Baustelle Bundesstaat? Steven Schällers ZPTH-Artikel in der Diskussion

In der ersten Ausgabe des 2012er Jahrgangs der Zeitschrift für Politische Theorie stellt Steven Schäller einige Überlegungen zur Europa-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und deren Rezeption an – eine Diskussion, die ja gerade mit den jüngsten Urteilen noch weiter an Brisanz gewinnt. Im Rahmen unserer Kooperation mit der Zeitschrift (bisher erschienen: Kommentare zu Bernd Ladwig und Oliver Flügel-Martinsen) bieten wir euch hier die PDF-Version des Artikels zum kostenlosen Download an. Unter dem Strich analysiert und kommentiert dann Alexandra Kemmerer, wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsverbundes Recht im Kontext, dann den Beitrag von Steven Schäller.

Wir freuen uns auf eine lebhafte Diskussion, die diesmal parallel hier und auf dem Verfassungsblog geführt wird. Steven Schäller wird voraussichtlich nächste Woche auf alle bis dahin eingegangenen Kommentare in einem eigenen Post reagieren. Nun aber zu Alexandras Kommentar. 

 

Baustelle Bundesstaat? 

 

Der Dresdner Politikwissenschaftler Steven Schäller hat in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Politische Theorie das vor drei Jahren ergangene Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dessen kritische Rezeption in Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur analysiert. Bei den Rezipienten, die er mit scharfen taxonomischen Schnitten klassifiziert, macht Schäller eine Leerstelle aus: es fehle an einer zustimmenden Deutung der Lissabon-Entscheidung „aus der Perspektive Europas“ (S. 46). Dabei könnten die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts doch durchaus als „Ja zu einem europäischen Bundesstaat“ (S. 46) interpretiert werden. „Dieser Bundesstaat wird jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Erstens handelt es sich bei diesen Voraussetzungen um den Modus der Integration, der den normativen Anforderungen des Grundgesetzes gerecht zu werden habe. Zweitens handelt es sich bei diesen Voraussetzungen um den Status föderal ineinandergeschobener Rechtsordnungen, die unmittelbaren Einfluss auf die interinstitutionellen Kooperationsverhältnisse nehmen“ (S. 46). Eine „Verfassungstheorie des Föderalismus“ liefere die „grundlegenden Bausteine“, mit denen sich diese beiden Voraussetzungen angemessen beschreiben ließen.

 

Auf der Spur gesamteuropäischer Konstitutionalisierung

In seinem Beitrag identifiziert Schäller eine „rechtspolitisch zu lesende europafreundliche Spur, die das Bundesverfassungsgericht zum europäischen Bundesstaat legt“ (S. 53). Das Bundesverfassungsgericht sage im Lissabon-Urteil „Ja zur möglichen Option eines europäischen Bundesstaates, aber Nein zum dynamischen Integrationsprozess, sofern dieser das Ziel europäischer Bundesstaatlichkeit anstrebt“ (S. 42). In der Tat setzt Karlsruhe hier aus mitgliedsstaatlicher Perspektive einer Integrationslogik Grenzen, die den Prozess der Europäischen Einigung über Jahrzehnte vorantrieb und bestimmte. Der „Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ kann weiter vorangetrieben werden – allerdings nur bei einem Wechsel des Integrationsmodus von der Verrechtlichung zur Politisierung. Schäller deutet die integrationsskeptische Haltung des Bundesverfassungsgerichts mithin zutreffend keineswegs als europapolitischen Blockadeversuch, sondern vielmehr als Ausdruck des Respekts „vor der konstituierenden Gewalt des Volkes“ (S. 59). Mit Verweis auf die Unterscheidung von konstituierender und konstituierter Gewalt halte Karlsruhe die Frage des einheitlichen Legitimationssubjekts für die Zukunft offen.

Damit liegt Steven Schäller ganz auf der Linie des Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, der in öffentlichen Stellungnahmen immer wieder betont hat, dass ein europäischer Bundesstaat mit der bisherigen Verfassung nicht machbar sei – der Weg dahin sei aber über Artikel 146 des Grundgesetzes und die Mitwirkung des deutschen Volkes vorgezeichnet. Diese Mitwirkung ist, wie Manuel Müller gerade anschaulich dargelegt hat, einerseits in Gestalt eines Referendums möglich – diese Variante ist angesichts der Eurokrise plötzlich in aller Munde. Denkbar wäre aber auch, so Voßkuhle, eine verfassunggebende Versammlung. Wiederholt wurde darauf hingewiesen, unter anderem von Max Steinbeis und Manuel Müller, dass ein solcher Prozess der Konstitutionalisierung nicht als nationaler, sondern nur als europäischer gedacht werden könne. Interessanterweise sieht Schäller das Bundesverfassungsgericht geradezu als Agenten einer solchen gesamteuropäischen Konstitutionalisierung: „Es gibt (…) jenen Akteuren ein mächtiges Instrument in die Hand, die es schaffen, einen Artikulations-, Selbstverständigungs- und schließlich auch Konstitutionalisierungsprozess einer europäischen politischen Gemeinschaft mit dem Ziel der Bundesstaatsgründung anzustoßen.“ (S. 60)

