Wie in der letzten Woche angekündigt gibt es nun einen Kommentar zu Bernd Ladwigs Aufsatz „Menschenwürde als Grund der Menschenrechte? Eine Kritik an Kant und über Kant hinaus“, der in der ersten Ausgabe der neuen Zeitschrift für Politische Theorie (ZPTH) erschienen ist.
Angesichts der Komplexität des Textes von Bernd Ladwig ist auch der Kommentar etwas länger als der übliche Blog-Beitrag geworden. Vielleicht lohnt sich an dieser Stelle noch mal der Hinweis, dass ihr über einen Klick auf das Drucker-Symbol rechts unter der Überschrift () aller Blog-Beiträge eine für den Druck optimierte Version des Textes abrufen könnt.
Der Kommentar soll einen Auftakt für die Diskussion liefern. Bernd Ladwig wird dann im Laufe der nächsten Tage auf den Kommentar sowie auf eure hoffentlich zahlreichen Fragen und Anmerkungen reagieren. Und damit zum Text:
Susanne Schmetkamp: Würde ist nicht nur ein Wort
Als Mensch ein würdevolles Leben zu führen heißt, ein Leben in Selbstachtung zu führen. Selbstachtung und Würde sind in dieser Hinsicht normativ miteinander verbunden. Konstituiert werden sie durch die Achtung, die Menschen anderen Menschen oder Lebewesen entgegenbringen sollen. Achtung ist die dabei normative Bedingung der Selbstachtung. Doch Achtung meint nicht eine Form der Hochachtung oder anerkennenden Wertschätzung, die man jemandem aufgrund empirischer partikularer Eigenschaften, Fähigkeiten oder Leistungen entgegenbringt; sondern sie bedeutet ein basales normatives Prinzip, das dem moralischen Handeln und der Haltung gegenüber dem moralischen Status des anderen überhaupt zugrunde liegt: eine grundlegende Einstellung der Rücksicht. Und nur wer sich auf der Adressatenseite des moralischen Handelns in dieser Weise als vollwertiges Mitglied der moralischen Gemeinschaft anerkannt und ernst genommen fühlt (oder gute Gründe hätte, sich als solches zu erfahren), nimmt sich selbst wahr als ge- und beachtetes Wesen, dessen Recht, ein würdevolles Leben führen zu können, zählt.
Man sieht schon anhand dieser kurzen, thesenartigen Aufstellung, wie komplex das Verhältnis zwischen Würde, Selbstachtung und Achtung ist. Dass dies nicht nur konzeptuelle und konzeptionelle Fragen evoziert, zeigt sich an Fällen, in denen genau dies nicht gewährleistet ist und die deshalb immer wieder die Debatte um Menschenrechte und ihre Begründung auf den Plan rufen, Fälle, in denen Lebewesen nicht als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft zählen (vgl. Margalit, Avishai, 1999: Politik der Würde, Frankfurt am Main: Campus): Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Folter ebenso wie Hunger und Armut sind grundlegende Verletzungen, die durch die Menschenrechte verhindert werden sollten. Diese sind erklärt worden, „da“, wie es in der Präambel der UN-Menschenrechtscharta heißt, „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.
Nun stellt Bernd Ladwig in seinem so beeindruckend kenntnisreichen wie dichten Artikel „Menschenwürde als Grund der Menschenrechte?“ zu Recht die dringende Frage, was bei den Menschenrechten eigentlich geschützt respektive verletzt wird: Würde oder Interessen, wie etwa das Interesse, keine Schmerzen zu leiden? Und warum überhaupt haben wir als Menschen diese Rechte, die dies – Würde oder grundlegende Bedürfnisse – schützen, und aus welchen Gründen sollten Menschen einsehen, sie zu bewahren? Ladwig wendet sich hier gegen das dominierende Konzept der Menschenwürde als menschenrechtsbegründend. „Würde“ sei zwar ein wichtiger Begriff, der den moralischen Status des Menschen bezeichne. Für eine Begründung der Menschenrechte tauge er aber nicht. Denn er erfülle nicht die Bedingungen der Allgemeinheit und Gleichheit: Würde (nach Kantischer Lesart) tragen nicht alle Lebewesen, nicht einmal alle menschlichen Lebewesen. Und sie tragen sie nicht alle gleichermaßen. Ladwig schlägt dagegen eine Begründung der Menschenrechte auf der Grundlage einer interessenorientierten Konzeption vor.
