Wiedergelesen anlässlich des Todes von Hanna F. Pitkin: The Concept of Representation

Am 6. Mai 2023 ist Hanna Fenichel Pitkin, Autorin des politikwissenschaftlichen Klassikers The Concept of Representation (1967), im Alter von 91 Jahren verstorben. Das Buch gilt bis heute als das „Schlüsselwerk“ zum Repräsentationsbegriff (Buchstein 2007), bei der Beschäftigung mit Fragen der Repräsentation führt daran kein Weg vorbei. Jenseits der anerkannten Bedeutung von The Concept of Representation aber endet der Konsens. Dies ist sowohl eine Folge der dort bereits angelegten Ambiguität als auch eine Konsequenz vereindeutigender Lesarten. Anlässlich des Todes von Hanna Pitkin wirft dieser Beitrag einen Blick zurück auf das Buch und seine Rezeptionsgeschichte. Ich möchte zeigen, dass es sich lohnt, die Ambiguität von The Concept of Representation in neuen Lektüren zu erhalten, damit es weiterhin Quelle der Inspiration für die politikwissenschaftliche Repräsentationstheorie sein kann. (mehr …)

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Philosophie für das Silicon Valley: Longtermism

Wenn es in der Philosophie so etwas wie populäre Trends gibt, dann gehört der Longtermism gegenwärtig sicher zu den einflussreichsten. Longtermism beschäftigt die Frage nach der moralischen Verantwortung auf lange Sicht. Es ist ein Trend der weniger in Academia als in Podcasts, populären Büchern und privaten Stiftungen stattfindet. Im Silicon Valley erfreut er sich großer Popularität. Zuletzt ist ihm größere Aufmerksamkeit zugekommen, weil einer seiner prominentesten Förderer, der inzwischen bankrotte Krypto-Unternehmer Sam Bankman-Fried, sich als Betrüger herausgestellt hat. Einer der wichtigsten theoretischen Vertreter des Longtermism ist der Shooting Star William MacAskill, junger Assistenzprofessor für Philosophie in Oxford, zeitweise jüngster Philosophieprofessor weltweit. In seinem neuen Buch „What We Owe the Future“ möchte er die zentralen Thesen des Longtermism einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Elon Musk sieht das Buch nah an seiner eigenen Philosophie. Bill Gates nennt MacAskill einen „Data nerd after my own heart”.

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Zu Omri Boehms „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“

In der auch hierzulande zusehends hitzigen Debatte um Identitätspolitik unternimmt der Philosoph Omri Boehm den wichtigen Versuch, einerseits den Universalismus gegen den Verdacht zu verteidigen, lediglich eine Herrschaftsideologie des schon sprichwörtlichen alten, weißen Mannes zu sein, andererseits dem emanzipatorischen Gehalt der Identitätspolitik gerecht zu werden.

Boehms lesenswertes ideengeschichtlich fundiertes Plädoyer beinhaltet im Wesentlichen drei Argumentationslinien, denen im Folgenden auf den Zahn gefühlt wird.

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Natan Sznaiders Fluchtpunkte der Erinnerung und eine Ethik des Gedenkens

Die gegenwärtigen Erinnerungsdebatten sind oft zersplittert und unübersichtlich. Ausstellungen, Namensgebungen, Statuen – Diskussionen über Themen der Erinnerung gehen oft über Wochen und Monate durch die Medien. Durch eine multidimensionale Ethik des Gedenkens könnten diese Debatten in eine bessere Ordnung gebracht werden. Zu diesem Resümee kann man kommen nach der Vorstellung von Natan Sznaiders sehr lesenswertem Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ im Literaturhaus in Stuttgart am 22. Juli 2022. Es war eine bemerkenswerte Veranstaltung, moderiert von Matthias Bornuth, als Teil der Serie Schreiben in Entzauberten Zeiten, die seit Herbst 2020 läuft. (mehr …)

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Zur Metakritik des kritischen Menschenrechtsdiskurses – Lesenotiz zu Janne Mendes „Der Universalismus der Menschenrechte“

