theorieblog.de | „Würde ist nicht nur ein Wort“ – Bernd Ladwigs ZPTH-Artikel in der Diskussion

22. März 2011, Schmetkamp

Wie in der letzten Woche angekündigt gibt es nun einen Kommentar zu Bernd Ladwigs Aufsatz „Menschenwürde als Grund der Menschenrechte? Eine Kritik an Kant und über Kant hinaus“, der in der ersten Ausgabe der neuen Zeitschrift für Politische Theorie (ZPTH) erschienen ist.

Angesichts der Komplexität des Textes von Bernd Ladwig ist auch der Kommentar etwas länger als der übliche Blog-Beitrag geworden. Vielleicht lohnt sich an dieser Stelle noch mal der Hinweis, dass ihr über einen Klick auf das Drucker-Symbol rechts unter der Überschrift () aller Blog-Beiträge eine für den Druck optimierte Version des Textes abrufen könnt.

Der Kommentar soll einen Auftakt für die Diskussion liefern. Bernd Ladwig wird dann im Laufe der nächsten Tage auf den Kommentar sowie auf eure hoffentlich zahlreichen Fragen und Anmerkungen reagieren. Und damit zum Text:

Susanne Schmetkamp: Würde ist nicht nur ein Wort

Als Mensch ein würdevolles Leben zu führen heißt, ein Leben in Selbstachtung zu führen. Selbstachtung und Würde sind in dieser Hinsicht normativ miteinander verbunden. Konstituiert werden sie durch die Achtung, die Menschen anderen Menschen oder Lebewesen entgegenbringen sollen. Achtung ist die dabei normative Bedingung der Selbstachtung. Doch Achtung meint nicht eine Form der Hochachtung oder anerkennenden Wertschätzung, die man jemandem aufgrund empirischer partikularer Eigenschaften, Fähigkeiten oder Leistungen entgegenbringt; sondern sie bedeutet ein basales normatives Prinzip, das dem moralischen Handeln und der Haltung gegenüber dem moralischen Status des anderen überhaupt zugrunde liegt: eine grundlegende Einstellung der Rücksicht. Und nur wer sich auf der Adressatenseite des moralischen Handelns in dieser Weise als vollwertiges Mitglied der moralischen Gemeinschaft anerkannt und ernst genommen fühlt (oder gute Gründe hätte, sich als solches zu erfahren), nimmt sich selbst wahr als ge- und beachtetes Wesen, dessen Recht, ein würdevolles Leben führen zu können, zählt.

Man sieht schon anhand dieser kurzen, thesenartigen Aufstellung, wie komplex das Verhältnis zwischen Würde, Selbstachtung und Achtung ist. Dass dies nicht nur konzeptuelle und konzeptionelle Fragen evoziert, zeigt sich an Fällen, in denen genau dies nicht gewährleistet ist und die deshalb immer wieder die Debatte um Menschenrechte und ihre Begründung auf den Plan rufen, Fälle, in denen Lebewesen nicht als Mitglieder der moralischen Gemeinschaft zählen (vgl. Margalit, Avishai, 1999: Politik der Würde, Frankfurt am Main: Campus): Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Folter ebenso wie Hunger und Armut sind grundlegende Verletzungen, die durch die Menschenrechte verhindert werden sollten. Diese sind erklärt worden, „da“, wie es in der Präambel der UN-Menschenrechtscharta heißt, „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.

Nun stellt Bernd Ladwig in seinem so beeindruckend kenntnisreichen wie dichten Artikel „Menschenwürde als Grund der Menschenrechte?“ zu Recht die dringende Frage, was bei den Menschenrechten eigentlich geschützt respektive verletzt wird: Würde oder Interessen, wie etwa das Interesse, keine Schmerzen zu leiden? Und warum überhaupt haben wir als Menschen diese Rechte, die dies – Würde oder grundlegende Bedürfnisse – schützen, und aus welchen Gründen sollten Menschen einsehen, sie zu bewahren? Ladwig wendet sich hier gegen das dominierende Konzept der Menschenwürde als menschenrechtsbegründend. „Würde“ sei zwar ein wichtiger Begriff, der den moralischen Status des Menschen bezeichne. Für eine Begründung der Menschenrechte tauge er aber nicht. Denn er erfülle nicht die Bedingungen der Allgemeinheit und Gleichheit: Würde (nach Kantischer Lesart) tragen nicht alle Lebewesen, nicht einmal alle menschlichen Lebewesen. Und sie tragen sie nicht alle gleichermaßen. Ladwig schlägt dagegen eine Begründung der Menschenrechte auf der Grundlage einer interessenorientierten Konzeption vor.