Angesichts der hohen Komplexität des Textes kann an dieser Stelle nicht mehr als nur ein ausschnitthafter Kommentar angeboten werden. Im Mittelpunkt werden der Begriff der Würde und die Moral der Achtung stehen. Mein Alternativvorschlag gegen Ladwigs Entwurf lautet: Wir brauchen einen multikriteriellen Ansatz, der a) die Verzahnung zwischen Interessen, Würde, Autonomie und Selbstachtung verdeutlicht, b) das Konzept der Kantischen moralischen Achtung stärker macht und c) die Bedeutung darüber hinausgehender partikularer Rücksichtnahme und Anerkennung hervorhebt. Aufgeben sollten wir das Konzept der Würde aber nicht.
Vorab möchte ich einige dieser und darüber hinausgehender Diskussionspunkte nennen, die zur weiteren Debatte Anregungen geben könnten:
- Bei einer Begründung der Menschenrechte über die menschliche Würde nach Kant gilt es, sauber zwischen dem moralischen Akteur und dem Adressaten moralischen Handelns zu unterscheiden – das lässt der Artikel vermissen, die beiden Gruppen werden vermengt.
- Es muss zwischen empirischen und überempirischen Kriterien unterschieden werden: nicht, ob jemand tatsächlich vernünftig ist, ist relevant für die Zuschreibung von Würde, sondern sein Anspruch, in seinem moralischen Status anerkannt zu werden.
- Ferner ist zwischen der basalen und universellen moralischen Achtung und einer partikularen Hochachtung und Wertschätzung zu differenzieren.
- Kants Konzeption ist wegen seines Monismus und Rigorismus zu Recht zu hinterfragen. „Würde“ ist aber mehr als nur ein rhetorischer Kniff.
- Eine Begründung der Menschenrechte allein über die Bedürftigkeit ist ebenso wenig plausibel wie eine Begründung der Menschenrechte bloß über den Würdebegriff.
- Bezüglich der moralischen Dilemmata im praktischen und vor allem politischen Leben (Beispiel: Verrechnung Leben gegen Leben) vertritt Ladwig gegen einen praxisuntauglichen und rigoristischen Absolutismus eine Abwägungsmoral (65 ff.). Hier ist aber zwischen einem „absoluten Wert“ und einer „absoluten Achtung“ zu unterscheiden.
Würde und Achtung
Eine bis heute verbreitete Position der Begründung der Menschenrechte ist jene im Anschluss an Kant: Dem Menschen stehen Rechte zu, weil er eine Würde hat (vgl. Ladwig, 51 (im Folgenden werden nur die Seitenzahlen angegeben)). Diese Würde bestimmt seinen moralischen Status, zu dessen Schutz er ein Recht hat, dessen Achtung ihm geschuldet ist.
Würde meint, dass jemand einen intrinsischen Wert – kein Preis, kein Äquivalent, wie es bei Kant heißt (AA IV, 434) – verkörpert. Würde meint, dass jemand dem Vermögen nach sich selbst bestimmen, seine Zwecke selbst setzen kann: autonom ist. Negativ gewendet meint das, dass er/sie nicht Opfer seiner bloßen Neigungen und nicht der Willkür und bloßen Instrumentalisierung durch andere ausgesetzt ist oder sein darf. Akteursbezogen meint das außerdem, dass Würde die moralische Einsicht impliziert, auch andere Wesen zu achten. Eingesehen wird dies, so Kant, qua Vernunft, welche das moralische Gesetz in sich vorfindet, welches wiederum – ganz grob wiedergegeben – das besondere „selbstgewirkte“ Gefühl der moralischen Achtung hervorruft. Dieses Gefühl wird wiederum dem moralischen Gesetz und der menschlichem Fähigkeit, danach zu handeln, entgegengebracht. Die Achtung wird zur Triebfeder des moralischen Handelns (vgl. Köhl, Harald, 1990: Kants Gesinnungsethik, Berlin/New York: De Gruyter, 115 ff.).
Hierbei (vor allem wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert ist) handelt es sich um die nomologische Seite der Achtung: Gegenstand der Achtung ist das moralische Gesetz: „Alle Achtung für eine Person“, so schreibt Kant, „ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel giebt“ (Kant, AA IV, 401). Die moralisch handelnde Person gibt ein Beispiel ab für die Achtung für das Gesetz. Indem sie danach handelt, erweist sie sich als autonom. Später, in der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs, erweitertet Kant die Achtung um ihre personale Komponente: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Kant, AA IV, 429). Die Achtung ist der eigenen Person und dem anderen geschuldet und fordert, sich selbst und den anderen als Zweck an sich anzuerkennen und nicht als Tauschwert zu betrachten und bloß zu instrumentalisieren.
