätzen Raum blieb. Weil damit auch zumeist das Publikum in jedem einzelnen Panel entsprechend heterogen (bzw. in seiner Zusammensetzung stets anders) war, konnten sich auch nur sehr eingeschränkt hegemoniale Sprecher:innenpositionen herausbilden.
Insofern der Kongress de facto auf Englisch stattfand (mit Raum für einige deutschsprachige Panels), hielten es offenkundig auch Theoretiker:innen aus dem Ausland für gewinnbringend, ihre Überlegungen auf einer Veranstaltung der Theoriesektion vorzustellen bzw. diese dem kritischen Urteil der deutschen Kolleg:innen auszusetzen – und konnten im Gegenzug einen Eindruck davon gewinnen, wie und wozu hierzulande derzeit geforscht wird. Mission ‚internationale Sichtbarkeit‘ accomplished also, sozusagen. Ein weiterer Nebeneffekt: Auch Vertreter:innen benachbarter Disziplinen wie Philosophie, Psychoanalyse oder Rechtswissenschaft erschien der Kongress offenbar als ein Ort, an dem die eigene Arbeit einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der politischen Theorie zugeführt werden konnte – was wiederum auch für die versammelten Theoretiker:innen und deren (Selbst-)Gespräche einen klaren Mehrwert darstellte.
Aller Euphorie zum Trotz war aber auch der Theoriekongress nicht frei von vielen der (kleineren) Probleme, die von anderen Inkarnationen des Kongress-Formats (bei fast allen größeren internationalen Konferenzen) wohlbekannt sind. Allen voran führte die große Zahl an parallel stattfindenden Panels dazu, dass nicht wenige Teilnehmer:innen mit dem unbefriedigenden Gefühl nach Hause fuhren, vor allem eine ganze Menge verpasst zu haben. Ob durch möglichst viele (teilweise sieben!) zeitgleich angesetzten Panels über das Programm hinaus tatsächlich mehr Sichtbarkeit für Themen jenseits des Mainstreams erreicht werden konnte, ließe sich zumindest hinterfragen – auch wenn, zugegebenermaßen, praktisch kein Panel ohne zumindest eine Handvoll Publikum blieb.
Beobachten lässt sich in diesem Zusammenhang wohl außerdem, dass der Kongress von manchen mutmaßlich marginalisierten Forschungsrichtungen umfangreicher als Bühne genutzt wurde (Hallo, Radikaldemokratie!) als von anderen (Hallo, Ideengeschichte!). Hier sollte in der Nachbetrachtung sicher überprüft werden, inwiefern solche Ungleichgewichte vorherrschende Forschungsinteressen spiegeln oder gegebenenfalls organisations-strukturelle Gründe haben könnten. Ebenfalls zu fragen wäre, inwiefern geschlossene Panels – und tatsächlich gab es eine bemerkenswerte Zahl an Panels, in denen Organisator:innen und Vortragende vollständig deckungsgleich waren – dem Ziel zuträglich sind, einen ebenso thematisch breiten wie auch inklusiven Austausch zu ermöglichen. Schlicht nicht zu verhindern war dagegen wohl, dass sich in den Pausen und im Rahmen des Abendprogramms auch während des Theoriekongresses die wohlbekannte Dynamik einer ‚Grüppchenbildung‘ entfaltete, die ebenfalls nur selten dazu angetan ist, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die nicht schon vermittels existierender Kreise, Netzwerke, Arbeitszusammenhänge u.ä. in Beziehung zueinander stehen.
Wo sich das gemeinsame Kongress-Erlebnis damit aber, je nach Wahl der besuchten Panels, auf die beiden Keynotes beschränkte, konnten am Ende des Kongresses zwei Teilnehmer:innen durchaus feststellen, dass sie eigentlich ganz unterschiedliche Veranstaltungen besucht hatten. Das ändert nichts daran, dass sich die deutschsprachige politische Theorie auf dem Kongress – gewissermaßen additiv – nach Außen erfolgreich präsentieren konnte. Möglicherweise hat sich das Format dagegen aber als nicht ideal erwiesen, nach Innen einen offenen und breiten Austausch zu generieren und damit vielleicht auch eine Art von Zusammengehörigkeit erfahrbar zu machen.
Gibt’s das auch eine Nummer kleiner?
Was machen wir also mit diesen Eindrücken? Zunächst einmal, und vor allem: Diskutieren – gerne direkt in der unten anschließenden Kommentarspalte!
Im besten Falle ergibt sich daraus ein konstruktiver Austausch darüber, ob – und wenn ja, wie – das Experiment Theoriekongress wiederholt werden sollte und was man daraus vielleicht auch mit Blick auf die Organisation zukünftiger Sektionstagungen – wenn man denn an ihnen festhalten möchte – lernen kann.
Was das Kongress-Format betrifft, sprechen die vielen positiven Eindrücke sicher durchaus für eine Wiederholung oder gar Verstetigung. Bedenken ließe sich aber, ob sich nicht die Zahl der jeweils parallelen Panels verringern lassen und so relativ mehr Aufmerksamkeit für diese generieren lassen könnte, vielleicht auch in Verbindung mit einer noch stärker auf inhaltliche Vielfalt ausgelegten Auswahl wie auch Verortung der Panels im Programm. Ebenfalls zu bedenken wäre wohl das ‚Selbstverständnis‘ des Kongresses: Soll dieser eher ein international sichtbares Schaufenster für die deutsche politische Theorie sein – oder einen Ort, an dem politische Theoretiker:innen sich und ihre Forschungsprojekte wechselseitig kennenlernen können? Vielleicht also ein Theoriekongress 2.0, nur eine Nummer kleiner?
Aber möglicherweise lassen sich einige Erkenntnisse ja auch für zukünftige Sektionstagungen produktiv nutzen? Wie schlimm wäre es denn, wenn zumindest Teile einer Sektionstagung eine zweigleisige Struktur hätten, in der man sich dann für eines von zwei Panels entscheiden muss, bevor man im anschließenden Programmteil dann wieder im Plenum diskutiert? Würde es sich nicht gerade für die ja thematisch enger gefassten Sektionstagungen anbieten, bewusst Perspektiven aus benachbarten Disziplinen einzubinden – und zwar nicht notwendig als Keynote, sondern innerhalb von Panels, in denen dann ein wechselseitiger Austausch stattfinden könnte?
Eine entscheidende Herausforderung, die weder Sektionstagung noch Theoriekongress qua Format lösen können und die sich mit besonderer Dringlichkeit stellt, besteht zweifellos darin, Vorträge, Diskussion wie auch den sozialen Rahmen so zu gestalten, dass diese möglichst gleichberechtigt Raum für alle lassen. Mithin liegt es an ‚der‘ politischen Theorie – und hier konkret an der DVPW-Sektion ‚Theorie und Ideengeschichte‘ als deren institutionalisierter Form – sich als ein praktischer Zusammenhang zu beweisen, der uneingeschränkt und inklusiv für alle Theorie-Interessierten offensteht und insofern auch bereit ist, seine Identität immer wieder neu zu bestimmen.