Angesichts der hohen Komplexität des Textes kann an dieser Stelle nicht mehr als nur ein ausschnitthafter Kommentar angeboten werden. Im Mittelpunkt werden der Begriff der Würde und die Moral der Achtung stehen. Mein Alternativvorschlag gegen Ladwigs Entwurf lautet: Wir brauchen einen multikriteriellen Ansatz, der a) die Verzahnung zwischen Interessen, Würde, Autonomie und Selbstachtung verdeutlicht, b) das Konzept der Kantischen moralischen Achtung stärker macht und c) die Bedeutung darüber hinausgehender partikularer Rücksichtnahme und Anerkennung hervorhebt. Aufgeben sollten wir das Konzept der Würde aber nicht.

Vorab möchte ich einige dieser und darüber hinausgehender Diskussionspunkte nennen, die zur weiteren Debatte Anregungen geben könnten:

  • Bei einer Begründung der Menschenrechte über die menschliche Würde nach Kant gilt es, sauber zwischen dem moralischen Akteur und dem Adressaten moralischen Handelns zu unterscheiden – das lässt der Artikel vermissen, die beiden Gruppen werden vermengt.
  • Es muss zwischen empirischen und überempirischen Kriterien unterschieden werden: nicht, ob jemand tatsächlich vernünftig ist, ist relevant für die Zuschreibung von Würde, sondern sein Anspruch, in seinem moralischen Status anerkannt zu werden.
  • Ferner ist zwischen der basalen und universellen moralischen Achtung und einer partikularen Hochachtung und Wertschätzung zu differenzieren.
  • Kants Konzeption ist wegen seines Monismus und Rigorismus zu Recht zu hinterfragen. „Würde“ ist aber mehr als nur ein rhetorischer Kniff.
  • Eine Begründung der Menschenrechte allein über die Bedürftigkeit ist ebenso wenig plausibel wie eine Begründung der Menschenrechte bloß über den Würdebegriff.
  • Bezüglich der moralischen Dilemmata im praktischen und vor allem politischen Leben (Beispiel: Verrechnung Leben gegen Leben) vertritt Ladwig gegen einen praxisuntauglichen und rigoristischen Absolutismus eine Abwägungsmoral (65 ff.). Hier ist aber zwischen einem „absoluten Wert“ und einer „absoluten Achtung“ zu unterscheiden.

Würde und Achtung
Eine bis heute verbreitete Position der Begründung der Menschenrechte ist jene im Anschluss an Kant: Dem Menschen stehen Rechte zu, weil er eine Würde hat (vgl. Ladwig, 51 (im Folgenden werden nur die Seitenzahlen angegeben)). Diese Würde bestimmt seinen moralischen Status, zu dessen Schutz er ein Recht hat, dessen Achtung ihm geschuldet ist.

Würde meint, dass jemand einen intrinsischen Wert – kein Preis, kein Äquivalent, wie es bei Kant heißt (AA IV, 434) – verkörpert. Würde meint, dass jemand dem Vermögen nach sich selbst bestimmen, seine Zwecke selbst setzen kann: autonom ist. Negativ gewendet meint das, dass er/sie nicht Opfer seiner bloßen Neigungen und nicht der Willkür und bloßen Instrumentalisierung durch andere ausgesetzt ist oder sein darf. Akteursbezogen meint das außerdem, dass Würde die moralische Einsicht impliziert, auch andere Wesen zu achten. Eingesehen wird dies, so Kant, qua Vernunft, welche das moralische Gesetz in sich vorfindet, welches wiederum – ganz grob wiedergegeben – das besondere „selbstgewirkte“ Gefühl der moralischen Achtung hervorruft. Dieses Gefühl wird wiederum dem moralischen Gesetz und der menschlichem Fähigkeit, danach zu handeln, entgegengebracht. Die Achtung wird zur Triebfeder des moralischen Handelns (vgl. Köhl, Harald, 1990: Kants Gesinnungsethik, Berlin/New York: De Gruyter, 115 ff.).