Ladwig hat Recht, wenn er kritisiert, dass dabei aber nur die vernünftige Person gemeint ist, die eben das Beispiel für das moralische Gesetz, das man qua Vernunft in sich vorfindet, abgibt: Wenn wir Personen achten, achten wir ihre Autonomie und ihren Anspruch, frei von Willkür und Neigungen, vernünftig moralisch zu handeln (vgl. Köhl, a.a.O., 142). Demnach sieht es so aus, als ob die Adressaten der Selbstzweckformal tatsächlich nur vernünftige Wesen sind. „Nur wer als Vernunftwesen sich selbst das (Sitten-)Gesetz geben kann, hat einen direkten moralischen Status.“ (54)
Akteure und Adressaten
Es ist aber sinnvoll – mit oder über Kant hinaus, je nachdem wie weit man die Interpretation treiben will – zwischen moralischen Akteuren und Adressaten schärfer zu unterscheiden als Ladwig dies tut. Wer einsehen soll, dass moralisches Handeln geschuldet und Menschenrechte begründet sind, der muss zu den moralischen Akteuren gehören: der weiß und versteht, warum andere Menschen oder Lebewesen ein Recht auf moralische und Menschen-Rechte haben. Ohne diese Zurechnungsfähigkeit, so schreibt Ladwig, „wäre Moral nicht möglich“ (53). Die Gruppe der Adressaten ist indes größer, zu ihnen gehören auch Lebewesen – Menschen, Tiere, die Natur –, die selbst möglicherweise nicht moralische Akteure sind (Kleinkinder, die noch keine Begriff davon haben; Tote, die keinen Begriff mehr davon haben sowie geistig schwer behinderte Menschen, die womöglich nie einen Begriff davon hatten und haben werden, was Moral und Vernunft sind, sind nicht selbst als moralische Akteure zu bezeichnen; auch sind Tiere nicht selbst moralische Akteure.).
Aber sie alle sind schutzbedürftig und Adressaten moralischer Rücksicht. Adressaten sind diejenigen, die von dem moralischen Handeln anderer profitieren bzw. Schaden davontragen. Sie haben einen moralischen Status, indem sie von einem Second-Person-Standpoint aus berechtigte Ansprüche stellen (vgl. Darwall, Stephen, 2006: The Second-Person-Standpoint, Harvard: UP). Darwall setzt den moralischen Status mit dem Würdestatus und einer „normative authority“ gleich (eine ähnliche Position vertritt auch Peter Schaber). Dies ist ein von Kant beeinflusster, diesen aber aktualisierender Ansatz. Die darin vertretene Achtungskonzeption („Recognition Respect“) ist mit einem Universalismus verbunden. Zugegeben, er ist auf Menschen beschränkt; tatsächlich glaube ich, dass wir Menschenrechte anders begründen können oder sollten als Tierrechte, auch wenn ich für diese ebenso plädieren möchte.
Aber wie können wir den Anspruch von Menschen begründen? Der moralische Status wird meines Erachtens von den Adressaten eingefordert und von den Akteuren zugeschrieben, anerkannt. Ein Tier dagegen schreibt mir keinen moralischen Status zu. Ich aber kann einem Tier einen moralischen Status zuschreiben, indem ich es als Mitglied der moralischen Gemeinschaft anerkenne, das Rechte hat – ohne dass damit Reziprozität normativ geboten wäre.
Moralfähige Menschen schreiben anderen Menschen und Lebewesen einen moralischen Status und damit einen Adressatenstatus moralischer Rechte zu, weil sie einsehen, was die notwendigen Bedingungen eines würdevollen Lebens in Selbstachtung sind – frei und autonom von Willkür sowie versorgt mit den anderen Grundlagen des würdevollen Lebens zu sein. Dies ist aber eine Einsicht, dass es nicht nur des anderen, sondern auch der eigenen Würde und Selbstachtung (der Menschheit in der eigenen Person) geschuldet ist, so zu handeln. Das scheint zu einer Denkart zu führen, die ebenfalls bei Kant zu finden ist, aber, wie Ladwig zu Recht hervorhebt, problematisch ist: Grausamkeit gegen andere nichtvernünftige Lebewesen scheint demnach nicht an sich schlecht, sondern weil wir Vernunftwesen dabei gegen unsere Selbstachtung verstoßen, indem wir uns selbst würdelos verhalten. Tatsächlich – und hier bin ich mit Ladwig d`accord – liegt hier die Krux der Kantischen Konzeption. Hier haben wir es mit einem problematischen Anthropozentrismus zu tun, der andere nicht um ihrer selbst Willen schützt, sondern weil der Mensch es als seine moralische Selbstachtungspflicht ansieht.
