Kongresssplitter: Die (Un-)Möglichkeit eines progressiven Naturbegriffs

— 5.G: Verunsicherungen einer ‚natürlichen Ordnung‘. (Queer-)Feministische Un/Gewissheiten — 

Unterstellt man, dass die multiplen Krisen des Neoliberalismus und die damit verbundene Verunsicherung den individuellen und gesellschaftlichen Wunsch nach Sicherheit verstärken, so stellt sich die Frage, wie diese Sicherheit gewährleistet werden kann. Autoritäre Anrufungen vermeintlich vorpolitischer „natürlicher“ Ordnungen stehen progressiven Überlegungen zu Kontingenz und dem Aushalten von Unsicherheiten gegenüber. Die Implikationen eines essentialistischen Naturbegriffs und mögliche Interventionen zu diskutieren, war der Anspruch des mit fünf Beiträgen ambitioniert aufgestellten Panels „Verunsicherungen einer ‚natürlichen Ordnung‘. (Queer-)Feministische Un/Gewissheiten“.  

Die ersten drei Beiträge setzten sich mit dem Verständnis von Natur als Ordnungskategorie auseinander. Carla Ostermayer beleuchtete die Ordnungsfunktion gesellschaftlicher Naturverständnisse aus Sicht der Kritischen Theorie, wonach das Spreche über Natur stets herrschaftsförmig sei. Sie arbeitete heraus, dass die sprachliche Entmenschlichung marginalisierter Gruppen und Personen mit dem Ziel ihrer Beherrschung durch die Unterstellung einer angeblichen Naturhaftigkeit zur Essentialisierung von Ungleichheiten beiträgt. 

Judith Goetz bot mit ihrer Analyse des Strategiepapiers des 2013 gegründeten fundamentalchristlichen Netzwerks Agenda Europe ein anschauliches Beispiel für einen derartigen Herrschaftsanspruch: Zwar argumentiere das Netzwerk säkular-naturrechtlich, doch sei dies eine strategische Entscheidung mit dem Ziel der Diskursbeeinflussung. Inhaltlich strebe das Netzwerk die Resakralisierung von Politik und Recht an, indem es auf Basis unhintergehbarer Wahrheitsansprüche für eine hierarchische Gesellschaftsordnung argumentiere.  

Helen Stephan lenkte den Blick auf die gewaltvolle Geschichte (natur-)wissenschaftlicher Systematisierungen. Am Beispiel der Sexualhormonforschung führte sie die Objektifizierung rassifizierter und transidentitärer Menschen im Rahmen von Experimenten und Menschenversuchen auf eine cisgeschlechtliche, weiße Verunsicherung zurück: Die Untersuchung vermeintlicher Normabweichungen habe Eindeutigkeit erzeugen sollen. Dieses Bedürfnis wirke durch die Aufrechterhaltung scheinbar natürlicher Unterscheidungen in Form exkludierender Gesetze (etwas des Transsexuellen- oder des Aufenthaltsgesetzes) bis in die Gegenwart.  

In einem daran anschließenden Block setzten sich die Panelist*innen mit Möglichkeiten des Widerspruchs auseinander, wobei sich trotz der inhaltlichen Schwerpunktverschiebung vielfältige Bezüge zu den vorherigen Beiträgen zeigten.  

Carolin Zieringer lieferte eine Systematisierung unterschiedlicher Widerspruchsformen: In autoritären Diskursen diene Widerspruch der Unterdrückung von Gegenstimmen, liberale Diskurse betonten das Aushalten-Müssen von Widerspruch. Da dies bei Ausblendung spezifischer Machtverhältnisse in herrschaftsignoranten Relativismus umschlage, betone eine linksprogressive Perspektive eine kontextabhängige Differenzierung, wann wer was auszuhalten habe. Diesen individualistischen Verständnissen lasse sich eine in queeren und Schwarzen Feminismen betonte kollektive Praxis der Fürsorge und des Leisten-Könnens gegenüberstellen.  

Constanze Stutz diskutierte das feministische Potential der Ungewissheit und betonte mit Verweis auf Bini Adamczak und Eva von Redecker die Möglichkeit, über feministische Streiks und Aufstände neue Beziehungsweisen zu erproben und mittels utopischer Vorgriffe auf die Zukunft eine radikale Transformation herbeizuführen. Die heterogene Ideengeschichte des Feminismus biete ein umfangreiches Archiv, auf das zurückgegriffen werden könne, um überhistorisches Utopisieren zu vermeiden.  

Die gelungene Aufteilung des Panels in einen dekonstruktiv-kritischen und einen feministisch-utopischen Teil und die theoretische Heterogenität der Beiträge ermöglichten eine anregende und produktive Diskussion über die Frage nach einer kollektiven, ideenhistorisch informierten und antiessentialistischen Wiederaneignung des Naturbegriffs angesichts ökologischer Krisen. Die Anzahl der Panelist*innen barg jedoch auch Herausforderungen: Zeitbedingt blieben die Beiträge teils oberflächlich und viele der aufgeworfenen Fragen wurden bis in die Pause hinein vertieft oder bilateral diskutiert. 

Laila Riedmiller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der FAU Erlangen-Nürnberg. 

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