Hierbei (vor allem wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert ist) handelt es sich um die nomologische Seite der Achtung: Gegenstand der Achtung ist das moralische Gesetz: „Alle Achtung für eine Person“, so schreibt Kant, „ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.), wovon jene uns das Beispiel giebt“ (Kant, AA IV, 401). Die moralisch handelnde Person gibt ein Beispiel ab für die Achtung für das Gesetz. Indem sie danach handelt, erweist sie sich als autonom. Später, in der Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs, erweitertet Kant die Achtung um ihre personale Komponente: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Kant, AA IV, 429). Die Achtung ist der eigenen Person und dem anderen geschuldet und fordert, sich selbst und den anderen als Zweck an sich anzuerkennen und nicht als Tauschwert zu betrachten und bloß zu instrumentalisieren.

Ladwig hat Recht, wenn er kritisiert, dass dabei aber nur die vernünftige Person gemeint ist, die eben das Beispiel für das moralische Gesetz, das man qua Vernunft in sich vorfindet, abgibt: Wenn wir Personen achten, achten wir ihre Autonomie und ihren Anspruch, frei von Willkür und Neigungen, vernünftig moralisch zu handeln (vgl. Köhl, a.a.O., 142). Demnach sieht es so aus, als ob die Adressaten der Selbstzweckformal tatsächlich nur vernünftige Wesen sind. „Nur wer als Vernunftwesen sich selbst das (Sitten-)Gesetz geben kann, hat einen direkten moralischen Status.“ (54)

Akteure und Adressaten
Es ist aber sinnvoll – mit oder über Kant hinaus, je nachdem wie weit man die Interpretation treiben will – zwischen moralischen Akteuren und Adressaten schärfer zu unterscheiden als Ladwig dies tut. Wer einsehen soll, dass moralisches Handeln geschuldet und Menschenrechte begründet sind, der muss zu den moralischen Akteuren gehören: der weiß und versteht, warum andere Menschen oder Lebewesen ein Recht auf moralische und Menschen-Rechte haben. Ohne diese Zurechnungsfähigkeit, so schreibt Ladwig, „wäre Moral nicht möglich“ (53). Die Gruppe der Adressaten ist indes größer, zu ihnen gehören auch Lebewesen – Menschen, Tiere, die Natur –, die selbst möglicherweise nicht moralische Akteure sind (Kleinkinder, die noch keine Begriff davon haben; Tote, die keinen Begriff mehr davon haben sowie geistig schwer behinderte Menschen, die womöglich nie einen Begriff davon hatten und haben werden, was Moral und Vernunft sind, sind nicht selbst als moralische Akteure zu bezeichnen; auch sind Tiere nicht selbst moralische Akteure.).

Aber sie alle sind schutzbedürftig und Adressaten moralischer Rücksicht. Adressaten sind diejenigen, die von dem moralischen Handeln anderer profitieren bzw. Schaden davontragen. Sie haben einen moralischen Status, indem sie von einem Second-Person-Standpoint aus berechtigte Ansprüche stellen (vgl. Darwall, Stephen, 2006: The Second-Person-Standpoint, Harvard: UP). Darwall setzt den moralischen Status mit dem Würdestatus und einer „normative authority“ gleich (eine ähnliche Position vertritt auch Peter Schaber). Dies ist ein von Kant beeinflusster, diesen aber aktualisierender Ansatz. Die darin vertretene Achtungskonzeption („Recognition Respect“) ist mit einem Universalismus verbunden. Zugegeben, er ist auf Menschen beschränkt; tatsächlich glaube ich, dass wir Menschenrechte anders begründen können oder sollten als Tierrechte, auch wenn ich für diese ebenso plädieren möchte.

Aber wie können wir den Anspruch von Menschen begründen? Der moralische Status wird meines Erachtens von den Adressaten eingefordert und von den Akteuren zugeschrieben, anerkannt. Ein Tier dagegen schreibt mir keinen moralischen Status zu. Ich aber kann einem Tier einen moralischen Status zuschreiben, indem ich es als Mitglied der moralischen Gemeinschaft anerkenne, das Rechte hat – ohne dass damit Reziprozität normativ geboten wäre.

Moralfähige Menschen schreiben anderen Menschen und Lebewesen einen moralischen Status und damit einen Adressatenstatus moralischer Rechte zu, weil sie einsehen, was die notwendigen Bedingungen eines würdevollen Lebens in Selbstachtung sind – frei und autonom von Willkür sowie versorgt mit den anderen Grundlagen des würdevollen Lebens zu sein. Dies ist aber eine Einsicht, dass es nicht nur des anderen, sondern auch der eigenen Würde und Selbstachtung (der Menschheit in der eigenen Person) geschuldet ist, so zu handeln. Das scheint zu einer Denkart zu führen, die ebenfalls bei Kant zu finden ist, aber, wie Ladwig zu Recht hervorhebt, problematisch ist: Grausamkeit gegen andere nichtvernünftige Lebewesen scheint demnach nicht an sich schlecht, sondern weil wir Vernunftwesen dabei gegen unsere Selbstachtung verstoßen, indem wir uns selbst würdelos verhalten. Tatsächlich – und hier bin ich mit Ladwig d`accord – liegt hier die Krux der Kantischen Konzeption. Hier haben wir es mit einem problematischen Anthropozentrismus zu tun, der andere nicht um ihrer selbst Willen schützt, sondern weil der Mensch es als seine moralische Selbstachtungspflicht ansieht.