Aber wie können wir anders jemanden davon abhalten, der Tiere quält und Spaß dabei hat? Der also gerade Gefallen an der Grausamkeit hat und gar nicht einsieht, warum es nicht sein sollte? Wie können wir jemanden überzeugen, dass die Interessen anderer Menschen zählen, die nach Kant nicht in die Klasse der vernünftigen, moralfähigen Wesen zählen? Warum sollte er etwas gegen den Hunger anderer in der Welt tun (und damit seiner „Selbstliebe“, seinem Egoismus Abbruch tun)? Muss es nicht doch über eine Einsicht und darüber hinaus Formen der Empathie und des Mitgefühls verlaufen, welche Menschen dazu motiviert, nicht grausam zu sein, weil es einfach nicht mit dem menschlichen Würde- und Achtungskonzept zu verbinden ist? Müssen demnach, mit anderen Worten, die moralischen Akteure doch anhand einer Würdekonzeption überzeugt oder über andere „Methoden“ moralisch kultiviert werden?
Von der Achtung zur Anerkennung zum würdevollen Leben in Selbstachtung
Die Vielfalt der Interessen (vgl. 58) fordert auch eine Anerkennung der partikularen Bedürfnisse: Ein gutes Leben geht nicht allein darin auf, autonom und frei von der Willkür anderer zu leben, sondern impliziert mehr. Ebenso wenig sollte aber unsere Würdekonzeption in Autonomie und Vernunft aufgehen, sondern von Kant etwas weg hin zu einer Konzeption der „normative authority“ (vgl. Darwall, Schaber) oder einer Konzeption der „Selbstachtung durch Achtung und Anerkennung“ führen. Hier kommen die Care-, Interesse- oder Bedürfniskonzeptionen ins Spiel: Jemanden in seiner Würde und seiner Autonomie zu achten heißt auch, ihn in allen Belangen zu achten, die ihm ein Leben in Selbstachtung ermöglichen (vgl. z.B. Schaber, Peter, 2004: „Menschenwürde und Selbstachtung: Ein Vorschlag zum Verständnis der Menschenwürde“, in: Studia Philosophica). Und dies ist nur möglich, wenn jemand nicht nur frei ist von der Willkür anderer, sondern auch von anderen darin anerkannt, dass er berechtigterweise Ansprüche stellt. Das impliziert auch, dass er darin allgemein und partikular berücksichtigt wird, Bedürfnisse zu haben, demnach frei auch von anderen das gute Leben einschränkenden Hindernissen ist – wie Schmerzen, Obdachlosigkeit, Hunger etc.. Wir müssen also über die Würdekonzeption und die Konzeption der basalen Achtung, auch wenn sie die normative Grundlage bilden, noch hinausgehen und eine Ethik der Rücksichtnahme und Anerkennung von grundlegenden und partikularen Interessen und Bedürfnissen etablieren – hier kommen wir aber von einem Universalismus zu einem differenzierten Kontextualismus oder Partikularismus.
Plausibel halte ich einen multikriteriellen, mehrdimensionalen Ansatz aus Achtung und Anerkennung, Würde und Interessen, der die Achtung als moralisch basales Prinzip und das Gut der Würde und Selbstachtung als Grundlage des moralischen Handelns hervorhebt. Zugleich ist dieser aber um eine Interessenkonzeption zu erweitern, die berücksichtigt, dass Menschen nur dann ein würdevolles Leben führen können, wenn sie frei sind von der Willkür anderer und wenn sie in den Bedingungen ihres Lebens so unterstützt werden, dass es ein würdevolles und gutes Leben sein kann. Die Frage ist, wie weit die Menschenrechte hier reichen (können).
Hallo, ich habe eine Detailfrage zum Text von Bernd Ladwig. Mir leuchtet die „Umkehrung des Blicks“ hin zu Interessen, wie sie auf den Seiten 62-65 skizziert wird, sehr ein. Etwas verwundert hat mich jedoch, dass im Text bisweilen auch die Rede von „Bedürfnissen“ ist. So heißt es auf S. 65 im Kontext der Zurückweisung eines reinen Kosequentialismus etwa:
„Die Möglichkeit der Aggregation guter Folgen über Individuengrenzen hinweg wird von vornherein durch die unabhängige moralische Stellung jedes Einzelnen und seine besonders wichtigen Interessen oder Bedürfnisse begrenzt.“ (meine Hervorhebung)
Meine Frage ist nun, was genau sich hinter der hier angedeuteten Unterscheidung von Interessen und Bedürfnissen verbirgt?