Dies ist sicher eine treffende Beobachtung. Gleichwohl ist Steven Schällers Analyse mit einer Reihe entschiedener Einwände zu begegnen. Die sind mehr als nur Glasperlenspiele, denn der methodische und konzeptionelle Zugriff des Autors hat erheblichen Einfluss darauf, wie die europäische föderale Ordnung aussehen könnte (und sollte), die er vom Bundesverfassungsgericht in dessen Lissabon-Entscheidung als Möglichkeit eröffnet sieht.

 

Föderalismustheorie im Eigenbau: Urteilsexegese als / statt Theorie

„Drawing on federal theory does not mean that you are campaigning for a federal Europe.“ Daniel Halberstam, Europarechtler an der University of Michigan Law School, brachte es auf den Punkt, als er am vergangenen Wochenende in Paris ein natürlich von der Finanzkrise dominiertes Panel zur Lage Europas zwanzig Jahre nach Maastricht moderierte. Vor allem aber ist federal theory nicht gleich Föderalismustheorie – und eine „Verfassungstheorie des Föderalismus“ ist, wie ich bei Steven Schäller gelernt habe, noch einmal etwas ganz anderes.

Es ist, methodisch, einigermaßen erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit der Autor hier Föderalismustheorie nicht als Instrument zur kritischen Reflexion der Verfassungsrechtsprechung verwendet, sondern umgekehrt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Föderalismustheorie sui generis (re-)konstruiert. „Verfassungstheorie des Föderalismus“ (S. 42) nennt sich das dann. Nicht immer ganz klar wird in Schällers Ausführungen die Bedeutung des Begriffs „Bausteine“ bzw. „Theoriebausteine“. Um Begriffe und Konzepte geht es hier offenkundig nicht, eher um zentrale Fragestellungen, betreffend den „Modus der Integration“ und den „Status ineinandergeschobener Rechtsordnungen“. Überraschend ist es auch, historisch versierte, rechtsvergleichend kompetente und theoretisch beschlagene Föderalismusforscher wie Christoph Schönberger und Olivier Beaud dem Vorwurf eines Hangs zu Funktionalismen ausgesetzt zu sehen. Der Autor will es besser machen: „Eine Verfassungstheorie des Föderalismus versucht, solche Funktionalismen zu vermeiden. Sie bietet kein geschlossenes Theoriegebäude, weil sie sich rekonstruktiv aus der sich regelmäßig fortschreibenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts speist.“(S. 47)

Politische Theorie, die sich regelmäßig aus den Quellen des (verfassungsgerichtlichen) Heils speist, finde ich normativ nicht unproblematisch – und methodisch einigermaßen absurd. Klar, das kann man so machen, und gewiss erhält man auf diesem Wege auch ein „reichhaltiges Reservoir an konstitutionellen Ordnungsideen“ (S. 47). Doch dass hier ausgerechnet ein Politikwissenschaftler in einer Zeitschrift für Politische Theorie jenes Phänomen affirmiert und gleichsam ins Extrem treibt, das Bernhard Schlink schon 1989 als „Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit“ beschrieben hat – das scheint mir bemerkenswert.

 

Wand an Wand: Getrennte und verbundene Verfassungsräume

Während er einen „europäischen Verfassungsraum“ als existent voraussetzt (S. 56), betont Schäller, dass die europäische Rechtsordnung „noch nicht als eigenständiger Verfassungsraum begriffen werden“ könne (ibid.). Hier verstrickt sich Schäller in ein Problem, das sich aus seinem vereinfachenden Rückgriff auf die vom Bundesverfassungsgericht im Blick auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern entwickelte „Theorie getrennter Verfassungsräume“ ergibt. Er konstruiert ein Nebeneinander von nationalem und von diesem geschiedenem (aus seiner Sicht noch nicht existentem) supranationalem Verfassungsraum, das auf einer fehlerhaften Gleichsetzung von Autonomie mit Abgeschlossenheit aufruht. Zwischen nationalem und supranationalem Verfassungsraum wird eine imaginäre Wand eingezogen, die fein säuberlich ein „Diesseits“ vom „Jenseits“ des Staates trennt, statt der Realität eines europäischen Verfassungsraums Rechnung zu tragen, der den Nationalstaat transzendiert – und den Schäller, wie schon gesagt, in seinen Ausführungen an anderer Stelle selbst voraussetzt. Zu Recht: Autonome Rechtsordnungen mit kompetitiven Geltungsansprüchen können auch in einem gemeinsamen Verfassungsraum koexistieren.