Dem Projekt der Verwirklichung der Menschenrechte werden von verschiedenen Seiten Unzulänglichkeiten vorgeworfen, an die sich verschiedene Fragen knüpfen lassen: Ist die globale Durchsetzung der Menschenrechte ein Projekt westlicher Staaten und Gesellschaften, die damit ein weiteres Mal dem globalen Süden ihre kulturellen Praxen zu oktroyieren versuchen? Gibt es eine linke und eine rechte Kritik am Menschenrechtsdiskurs, die gemeinsame Schnittmengen aufweisen, ohne doch deswegen identisch zu sein? Und schließlich: Wie könnte eine berechtigte, emanzipatorische Kritik am Menschenrechtsdiskurs von ihrem Gegenteil unterschieden werden? (mehr …)

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Leerstellen politischer Theorie. Lesenotiz zu Axel Honneths und Jacques Rancières „Unvernehmen oder Anerkennung“

Foto: Suhrkamp

Grundlage des vorliegenden Bands ist ein Gespräch zwischen Jacques Rancière und Axel Honneth, das im Juni 2009 am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main stattfand. Nach einer wechselseitigen kritischen Würdigung trafen sie in einem durch Christoph Menke moderierten Gespräch aufeinander. Dieser Kern des Bandes ist durch eine kenntnisreiche Einführung von Jean-Philippe Deranty und Katia Genel sowie die Aufsätze „Die Methode der Gleichheit“ (Rancière) und „Zwei Deutungen sozialer Missachtung“ (Honneth) eingeklammert. Die Debatte zwischen Honneth und Rancière kreist dabei grundsätzlich um Fragen hinsichtlich des Subjekts, der Identität und der Gleichheit. Hieran zeigen sich Leerstellen unterschiedlicher Art, die für die (deutsche) Politiktheorie allgemein von Interesse sein könnten, da sie Defizite hinsichtlich der Theoretisierung von Struktur, Materialität und (pluraler) Moderne(n) markieren.

Die Einführung von Deranty und Genel verortet beide Denker im erweiterten Kontext ‚kritischer Theorie‘, womit Theorieströmungen gefasst werden, die sich kritisch auf Marx beziehen und insbesondere im Kontext von Frankfurter Schule und französischer Nachkriegsphilosophie auftraten. Deranty und Genel verorten die Debatte im Gesamtwerk der Autoren und legen die grundsätzlichen Motive des Austauschs dar. Während beide theoretische Werkzeuge entwickeln, die mit dem Verständnis und der Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse befasst sind, divergieren sie mit Blick auf die theoretischen Bezüge und Antworten. Entsprechend sehen Deranty und Genel den Kern der Auseinandersetzung in der Frage, „ob die Paradigmen, die sie anführen, um die Gesellschaft zu kritisieren und ihre Weiterentwicklung sowie die Transformationen zu ergründen, die sie gerechter bzw. freier machen sollen – das Paradigma der Anerkennung und das des Unvernehmens –, miteinander konkurrieren, sich wechselseitig ausschließen oder vereinbar sind“ (7). (mehr …)

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Der Glaube im Nachlass. John Rawls posthum

Lesenotiz zu John Rawls: Über Sünde, Glaube und Religion. Mit Kommentaren von Joshua Cohen, Thomas Nagel und Robert Merrihew Adams. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Schwark. Suhrkamp, Berlin 2010. 344 S.

 

„Meine Religion ist allein für mich von Interesse,“ Mit diesen Worten beginnt der Text Über meine Religion, den man im Computer des im November 2002 verstorbenen John Rawls fand (S. 301–312). Die wenigen Seiten waren, ebenso wie Rawls Bachelorarbeit zum Thema: Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube: Eine Auslegung anhand des Begriffs der Gemeinschaft von 1942, die im Nachlass und in der Harvard-Bibliothek ruhte, nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Trotzdem wurden beide Texte 2009 publiziert und erschienen 2010 erstmals übersetzt und eskortiert von erläuternden und kommentierenden Beiträgen von Joshua Cohen, Thomas Nagel, Robert Merrihew Adams und Jürgen Habermas, die fast die Hälfte der Edition ausmachen Die Beratungen der Nachlassverwalter, darunter Rawls Witwe, Margaret Rawls, über die Frage, ob eine Veröffentlichung überhaupt berechtigt sei, haben sich lange hingezogen, zumal infrage stand, ob eine Publikation dem Ansehen des Philosophen schaden könnte. Für das Werk eines als säkular wahrgenommenen Philosophen sind posthum ans Licht gebrachte Aussagen zur eigenen Religion eine heikle Angelegenheit, zumal dann, wenn der Autor viel darüber nachgedacht hat, wie politische Legitimität in durch religiöse Konflikte geprägten Gesellschaften erreicht werden kann.