Lieber Kant-Laie,
m. E. wird mit Bedürfnissen üblicherweise auf einen objektiven Güterkatalog verwiesen, der subjektive Claim-Rights definieren soll, so z.B. auf Nahrung, Unterkunft usw.
Interessen sind im Gegensatz dazu nicht in gleicher Weise objektiv bestimmbar. Zwar sind auch hier meist „aufgeklärte“, „autonome“, „unparteiliche“ usw. Interessen gemeint, diese lassen sich aber nur mit Bezug auf die einzelnen (Rechts-)Personen bestimmen und müssen in diesem Sinn immer intersubjektiv gerechtfertigt werden. (Vgl. dazu etwa Gosepath, Stefan: Gleiche Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 2004. Kap. II.5.3 und Kap. II.6.)
@HaukeBehr: Vielen Dank erst mal für deine Ausführungen. Ich habe es auch immer so verstanden, dass mit dem Begriff „Bedürfnis“ ein stärker objektiver, quasi-naturalistischer Anspruch verbunden ist. Dagegen versteht Ladwig seinen Interessenansatz ja bewusst als eine „Spielart der Unparteilichkeitsmoral“ (S. 63, Fußnote 10).
An anderer Stelle, in seinem Aufsatz „Menschenrechte und menschliche Natur“ von 2007, grenzt Ladwig Interessen noch deutlicher von Bedürfnissen ab, wenn er schreibt: „Sind die schieren Überlebenserfordernisse
erfuüllt, so betreten wir schnell umstrittenes Terrain. Die Rede von „Interessen“ hat den Vorzug, dass sie keine Naturalisierbarkeit suggeriert, wo deutungsbedürftige Ansprüche da sind.“ (2007: 98)
Wie gesagt, vielleicht ist das gar kein allzu wichtiger Punkt, aber ich hatte mich halt gewundert, warum Ladwig dann in dem Aufsatz hier wieder Interessen und Bedürfnisse quasi gleichbedeutend zu benutzen scheint.
Hallo Susanne, hallo Bernd,
ich habe einige Fragen, die sich auf das Verhältnis zwischen Würde und Interessen beziehen. Wenn ich das richtig verstehe, möchtest du, Susanne, ja doch an dem Begriff der Würde als menschenrechtsbegründed festhalten, wenn du im letzten Absatz deines Kommentars „das Gut der Würde und Selbstachtung als Grundlage des moralischen Handelns“ hervorhebst. Hier würde ich mit Bernd noch mal die Frage stellen, welche Begründungsleistung an dieser Stelle durch den Würdebegriff geleistet wird. Erstens schreibst du selbst ja auch, dass der Würdebegriff alle „nichtvernünftigen Lebewesen“ ausschließt. Zweitens habe ich, dieses Mal mit Rorty, doch Zweifel, ob Verweise auf den Kantischen Würdebegriff tatsächlich eine irgendwie stärkere Begründung liefern, die ausreicht um auch einen Sadisten davon abzuhalten, lustvoll Tiere oder Menschen zu quälen. Drittens schließlich finde ich es, nun wieder mit Bernd, überzeugend, direkt auf die relevanten Interessen abzuheben. Vielleicht etwas vereinfacht: Wenn Würde so ein umstrittener und dabei hoch aufgeladener Begriff ist, warum braucht man ihn dann noch, wenn es doch im Kern um die Interessen geht, die dieser begründen soll? Über die man sich dann im Einzelnen natürlich immer noch streiten kann. (Vgl. hierzu auch noch mal S. 65 aus Bernds Text).
