Blogdebatte: Warum die Frage nach der Aktualität der Ideengeschichte nicht hilfreich ist

Im Rahmen unserer Blogpost-Reihe zum Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte plädiert Ieva Höhne dafür, Theoriebildung und historische Quellenforschung weitgehend getrennt zu betreiben – Ideengeschichte also keinem Aktualisierungsimperativ zu unterwerfen.

Die Ermutigung des Redaktionsteams aufnehmend, die Überlegungen zum Verhältnis von politischer Theorie und Ideengeschichte „streitlustig“ zu präsentieren, möchte ich diesen Beitrag einem Vorbehalt gegen das „Und“ widmen. Mein Fokus gilt also der Frage, inwiefern sich die beiden „im Wege stehen“, und ich möchte diese Frage noch weiter präzisieren, indem ich im Folgenden skizziere, wie eine ungünstige Verknüpfung beider Forschungsperspektiven oder -anliegen aussieht. Diese ungünstige Verknüpfung, gegen die sich die von mir im Weiteren aufzugreifenden Wissenschaftler/-innen (Kurt Flasch, Quentin Skinner, Bernard Williams, Xinzhi Zhao) aussprechen, heißt Aktualisierung; daher unternehme ich im Folgenden Aktualisierungskritik. Es ist eine Kritik, die das Verhältnis der politischen Theorie und Ideengeschichte von der Warte der letzteren aus betrachtet; allerdings lässt sich argumentieren, dass ein geschichtswissenschaftlich nicht vertretbarer Umgang mit ideengeschichtlichem Material auch systematisch keinen Vorteil verschafft. 

Bereits 1969 äußerte Skinner den vielleicht paradox anmutenden Gedanken, dass die Relevanz historischer Texte in ihrer Fremdheit liege. Dezidiert plädierte Skinner für „refusing the vulgar demand for relevance“ (1988: 288), wenn die Relevanz als Suche nach dem theoretisch Vertrauten verstanden wird. Die Vertrautheit sei ein trügerischer Eindruck, der die Theoretiker/-innen gegen die Erkenntnis der radikalen Differenz und unausschöpfbaren Varianz politischer Überzeugungen verschließe; sowie gegen die ernüchternde Einsicht, dass „we must learn to do our own thinking for ourselves“ (1969: 52). Was zuerst nach der Entmutigung klingt, dass aus der Ideengeschichtsschreibung politiktheoretisch nichts mitzunehmen sei, erschließt sich durch Skinners Lob über den Eigenwert der Fremdheit als eine gerade gegenteilige Botschaft: Geschichte gebe uns „a lesson in self-knowledge“ (1969: 53), und zwar eine Lehre, die, so seine Überzeugung, nicht anderweitig zu erhalten sei!

Das unnachgiebige Anderssein vergangener Texte, dem man nur mittels Kontextualisierung gerecht werden könne, zeuge von dem Anderssein auch des unseren Eigenen – und dies bringe die Einsicht über die Kontingenz und Flüchtigkeit dessen nahe, was uns bisher konstant bzw. zeitlos (weil natürlich und/oder wesentlich) erschien. Die Befremdlichkeit der Begegnung mit Vergangenem öffne die Möglichkeit, sich auch des ideologisch Internalisierten zu entfremden – insofern, als einem/einer die Distanz zwischen Wahrheit und Evidenz bewusst wird: indem man erfährt, wie gewisse Aussagen, die, aus der eigenen und in dem gegenwärtigen Kontext generalisierbaren Perspektive betrachtet, offensichtlich unwahr sind, in geschichtlichen Kontexten jedoch für evident gehalten wurden, und indem man sich anschließend fragt, ob es ausgeschlossen werden kann, dass es sich mit den eigenen Überzeugungen genauso verhält. Die selbstkritische Erweiterung des Denkbaren setze aber voraus, dass das Alte weder aus Vorurteil von vornherein ausrangiert noch im gutgemeinten Gestus der Aneignung einverleibt werde: denn gerade das Überkommensein mache das Studium der Ideengeschichte nicht überflüssig, sondern relevant. 

