Politische Theorie dekolonisieren? Eine Lesenotiz zur Junius-Einführung „Dekoloniale Theorien“ von Frederik Schulze und Philipp Wolfesberger

Vor kurzem wurde die Junius Einführungsreihe durch einen weiteren Band bereichert: „Dekoloniale Theorien“ von Frederik Schulze und Philipp Wolfesberger. Ist der Begriff der postkolonialen Theorien nun schon seit längerer Zeit Bestandteil der Diskussionen in der politischen Theorie – einschlägige Einführungen wurden bereits 2015 durch María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan oder 2021 durch Ina Kerner vorgelegt –, so geistert der Begriff der Dekolonialität wohl erst seit kurzem umher. Einführungsliteratur war zu dem Thema bisher eher dünn gesät. Ausnahmen bilden dabei der Sammelband Kolonialität der Macht (2013), herausgegeben von Pablo Quintero und Sebastian Garbe sowie die Monografie Dekolonialistische Theorie aus Lateinamerika (2022) von Jens Kastner. Mit der Einführung bei Junius liegt nun ein handlicher Überblick vor, der Ausgangspunkt für ein erstes Kennenlernen, aber auch für eine tiefergehende Beschäftigung mit dekolonialen Theorien sein kann. (mehr …)

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Lesenotiz zu „Enduring Enmity. The Story of Otto Kirchheimer and Carl Schmitt“ von Hubertus Buchstein

Nochmal Carl Schmitt? 

„Es vergeht doch kaum ein Monat, in dem nicht irgendwo auf dieser Welt ein Buch über Carl Schmitt erscheint“ bilanzierte Volker Neumann (2015, S. V) im Vorwort seines Werkes Carl Schmitt als Jurist. Ausgehend von dieser Feststellung Neumanns ist die Frage berechtigt, ob man zu Carl Schmitt eigentlich noch etwas Neues schreiben kann? Gibt es nach der umfassenden Biografie von Reinhard Mehring (2009), die 2022 in einer überarbeiteten und deutlich lesbareren Auflage erschien, noch etwas zu Schmitt zu sagen, was bisher noch nicht veröffentlicht wurde? Hubertus Buchstein hat, diesen Fragen zum Trotz, ein neues Werk zu Carl Schmitt und Otto Kirchheimer vorgelegt. Und das mit Ertrag: Indem er Schmitt aus der Perspektive einer seiner Schüler betrachtet, gelingt es ihm tatsächlich, die Schmitt-Forschung um eine weitere Facette zu bereichern. 

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Bruch am Rand. Lesenotiz zu Norma Tiedemanns „Un/gehorsame Demokratie und umkämpfte Patronagestaatlichkeit in Südosteuropa“

Die Demokratie scheint derzeit global auf dem Rückzug. Europa ist keine Ausnahme. Gerade der europäische Osten scheint mit Blick auf Ungarn, die Slowakei oder Serbien ein Labor für den autoritären Backlash. Doch selbst mit Blick auf Osteuropa greift das Narrativ des democratic decline zu kurz. Wer sich auf die Dissertation „Un/gehorsame Demokratie und umkämpfte Patronagestaatlichkeit in Südosteuropa. Eine Konjunkturanalyse der munizipalistischen Plattformen in Zagreb und Belgrad“ der Kasseler Politologin Norma Tiedemann einlässt, um über den Tellerrand der westeuropäischen Kernstaaten und der rechtspopulistischen Konjunktur zu blicken, dürfte überrascht werden. Hier erscheint Südosteuropa als ein radikaldemokratisches Experimentierfeld – was wertvolle Impulse liefert für den oft territorial verengten Blick der (deutschsprachigen) politischen Theorie. Die Studie argumentiert analytisch präzise und bewegt sich auch sprachlich auf einem (sehr) hohen Niveau. Meine Lesenotiz möchte für die Arbeit neugierig machen, indem es zugleich Teile des Arguments skizziert und dessen Spannungslinien benennt – insbesondere hinsichtlich des komplizierten Verhältnisses zwischen Tiedemanns materialistischer Position und der radikalen Demokratietheorie.  (mehr …)

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Lesenotiz zu Maximilian Pichls „Law statt Order“

Wer im deutschen Sprachgebrauch ‚Rechtsstaat‘ sagt, betritt die Arena eines stark umkämpften Begriffs. Von den einen gefeiert als die Errungenschaft liberaler Staatlichkeit und aufklärerischer Bemühungen, Gewalt zu bündeln, zu legitimieren und – vor allem – zu begrenzen, wird der Begriff und die damit verbundene institutionelle Struktur von anderen mit Skepsis beäugt. Die skeptische Perspektive versteht Appelle an den Rechtsstaat oft als eine weitere Art, autoritäre Bestrebungen im Kleid der Legitimität durchzusetzen. Wer Rechtsstaat sagt, so die kritische Lesart, sagt auch Polizeieinsatz gegen Aktivist*innen, Pushbacks an den Außengrenzen, und nicht-öffentliche Schnellverfahren. Maximilian Pichls jüngst erschienener Beitrag zu dieser Debatte, Law statt Order, spielt bereits im Titel auf die Spannungen zwischen beiden Lesarten an.