Nun zu Bernd: Hier habe ich eher eine Nachfrage, was vor dem Hintergrund dieser Diskussion genau der Stellenwert ist, den du dem Würdebegriff im Verhältnis zu deiner Interessenkonzeption der Menschenrechte zusprechen willst. Im fünften Abschnitt deines Textes schlägst du ja vor, Menschenwürde als den Anspruch auf starke Rechte zu verstehen. Menschenwürde steht demnach „abkürzend für den besonders starken Status menschenrechtlicher
Unverletzlichkeit“ (65). Verstehe ich es richtig, dass du den Begriff der Menschenwürde demnach zur Begründung (oder vielleicht auch eher Explikation) des besonderen Status der Menschenrechte innerhalb unserer Rechtsordnung nutzt, während dann die Interessenkonzeption der Menschenrechte hinzukommt, um diese inhaltlich zu bestimmen? Und wenn dem so ist, wie genau verhält sich dann dazu die Unterscheidung zwischen „Interaktionsmoral unter Menschen einerseits, einer Moral für politische Institutionen andererseits“?
Mit den besten Grüßen! Daniel
Liebes Team vom Theorieblog, liebe Susanne, liebe KommentatorInnen,
zunächst möchte ich sagen, dass ich mich geehrt fühle, mit einem meiner Texte an diesem diskursiven „Experiment“ teilnehmen zu dürfen. Ich freue mich über die bislang eingegangenen Stellungnahmen und Nachfragen und bin gespannt auf weitere. Diese Replik fällt, der Komplexität der Fragen entsprechend, umfangreich aus; ich hoffe, das ist mit den Regeln der Blog-Welt vereinbar, in die ich hiermit zum ersten Mal als Teilnehmer eintauche.
Susanne hat zu meinem Text einen ausführlicheren Kommentar verfasst und darin eine Alternativkonzeption skizziert; drei weitere Beiträge drehen sich um mein Verständnis von „Interessen“ und um den möglichen Unterschied zu „Bedürfnissen“. Mein Eindruck ist, ich kann manches, was mir zu Susanne einfällt, am besten sagen, indem ich zunächst deutlicher mache, was ich unter „Interessen“ verstehe. Denn Susanne plädiert für einen „mehrdimensionalen“ Ansatz, in dem Interessen neben Würde, Achtung, Anerkennung und Selbstachtung eine Rolle spielen. Ich hingegen vertrete ein in sich differenziertes, und insofern ebenfalls mehrdimensionales, Verständnis von Interessen selbst. Was aber ist hier überhaupt mit „Interesse“ gemeint?
Kant-Laie fragt, warum ich „Interessen“ und „Bedürfnisse“ mal in einem Atemzug nenne und dann wieder unterscheide. Meines Erachtens sind beide Begriffe in einem bestimmten Sinne tatsächlich austauschbar. Es ist dann eine vor allem rhetorische Frage, welcher Begriff besser zu verstehen gibt, worum es in solchen Ansätzen geht. Von einem Bedürfnis in einem ganz allgemeinen Sinne kann dann die Rede sein, wenn die folgende dreistellige Relation vorliegt: A benötigt y um zu z, wobei „A“ im einfachsten Fall irgendein Lebewesen ist, „y“ für ein Mittel im engeren oder weiteren Sinne und „z“ für eine bestimmte Funktionsweise oder Fähigkeit (pace Sen) steht.
Hier ist inhaltlich alles Mögliche denkbar, z.B. „Paul benötigt ein echtes Bild von Paul Klee, um als großer Kunstsammler dazustehen“. Im engeren Sinne reden wir hingegen nur dann von einem „Bedürfnis“, wenn wir für „y“ etwas einsetzen dürfen, was für das Überleben oder die artspezifische Entfaltung von A unabdingbar ist. Im Falle von Menschen geht es etwa um die Voraussetzungen eines menschlichen oder jedenfalls menschenwürdigen Lebens. Da eine Grundschicht dieser Voraussetzungen biologisch angelegt ist, besteht hier nur ein geringer Spielraum für Interpretationen, der indes größer wird, wenn wir die „Bedürfnispyramide“ hinaufsteigen.
In diesem Sinne schrieb ich, der Begriff der Bedürfnisse suggeriere eine Naturalisierbarkeit, die aber jenseits eines Grundbereichs biologisch verankerter Erfordernisse in die Irre führe. Der Interessenbegriff ist breiter und schließt den Begriff des Bedürfnisses ein. Hier ist allerdings die Beobachtung wichtig, dass wir von „Interesse“ in zwei verschiedenen Bedeutungen sprechen. Wiederum formelhaft: Im einen Fall sagen wir „A hat ein Interesse an y oder z“ (je nachdem, ob das Interesse direkt auf einen Endzweck oder auf ein Mittel zum Zweck gerichtet ist), was soviel heißt wie „A wünscht oder will y oder z“. Im anderen Fall sagen wir „y oder z liegt im Interesse von A“, was soviel heißt wie „A hat wenigstens einen guten rechtfertigenden Grund dafür, y oder z wertzuschätzen“.