Aber wie können wir anders jemanden davon abhalten, der Tiere quält und Spaß dabei hat? Der also gerade Gefallen an der Grausamkeit hat und gar nicht einsieht, warum es nicht sein sollte? Wie können wir jemanden überzeugen, dass die Interessen anderer Menschen zählen, die nach Kant nicht in die Klasse der vernünftigen, moralfähigen Wesen zählen? Warum sollte er etwas gegen den Hunger anderer in der Welt tun (und damit seiner „Selbstliebe“, seinem Egoismus Abbruch tun)? Muss es nicht doch über eine Einsicht und darüber hinaus Formen der Empathie und des Mitgefühls verlaufen, welche Menschen dazu motiviert, nicht grausam zu sein, weil es einfach nicht mit dem menschlichen Würde- und Achtungskonzept zu verbinden ist? Müssen demnach, mit anderen Worten, die moralischen Akteure doch anhand einer Würdekonzeption überzeugt oder über andere „Methoden“ moralisch kultiviert werden?

Von der Achtung zur Anerkennung zum würdevollen Leben in Selbstachtung
Die Vielfalt der Interessen (vgl. 58) fordert auch eine Anerkennung der partikularen Bedürfnisse: Ein gutes Leben geht nicht allein darin auf, autonom und frei von der Willkür anderer zu leben, sondern impliziert mehr. Ebenso wenig sollte aber unsere Würdekonzeption in Autonomie und Vernunft aufgehen, sondern von Kant etwas weg hin zu einer Konzeption der „normative authority“ (vgl. Darwall, Schaber) oder einer Konzeption der „Selbstachtung durch Achtung und Anerkennung“ führen. Hier kommen die Care-, Interesse- oder Bedürfniskonzeptionen ins Spiel: Jemanden in seiner Würde und seiner Autonomie zu achten heißt auch, ihn in allen Belangen zu achten, die ihm ein Leben in Selbstachtung ermöglichen (vgl. z.B. Schaber, Peter, 2004: „Menschenwürde und Selbstachtung: Ein Vorschlag zum Verständnis der Menschenwürde“, in: Studia Philosophica). Und dies ist nur möglich, wenn jemand nicht nur frei ist von der Willkür anderer, sondern auch von anderen darin anerkannt, dass er berechtigterweise Ansprüche stellt. Das impliziert auch, dass er darin allgemein und partikular berücksichtigt wird, Bedürfnisse zu haben, demnach frei auch von anderen das gute Leben einschränkenden Hindernissen ist – wie Schmerzen, Obdachlosigkeit, Hunger etc.. Wir müssen also über die Würdekonzeption und die Konzeption der basalen Achtung, auch wenn sie die normative Grundlage bilden, noch hinausgehen und eine Ethik der Rücksichtnahme und Anerkennung von grundlegenden und partikularen Interessen und Bedürfnissen etablieren – hier kommen wir aber von einem Universalismus zu einem differenzierten Kontextualismus oder Partikularismus.

Plausibel halte ich einen multikriteriellen, mehrdimensionalen Ansatz aus Achtung und Anerkennung, Würde und Interessen, der die Achtung als moralisch basales Prinzip und das Gut der Würde und Selbstachtung als Grundlage des moralischen Handelns hervorhebt. Zugleich ist dieser aber um eine Interessenkonzeption zu erweitern, die berücksichtigt, dass Menschen nur dann ein würdevolles Leben führen können, wenn sie frei sind von der Willkür anderer und wenn sie in den Bedingungen ihres Lebens so unterstützt werden, dass es ein würdevolles und gutes Leben sein kann. Die Frage ist, wie weit die Menschenrechte hier reichen (können).


Vollständiger Link zum Artikel: https://www.theorieblog.de/index.php/2011/03/wurde-ist-nicht-nur-ein-wort-bernd-ladwigs-zpth-artikel-in-der-diskussion/