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Die Pathogenese der liberalen Demokratie? Lesenotiz zu Philip Manows „Unter Beobachtung“

Sollte man das Bundesverfassungsgericht besser gegen Übergriffe des Gesetzgebers schützen? Vor dem Hintergrund der drohenden Wahlsiege der AfD in den ostdeutschen Bundesländern wird diese Frage seit einigen Monaten in Politik und Öffentlichkeit diskutiert. Ein Vorschlag des Bundesjustizministeriums, die bisher nur einfachgesetzlichen Regelungen zur Organisation des Gerichts in das Grundgesetz aufzunehmen, liegt inzwischen vor. Verhindert werden soll so vor allem, dass sich die Angstszenarien Polen und Ungarn, wo rechtspopulistische Mehrheiten die Institutionen des Rechtsstaats nachhaltig beschädigt haben, in Deutschland wiederholen. Die „Wächter der Demokratie“ müssen, so die konsequente Forderung, gegen die „Demokratiefeinde“ geschützt werden. Aber gestalten sich die Fronten tatsächlich so einfach?

Den Verdacht, dass das Verhältnis zwischen den Feind*innen und Freund*innen der Demokratie womöglich doch etwas komplizierter angelegt sein könnte, verfolgt Philip Manow nun in seiner Neuerscheinung „Unter Beobachtung – Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“. Manow wählt hierzu einen dezidiert ideengeschichtlichen Ansatz, indem er die Frage aufwirft, ob es „eigentlich vor – sagen wir – 1990 Feinde der liberalen Demokratie“ gegeben habe (S. 9). Seine ebenso provokante Antwort ist ein entschiedenes Nein: schlichtweg daher, „weil es die liberale Demokratie weder als spezifische Vorstellung noch als distinktes institutionelles Ensemble gab“ (S. 11). Die Feind*innen der liberalen Demokratie sind für ihn insofern Produkte der liberalen Demokratie selbst: Erst ihre Institutionen führen überhaupt die Möglichkeit ein, sich gegen gerade diese historisch sehr spezifischen und vor allem neuen Arrangements zu positionieren. Wenn verstanden werden soll, worin die spezifisch „illiberale Demokratie“ eines Viktor Orbáns besteht, muss daher nachvollzogen werden, wie sich unsere eigene gegenwärtige Demokratiekonzeption von vorangegangenen Ideen unterscheidet.

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Macht als immanente Dynamik. Lorina Buhr untersucht den aristotelischen Hintergrund des Machtbegriffs bei Hobbes und Foucault

Der Begriff der Macht hat längst eine unhintergehbare Stellung in der politischen Theorie eingenommen. Spätestens seit Michel Foucault die immersiven Wirkungen von Macht freigelegt hat, ist der Machtbegriff zu einem unabdingbaren grundbegrifflichen Werkzeug der Theoriebildung geworden. Die Öffnung philosophiegeschichtlicher Forschung und die Sichtbarmachung frühneuzeitlichen Denkens in der politischen Theorie der Gegenwart haben dazu beigetragen, den Machtbegriff wieder in seine historischen Bezüge einzurücken und von hier aus weiterzuentwickeln. Insbesondere Hobbes und Spinoza sind dabei zu wichtigen Referenzpunkten einer politischen Theorie der Gegenwart geworden, die die immanenten Konstitutionsprozesse des Politischen von einem dynamischen Machtgeschehen her zu denken erlauben. In einer umfangreichen Studie hat Lorina Buhr nun die Entwicklung des modernen Machtdenkens aus der aristotelischen Konzeption der dynamis hergleitet und bis in aktuelle Debatten der politischen Theorie und Sozialtheorie verfolgt. (mehr …)

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Lesenotiz zu Veith Selks „Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie“