In dieser zweiten Verwendung ist „Interesse“ immer etwas, das intersubjektiver Kritik und Korrektur offensteht, wenn auch unter Umständen nur relativ zu den besonderen Voraussetzungen eines bestimmten Lebewesens A. Denn „… liegt im Interesse von A“ ist etwas, das prinzipiell jeder beurteilen kann, der weiß, wie es um A in der relevanten Hinsicht steht (ob er zum Beispiel wirklich ein leidenschaftlicher Kunstsammler ist oder als Kater wirklich eingehen würde, wenn Ursula Wolf ihn vegan ernährte).
Kurz und gut, ich verwende „Interesse“ in diesem zweiten Sinne, und das erlaubt mir nun endlich, ein paar Worte zu Susannes scharfsinnigem Kommentar zu sagen. Meines Erachtens lassen sich die menschenrechtlich erheblichen Interessen in vier Dimensionen einteilen: (1) artspezifisches Existieren als Mensch, das heißt als selbstbewusst wertendes und handelndes Lebewesen, (2) Wohlbefinden im Sinne eines zumindest negativen Hedonismus der Abwesenheit leiblichen und seelischen Leides, (3) personale Autonomie, (4) moralischer Status. Susannes „Selbstachtung“ fällt in diese vierte Dimension. Ich meine damit, dass ein Mensch, der realisiert, dass ihm moralische Achtung und Rücksicht zukommen, damit den normativen Umstand, um seiner selbst willen achtens- und berücksichtigenswert zu sein, in sein Selbstverhältnis aufnimmt.
Das Interesse an Selbstachtung ist ein Interesse reflexiver Art: Es tritt zutage, wenn wir uns darauf besinnen, was uns moralisch gesehen zukommt. Ein Mensch mit einem moralisch gehaltvollen Selbstverständnis legt Wert auf die Einstellung, die andere zu seinem moralischen Status einnehmen. Oder negativ gesprochen: Es liegt in seinem Interesse, nicht gedemütigt bzw. entwürdigt zu werden. Die Differenz zwischen Susanne und mir scheint mir nun darin zu liegen, dass ich, anders als sie, hier von einem Interesse eigener Art spreche und nicht von etwas, das den Interessenansatz transzendiert. Selbstbewusste Personen haben spezielle, nur ihnen vorbehaltene Interessen, weil sie sich auf eine moralisch gehaltvolle Weise selbst verstehen können, und das können sie, weil sie sich über ihren eigenen moralischen Status klarwerden können.
Das gilt allerdings nur für selbstbewusste Personen. Einen Affen oder einen geistig erheblich behinderten Menschen kann man nicht demütigen, indem man ihm zu verstehen gibt, dass man ihn etwa für minderwertig hält. Interessen reflexiver Art setzen ein jedenfalls rudimentäres Reflexionsvermögen zurechnungsfähiger Personen voraus. Wer aber nicht einmal auf dem Weg dazu ist, zur selbstbewussten Person zu werden, kann solche Interessen nicht haben. Daraus folgt direkt, dass das Verbot, andere zu entwürdigen, nicht der ganze Witz der Menschenrechte sein kann. Schließlich kommen diese wenigstens allen geborenen und nicht ganzhirntoten Angehörigen unserer Art zu, auch den konstitutionell unmündigen unter ihnen.
Hingegen können auch konstitutionell unmündige Individuen Adressaten moralischer Rücksicht sein. Sie müssen dazu nur eine Hinsicht darbieten, in der sie subjektiv, auf für ihr eigenes Erleben erhebliche Weise verletzbar sind. Ich gestehe, dass ich nicht begreife, warum Susanne mir vorhält, ich unterschiede nicht deutlich genug zwischen Akteuren und Adressaten der Moral. Genau diesen Schritt über die Akteure hinaus und hin zu einem größeren Kreis von Adressaten (nämlich allen subjektiv versehrbaren Interessenträgern) vollziehe ich, indem ich mich der Struktur eines Arguments von Martin Seel bediene: Akteure der Moral halten manche Interessen für moralisch erheblich, die sie mit anderen Wesen, die keine möglichen Akteure der Moral sind, teilen. Darum wäre es willkürlich, diese anderen nicht grundsätzlich geleichberechtigt in den Kreis der Moraladressaten einzubeziehen. Wieso ich diese zwei Gruppen vermenge (außer, dass die eine eine Teilmenge der anderen bildet, um mal in der Sprache meiner Schulzeit zu sprechen), ist mir nicht klar.