Ist Skinners Plädoyer für die Fremdheitserfahrung mittlerweile bereits selbst Ideengeschichte, artikuliert Zhao jüngst eine verwandte Einsicht, die sie bemerkenswerterweise aus ihrer eigenen Erfahrung ideengeschichtlichen Studiums herausarbeitet: dass nämlich Kontextualisierung und nicht aktualisierende Systematisierung oft die einzige Möglichkeit eines hermeneutischen Verständnisses darstelle (2022: 28). Anders gesagt, eröffnet die Rekonstruktion der gesellschaftspolitischen, ideologischen Perspektivität die Möglichkeit, sich überholt wirkende Äußerungen als sinnhaltig zu erschließen. Es sei stets der situationelle, nicht der abstrakte oder sogar vermeintlich universelle Kontext, vor dem der theoretische Gehalt zur Geltung kommen könne: Rationalität sei wesentlich kontextuell. Diachrone wie kulturelle Abstände seien also nicht nur kein Hindernis des Verständnisses, sondern, im Gegenteil, eine Chance, das eigene Konzept von rationalem Denken und Handeln zu pluralisieren (2022: 24, 35).   

Dass ich mit dieser Aktualisierungskritik keine offenen Türen einrenne, erkennt man daran, wie in deutschsprachigen Debatten die Sinnhaftigkeit ideengeschichtlicher Forschung seitens politischer Theorie gerechtfertigt wird. 2006 und 2016 hat sich etwa prominenterweise Herfried Münkler (in der letzteren Publikation zusammen mit Grit Straßenberger, Vincent Rzepka und Felix Wassermann) dafür ausgesprochen, politische Ideengeschichte als „Laboratorium“ der Politikwissenschaft zu betrachten, in dem „Lösungen und Heilmittel für neu aufgetretene oder auch nur neu erkannte Probleme gefunden werden“ sollten (2006: 103). Es sei „die Bewährung im Laboratorium“, die „die weitere Pflege und Ausgestaltung des Archivs“ rechtfertige (2006: 104). 

Einerseits ist in dieser Haltung ein klares Bewußtsein dafür zu erkennen, was Barbara Stollberg-Rilinger „Unhintergehbarkeit der […] eigenen Perspektive“ nennt (2010: 19). Dass die Standortgebundenheit jedoch umso mehr für das wissenschaftliche bzw. theoretische Material gilt, das man vom Archiv ins Laboratorium hinüberträgt – dem scheint mir der Vorschlag einer solchen Handhabung ideengeschichtlichen Materials andererseits nicht gleichwertig gerecht zu werden. Wie Kurt Flasch mit einem Schuss Ironie betont, seien die Denker/-innen „so inkohärent […] nämlich auch wieder nicht, dass sie sich einzelne Theoriestücke entreißen ließen, die dann einen ganz anderen, nämlich den heutigen Fragestand beleuchten könnten“ (2003: 76). Auch wenn Münkler et al. wiederum im Einvernehmen mit Skinners Kritik von der unreflektierten Erwartung, in den Quellen die gleichen theoretischen Fragen und womöglich besseren Antworten zu finden (1969: 52), weit entfernt sind – „[n]icht die fertigen Antworten, sondern das Weglassen und Hervorheben von Aspekten bei ihrer Entwicklung“ (2016: 16) seien die Grundlage der „intellektuelle[n] Attraktivität“ ideengeschichtlichen Materials –, machen sie m. E. eine Sicht auf die politische Ideengeschichte stark, die diese einem funktionalistischen Imperativ unterwirft.

Das Plädoyer für eine starke sozialwissenschaftliche Stellung politischer Ideengeschichte setzt mit der Erwartung an, dass sich die letztere gewinnbringend erweise in der Leistung, die Politikwissenschaft der Politik gegenüber im besten Falle erbringe, und zwar, „über unmittelbare Ursache-Wirkung-Relationen […] hinaus die langen Wirkungszeiträume politischen Handelns und gesellschaftlicher Leitideen in den Blick [zu] nehmen“ – der Leitideen, deren „Brauchbarkeit […] vor ihrer realen Umsetzung intellektuell getestet werden kann“ (2016: 15). Wenn das „Und“ zwischen politischer Theorie und Ideengeschichte nur so zu verteidigen wäre, dass der ideengeschichtliche „Schatz“ zum „Mehrwert“ umgemünzt wird (2016: 15), dann wäre politische Ideengeschichte wohl besser ohne ein „Und“ und jedenfalls in einem weniger instrumentellen Verständnis davon aufgehoben, was einen Schatz zu einem Schatz macht und was in einem Archiv gelernt werden kann.  