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Politische Theorie der postneoliberalen Wirtschaftsordnung – Lesenotiz zu Joscha Wullwebers „Zentralbankkapitalismus“

Die jüngsten Transformationen des finanzialisierten Kapitalismus lassen sich schwer auf einen Begriff bringen. Die Schaffung, Verbreitung und Verselbstständigung neuartiger Finanzinstrumente seit den 1980er-Jahren begünstigten die Entkopplung der Kapital- und Kredit- von der realen Produktionswirtschaft. Weil der Deregulierungswille mittlerweile jedoch merklich abgenommen hat und sich selbst treueste Anhänger von ihrer früheren Liberalisierungseuphorie distanzieren, und weil gleichzeitig Staaten- und internationale Regulierungsbehörden ihr Verhalten ändern, ist eine Diskussion um das neue Antlitz des zeitgenössischen Kapitalismus entbrannt. Lange Zeit mussten terminologische, mit dem Präfix „Post-“ versehene Hilfskonstruktionen – sei es im Sinne eines Post-Fordismus oder Post-Neoliberalismus – als Ersatzbestimmungen herhalten. Mit seiner Habilitationsschrift, die nun bei Suhrkamp erschienen ist, wagt Joscha Wullweber den ambitionierten Versuch einer solchen Bestimmung. Er legt eine elegante Zeitdiagnose vor, die Politische Ökonomie auf einem soliden politik- und gesellschaftstheoretischen Fundament betreiben möchte. Dieses Unterfangen ist äußerst ertragreich und wirft weiterführende Fragen auf, wie all das konzeptionell integriert zu werden vermag.

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Die Corona-Pandemie als Rache des Realen? Eine Lesenotiz zu Benjamin Bratton

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wurden schon vielfach beschrieben: als Brennglas, unter dem soziale Ungleichheiten verschärft werden (z. B. Ludwig/Voss/Miller 2020 und Werkmann/Wolfs 2021) oder als Generalprobe für den Klimawandel (Latour 2020). Für Benjamin Bratton ist die Corona-Pandemie vor allem die Rache des Realen, wie er in seinem gleichnamigen Buch (2021) in wortgewaltiger Sprache beschreibt.

Dabei attestiert er auf knapp 170 Seiten – übrigens völlig ohne Literaturangaben – ein mehrfaches Scheitern: auf der Ebene der westlichen Public Governance, welche die Pandemie und ihre Folgen nicht angemessen bearbeiten kann, und auf der Ebene der Philosophie. In seiner „Kritik der westlichen politischen Kultur“ (6, hier und im Folgenden eigene Übersetzungen) verknüpft er mehrere Argumente, welche sich auf Populismus, Individualismus, den Biopolitik-Diskurs um den italienischen Philosophen Giorgio Agamben und nicht zuletzt philosophischen Realismus beziehen. Abschließend formuliert er Entwürfe für eine positive post-pandemische Biopolitik. Im Folgenden soll diese Argumentation kurz ausgeführt und sein Entwurf einer post-pandemischen Biopolitik einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. (mehr …)

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Die ordoliberale Disziplinierung Europas? Lesenotiz zu Thomas Biebricher „Die politische Theorie des Neoliberalismus“

„Neoliberalismus“ ist ein schillernder Begriff. Abhängig davon aus welcher Denkrichtung er beleuchtet wird, gilt er den Einen als Inbegriff freiheitlichen Denkens, den Anderen hingegen als Kampfbegriff zur Stigmatisierung (wirtschafts-)politischer Positionen, die staatlich verordnete, redistributive Maßnahmen sozialer Gerechtigkeit zugunsten des freien Wirkens der Marktkräfte mit aller Macht zu verhindern suchen. Staat und Markt sind in der allgemeinen Wahrnehmung ohnehin jenes Paar, dessen Beziehung im neoliberalen Denken, egal von welcher Seite es betrachtet wird, den zentralen Anker darstellt. Nach Lektüre der nun in deutscher Übersetzung im Suhrkamp-Verlag erschienenen Habilitationsschrift von Thomas Biebricher, ist eben jener Beziehungsstatus wohl eher als „kompliziert“ zu kennzeichnen, wird doch deutlich, dass eine angenommene Gegnerschaft beider Partner vor dem Hintergrund des vielgestaltigen und keinesfalls konsensualen neoliberalen Denkens, auf einem zu unterkomplexen Verständnis dieser Dichotomie beruht.

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