Meines Erachtens hat dieses Vorgehen auch den Vorzug, dass ich auf ein und demselben Weg Rechte für mündige und für konstitutionell unmündige Wesen, also auch für nichtmenschliche Tiere begründen kann. Ich brauche dazu nicht, wie anscheinend Susanne, einen Argumenttyp für Menschen und einen anderen für sonstige Tiere. Für das Folgeproblem allerdings, dass ich so wohl nur zu abstufbaren und abwägbaren Rechten, aber nicht zum spezifisch menschenrechtlichen Status der „Unverletzlichkeit“ (Frances Kamm) gelange, fallen mir nur moralpragmatische Lösungen ein. Wir können dann sagen, dass geborene und nicht ganzhirntote Menschen eine Würde haben, weil ihnen aufgrund sekundärer, eben moralpragmatischer Erwägungen der spezielle Status der Unverletzlichkeit zukommt. Der grundlegende Status hingegen, überhaupt ein Subjekt von Rechten zu sein, kommt jedem Wesen zu, das in wenigstens einer moralisch erheblichen Hinsicht so (ähnlich) ist wie die Subjekte der Moral, die die Erheblichkeit der Hinsicht erkennen können. Dafür ist übrigens nicht einmal wesentlich, dass das Wesen ein Lebewesen ist: Auch Stanley Kubricks sensibler Computer HAL hätte nach meiner Konzeption ein paar Rechte, während ein empfindungsunfähiger Baum keine hat.
Warum sind die meisten von uns grundsätzlich zur Rücksicht motiviert? Auf diese Grundfrage kann ich nur wie Susanne antworten: weil wir durch Empathie am Wohl und Wehe anderer Anteil nehmen, es auf eine uns selbst bewegende Weise als gut oder schlecht nachvollziehen können. Wir sind darum grundsätzlich dazu disponiert, manches um dieser anderen willen zu tun oder zu lassen. Bei autonomiefähigen Personen bezieht sich die gebotene Rücksichtnahme auch auf ihre mögliche Autonomie, und bei Menschen, die den eigenen moralischen Status kennen können, bezieht sie sich zusätzlich auf ihr Interesse, nicht gedemütigt zu werden. Die Selbstachtung des anderen ist dann selbst ein schützenswertes Gut, aber eben nur für den, der grundsätzlich Zugang zu ihm hat, alle anderen dürfen wir ‚nur‘ nicht quälen, sozial isolieren, ohne Not umbringen und dergleichen. Ich sehe weiterhin, wie auch Daniel, nicht, welchen Mehrwert der Würdebegriff über ein derart facettenreiches Interessenverständnis hinaus hat.
Und abschließend zu Daniel: Ja, ich verwende den Würdebegriff zur Explikation eines von ihm unabhängig begründeten Status: ein Subjekt starker Rechte zu sein. Die Interessenkonzeption als solche ergibt nur eine Begründung von Rechten in einem schwächeren Sinne. Den spezifisch menschenrechtlichen Schritt können wir sprachlich hervorheben, indem wir von „Menschenwürde“ sprechen; wir können das aber auch lassen, da an dem Wort keine Begründungslast hängt.
Noch ein Nachtrag:
Ich habe vorhin, als ich Susannes Einwände diskutierte, einen Punkt übersprungen, weil mir sein argumentativer Stellenwert nicht klar ist; hier bitte ich um Aufklärung: Was genau trägt die Bezugnahme auf Darwalls „normative authority“ aus? Wer den Status hat, vom Standpunkt einer Zweiten Person aus Ansprüche zu stellen, denen andere entsprechen müssen, hat den Status, ein Subjekt moralischer Rechte zu sein; so weit gehe ich mit. (Jedenfalls, wenn ein Subjekt seine Ansprüche auch advokatorisch geltend machen kann, denn nur so lässt sich ein Ausschluss konstitutionell Unmündiger vermeiden.) Und ich schreibe ja selbst, nichts hindert uns daran, diesen Status „Würde“ zu nennen.
Aber gibt es irgendetwas, was alle moralischen Akteure rational dazu nötigt, zumindest allen Menschen diesen Status zuzuerkennen? Mir scheint, hier müsste ein Würdetheoretiker antworten, die rationale Nötigung gehe eben von der Menschenwürde aus. Und hier finde ich bei Susanne keine Antwort auf meine Frage: Was an uns ist so besonders, dass es uns alle gleichermaßen achtungswürdig macht?