Mit seiner affirmativen Übernahme des von Stefan Haack entwickelten Begriffs der Verbandssouveränität bringt Steven Schäller sich selbst (und die europäischen Bürger) jedoch in eine ausweglose Verfassungslage, aus der sich nur noch mit dem revolutionären Befreiungsschlag eines constitutional moment entkommen lässt. Für Haack ist – so zitiert ihn Schäller – die Souveränität eines politischen Verbandes die gemeinsam ausgeübte „Fähigkeit zur Begründung einer unabhängigen und letztverbindlichen Ordnungsstruktur“. Karlsruhe versteht Souveränität weniger hermetisch: In dem Begriff souveräner Staatlichkeit, den das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung entwickelt, ist von „Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung“ die Rede (BVErfGE 123, 267 [346]). Das europäische Haus ist keine Eigenheimsiedlung, sondern in mancher Hinsicht eher eine WG: In einem Europa, in einer Welt offener Staatlichkeit verwirklicht sich individuelle und kollektive Autonomie gerade in gegenseitigen Abhängigkeiten und permanenten Aushandlungsprozessen.

 

Autonomie und Abstandsgebot: Legitimationssubjekt ohne Homogenitätsfiktion

In seinen Ausführungen zum Legitimationssubjekt erwähnt Steven Schäller zwar gelegentlich auch die Bürger, letztlich ist es aber doch immer ein einheitsstiftendes „Bundesvolk“, das demokratische Legitimation vermittelt und begründet. Wenn man das Lissabon-Urteil tatsächlich – wie Schäller dies bekundet – als Teil einer Konversation zwischen EuGH und BVerfG verstehen will und die Rechtsprechung des EuGH zur Unionsbürgerschaft und zur Gewaltengliederung ernst nimmt, dann sprechen gute Gründe dafür, demokratische Legitimation im europäischen Verfassungsraum vom Einzelnen her zu denken und, mit Jürgen Habermas und Armin von Bogdandy, „nur die Individuen, die Staats- und Unionsbürger sind, als die einzigen Legitimationssubjekte zu konzipieren.“ (A. von Bogdandy, Grundprinzipien, in v. Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2009, S. 13 [62]). Dazu habe ich andernorts ausführlicher geschrieben.

 

Out of the Box: Permeabilität und Transzendenz

Mattias Wendel hat unter dem Leitbegriff der Permeabilität die verfassungsrechtlichen  Grundlagen der wechselseitigen Durchlässigkeit des staatlichen und supranationalen Rechts in der Europäischen Union erarbeitet („Permeabiliät im europäischen Verfassungsrecht: Verfassungsrechtliche Integrationsnormen auf Staats- und Unionsebene im Vergleich“, 2011). Ein Blick auf die Deutungsfolie, die Wendel entfaltet, scheint mir geeignet, in eine kontroverse Diskussion der von Steven Schäller entwickelten Thesen einzutreten. Wendel schreibt: „Das Unionsrecht ist (…) in seinem Zuschnitt gerade mehr als die bloße Summe kumulativ abgetretener und zusammengefügter Stücke nationaler Hoheitsgewalt. Die Forderung nach einer (normgenetischen) Ableitung des Unionsrechts aus dem nationalen Recht geht damit bereits im Ansatz an der staatentranszendierenden Eigenart und strukturellen Verschiedenheit des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht vorbei und offenbart eine gänzlich fehlgehende Annahme der Strukturgleichheit beider Ebenen. Das Unionsrecht kann durch die Brille einer nationalen Verfassung, ja selbst aus der Additionsperspektive aller staatlichen Innenräume (…) nur unvollständig und verzerrt wahrgenommen werden.“ (S. 23) Zu Recht betont Wendel den „heuristischen Mehrwert einer pluralistischen Grundannahme“: „Eine nicht-hierarchische Relation fängt (…) treffend die dem europäischen Rechtsraum eigene Schwebelage ein, welche sich in institutioneller Hinsicht vor allem durch das Fehlen eines einheitlichen Letztentscheidungsorgans artikuliert.“ (S. 23)

Diese Schwebelage hat die Richterin des Bundesverfassungsgerichts Susanne Baer vor wenigen Tagen vor europäischen und amerikanischen Juristen mit dem Bild eines Mobiles beschrieben, dessen Elemente sich in verschiedenen, stets wechselnden Konstellationen der Über- und Unterordnung und der wechselseitigen Relation im Raum bewegen. Der statische föderalismustheoretische Baukasten Schällers scheint mir hingegen wenig geeignet, die gegenwärtige Entwicklung von Recht und Politik Europas, den „dynamischen und vielgestaltigen Prozess der Integration im Rahmen der Europäischen Union“ (BVerfG, Urt. vom 19. Juni 2012, Rn.102) abzubilden – und zu verstehen.

 

Alexandra Kemmerer ist Wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsverbundes Recht im Kontext und seines Programms Rechtskulturen: Konfrontationen jenseits des Vergleichs am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

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