Eine solche Verständnismöglichkeit, die ich, an die Überlegungen Skinners und Zhaos anschließend, nun mit weiteren Aktualisierungskritikern vertiefen möchte, argumentiert, dass eine aktualisierende Verwertung der Ideengeschichte sie jenen Mehrwertes, jenen Lerneffektes bar mache, den sie durchaus ermöglichen könne: Wenn Münkler et al. festhalten, dass, „[u]m diesen Mehrwert zu realisieren, […] die politische Ideengeschichte nicht in die Falle der Historizität gehen [darf]“ (2016: 16), dann zeigen die folgenden Autoren genau das Gegenteil. 

In seinem posthum erschienenen Sammelband spricht sich Williams gegen das Ideal einer Mischung aus Ideengeschichte und Philosophie aus, weil es der Ignoranz wirkungsgeschichtlichen Aspektes aufsitze (2006: 257f.). Sein Argument ist erfrischend einfach: Aktualisieren („putting the philosophy of the past to use in present terms“) heiße die Geschichtlichkeit negieren; die Geschichtlichkeit, in der das zu aktualisierende Werk eine tatsächliche Wirkung – einen Einfluss – entfaltet habe. Während die Einflussforschung der Kategorie der Aktualität nicht bedürftig sei, würden sich die Aktualisierungsversuche in einen Widerspruch verfangen, das ideengeschichtliche Material ihrer Historizität zugleich entheben zu wollen und sie aber behaupten zu müssen: „If one abstracts entirely from their history – including in this both the history of their context and the history of their influence – one has an obvious problem of what object one is even supposed to be considering.“ (2006: 258) Das Anderssein, um dessen Willen der Rückgriff auf historische Quellen im Rahmen ideengeschichtlicher Forschung überhaupt unternommen wird, gehe in der Bemühung, die Aktualität einer historischen Perspektive zu erweisen, abhanden, denn ihre Relevanz – gleich wer an der Relevanz interessiert sei – komme nur in und als historische Identität zur Geltung. Was sich Williams von der Beschäftigung mit Ideengeschichte verspricht ist, wie auch im Fall Skinners, ein sensibleres Eigenbewusstsein, das über das allzu vertraute Eigene zu staunen lerne (2006: 259).  

Entsprechend scharf urteilt auch Flasch: Dadurch, dass die Aktualisierung „die geschichtliche Andersheit und Totalität eines gewesenen Denkens nivelliert“, „macht sie den historischen Rückgriff, den sie als Rettung aus Gegenwartsnot darstellt, überflüssig: Wer die Lösung weiß, soll sie entwickeln; dazu braucht er keinen historischen Rückblick“ (2003: 76).  

Man könnte hier einwenden: Ist ideengeschichtliche Forschung wirklich so sehr unvereinbar mit der Neigung, „von alten Büchern noch etwas Lebenswichtiges zu erwarten?“ (2003: 67). Das zu behaupten ist nicht im geringsten Flaschs Absicht und sogar im Gegenteil fordert er die Lesenden zum Folgenden heraus: „Man muss, wie bei aller Philosophie, Fragen stellen. Man muss Probleme haben, […] man muss noch in Bewegung sein, man muss entdecken wollen“ (2003: 67). Die Neugier und Bereitschaft, zu lernen, sei allerdings aus seiner Sicht mit einem Verwertungshang nicht vereinbar. 

Nun, where does this leave us hinsichtlich der Frage der „getrennten Wege“? Für jene, die es nicht bei der Herausarbeitung der Historizität ideengeschichtlicher Texte belassen wollen, kann man mit Flasch folgende zwei prinzipielle Aussichten gelten lassen, wie aus historischen Texten für die Gegenwart gelernt werden kann, ohne dem problematischen Aktualisierungs-„Und“ aufzusitzen. 