Es gehört zu den zahlreichen Ironien des vorliegenden Buches, einer überarbeiteten politikwissenschaftlichen Habilitationsschrift (Darmstadt), dass es bei Suhrkamp erschien, dementiert es doch mit kaltem Spott den ganzen linken und linksliberalen Mainstream, der mit der Suhrkamp-Theoriereihe – in der Selks Buch 2023 erschien – und Habermas in die alte und mittlere Bundesrepublik gelangte und zur Standardlektüre aller Intellektuellen wurde. Selk räumt aber noch weit mehr ab, wie der Titel „Demokratiedämmerung“ im Anklang an die „Götterdämmerung“ und der Untertitel im Anklang an Kant und Ingeborg Maus, aber auch an den geläufigen Konnex von Kritik und Krise (Schmitt, Koselleck) schon andeutet. Selk schlachtet nicht weniger als das Gründungsprojekt der bundesdeutschen Politikwissenschaft ab: die „Demokratiewissenschaft“ als „Legitimationswissenschaft“ und Versprechen politischer Bildung und „Demokratisierung“, darüber hinaus die real existierenden Demokratien, die als solche nicht mehr unter der Idee der Demokratie und grundbegrifflichen Orientierung an normativen Leitbegriffen wie „Gleichheit“ beschreibbar seien.  

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Wie die Klassengesellschaft denken? Lesenotiz zu Jacques Bidets Buch „Foucault mit Marx“

In den aktuellen Debatten der gesellschaftlichen Linken sind Foucault und Marx die beiden wichtigsten theoretischen Bezugspunkte. Während Ersterer als Ideengeber für eine tendenziell identitätspolitische Linke gilt, die den intersektionalen Kampf gegen die Vielfalt der Unterdrückungsstrukturen betont, ist Marx der Bezugspunkt für eine tendenziell sozialkritische Linke, die den Klassenkampf gegen die kapitalistische Produktionsweise in den Vordergrund stellt. Nicht selten stehen sich diese beiden Lager unversöhnlich gegenüber, wenn es um Kernfragen der Gesellschaftsanalyse und politischen Strategie geht. „Marx oder Foucault?“, lautet die (implizite) Frage. So weit, so bekannt. So weit, so aktuell.  

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Staat als „archimedischer Punkt“

Lesenotiz zu Hermann Heller: Kleine politische Schriften hg. v. Hubertus Buchstein und Dirk Jörke, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2023. 

Die gegenwärtige politische Lage gleicht nicht jener von Weimar. Zu viel ist ökonomisch, sozial, technisch und politisch heute anders. Dennoch gibt es gute Gründe, sich in der gegenwärtigen veritablen Krise der Demokratie den einstigen Kämpfern für die Weimarer Demokratie mit einem Abstand von nahezu 100 Jahren zuzuwenden – und zwar gerade solchen politischen Denkern, die sich wie Hermann Heller ins politische Schlachtgetümmel gestürzt haben, statt in geschützten, aber sehr moralisierten Räumen von Akademia zu verweilen.  (mehr …)

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Der Geschmack der Richter. Lesenotiz zu Sabine Müller-Malls „Verfassende Urteile“

1964 führte der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung „Costa/E.N.E.L.“ den Anwendungsvorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts ein – ein Prinzip, welches nicht im damaligen EWG-Vertrag auftauchte, sondern vom Gericht aus dem Sinn und Zweck der Gemeinschaftsordnung abgeleitet wurde. Das Problem, wie es sich innerjuristisch rechtfertigen lässt, wenn Gerichte demokratisch gesetztes Recht nicht nur anwenden, sondern dessen Geltungsumfang durch ihre Urteile auch ausweiten, beschäftigt die deutschsprachige Rechtstheorie wohl schon mindestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Dass dieser Frage auch eine demokratietheoretische Dimension immanent ist, tritt spätestens mit der wachsenden Bedeutung derart „expansiver“ Urteile für den selbstständigen Ausbau inter- und transnationaler Organisationen offen zutage: Woher bezieht ein Gericht schließlich die demokratische Legitimation, die verfassungsrechtlichen Grenzen der Politik nicht nur zu überprüfen, sondern selbst neu zu fassen? Sabine Müller-Mall begegnet dieser Fragestellung nun in „Verfassende Urteile“ mit einer prozessorientierten Perspektive: Nicht die Legitimation der Institution des Gerichtes ist ihr Ansatzpunkt, sondern der Prozess des Urteilens, welcher als solcher stets expansiv ist (S. 11). In der Konsequenz verbergen sich damit tatsächlich zwei, gelungen ineinander geschobene Werke in diesem Buch: eine Verfassungstheorie der Konstitutionalisierung und eine Rechtstheorie des Urteils.

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