Zum einen spricht Flasch von ,,produktiven Entstellungen“ (2003: 77), die ich als eine Art freier assoziativer Synthese verstehe: eine Bezügeproduktion, die sich von einem systematischen Interesse speist, die sich ihrer anachronistischen Aneignung bewusst ist und sich einer Aktualisierungsaktion deswegen nicht nähert, weil sie keinen Anspruch darauf erhebt, wie Flasch sagt, ,,stofflich historisch“ zu denken (2003: 77); die die Vorstellung eines Quelle-Leser/-in-Dialogs also zugunsten eines Selbstgesprächs aufgibt, das seine Anregungsquellen intertextuell gleichschaltet oder unkonventionell rangiert und in einzigartigen Konstellationen zusammenfügt. Ein solches De- und Arrangement, dessen kreativer Überschuss nicht über das Potenzial hinwegsehen lassen darf, zur Lösung existenziell dringlicher und politiktheoretisch anspruchsvoller Probleme beizutragen, bedarf m. E. im Grunde keiner ausgefeilteren Rechtfertigung als E. D. Hirschs Argument, niemand könne behaupten, dass ein Text eine bestimmte Bedeutung nicht habe, wenn jemand diese Bedeutung erkannt habe (1972: 247). Allerdings würde ich Flasch zustimmen, wenn er das „produktive Entstellen“ für „kein historisches Programm“ hält, das fremdes Denken als fremd anerkenne und es fremd vor sich stehen lasse (2003: 78). 

Eine andere Perspektive, die Flasch jenen mitgibt, die sich mit dem Verwertungsimperativ konfrontiert sehen, ist, eine offene Rückfrage zu stellen und ihr nachzugehen – die Frage nämlich, was die Attraktivität der Aktualisierung über die Gegenwartsbedürfnisse aussage, welche Funktionen die historischen Bezüge in unserer Gegenwart ausüben würden, „warum“, kurz gesagt, „überhaupt nach ihnen gefragt wird“ (2003: 79). Auch hier sei wie bei Skinner von der Ideengeschichte zu lernen, sich selbst infrage zu stellen und des Geschichtsbezugs des Denkens im Konkreten innezuwerden (2003: 79).  

Wohlgemerkt werden in beiden Strategien jeweils „getrennte Wege“ bzw. nur einer der Wege gegangen − Theorie und Ideengeschichte bleiben jeweils für sich. Einer solchen Sicht stehen andere, hier nicht berücksichtigte Vorstellungen entgegen, die von einer radikalen Nicht-Trennbarkeit ausgehen (wie z. B. von Mark Bevir, Donald Davidson, Paul Oskar Kristeller, Jonathan Rée, Richard Rorty, Pirmin Stekeler-Weithofer, Morton White), oder aber jene, die die Unterscheidbarkeit von distanziertem (ideengeschichtlichem) und involviertem (problemorientierten) Verstehen voraussetzen und sich aber bewusst für eine vermittelnde Position entscheiden (wie z. B. von Adrian Blau, Andreas Dorschel, Dominick LaCapra, Martyn P. Thompson, Yves Charles Zarka). Zum Schluss darf daher unterstrichen werden, dass nicht jeder Versuch eines ‚Und‘ − oder, vielleicht besser gesagt, eines ,Mit‘ − in einem gleichen Funktionalismus endet. Dass konkret der Aktualisierungseifer jedoch zumindest kritisches Hinschauen und eine skeptische methodologische Auseinandersetzung nach sich ziehen müsste, hoffe ich mit diesem bissigen, aber gut gemeinten Beitrag wiederum plausibel gemacht zu haben.   

Ieva Höhne forscht seit 2024 am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal zur Methodologie der Philosophie- und Ideengeschichte. Ihre Promotion hat sie an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Ihre wissenschaftlichen Interessen und Kenntnisse umfassen in systematischer Hinsicht Politische Philosophie und Religionsphilosophie sowie methodologische Fragen der Kontextualisierungsforschung und in historischer Hinsicht die Frühe Neuzeit im westeuropäischen Kulturkreis. 

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