Blogdebatte: Kämpfe ihrer Zeit, Kämpfe unserer Zeit

Im Rahmen unserer Blogpost-Reihe zum Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte fragt Sebastian Dute danach, ob Ideengeschichte ihre kritische, gegenwartsbezogene Funktion nicht gerade dadurch erfüllen kann, dass sie konsequent historisiert. 

Einer der im Call für diese Blogdebatte vorgeschlagenen Diskussionspunkte wirft die Frage auf, wie ideengeschichtliche Forschung aussehe, „die ‚offen‘ genug ist für politiktheoretische Fragen“. Mir scheint, dass diese Frage eine in der aktuellen politiktheoretischen Diskussion geläufige Intuition abbildet, nach der der Nutzen ideengeschichtlicher Forschung für die Theoriebildung daran gemessen wird, inwiefern sie das von ihr aufgearbeitete und angeordnete Material an bestimmte Rezeptionsbedürfnisse anpasst. Eine derart auf ihre „Arsenalfunktion“ (Llanque 2008: 2) reduzierte Ideengeschichte geht häufig auf Kosten eines ihrer Kerngeschäfte, das in der Historisierung politischer Ideen liegt, mittels derer sie die Genese dieser Ideen aus sowie ihre Geltung in bestimmten historischen Kontexten erklären will. Im Folgenden geht es mir keineswegs darum, aktualisierende und kreative Aneignungen des ideengeschichtlichen Fundus zu diskreditieren. Stattdessen möchte ich zwei kritische Funktionen hervorheben, die ideengeschichtliche Ansätze für die politiktheoretische Forschung gerade durch eine konsequente Historisierung erfüllen können. Zum einen konfrontieren sie einschränkende Denkhorizonte der Gegenwart mit der Alterität vergangener Ideen und leisten damit einen Beitrag zu ihrer potenziellen Ausweitung, zum anderen können sie über die Modalitäten aufklären, unter denen sich theoretische Interventionen – auch in der Gegenwart – als zeitbezogene Praxisformen vollziehen. 

Zur Affirmation des Antiquarismus 

Der Verdacht, dass die von mir zu verteidigende Geschichtsbetrachtung einer der Arten von Historie recht nahekommt, die Nietzsche (1999: 243-334) in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen aufspießt, wäre dabei nicht ganz unberechtigt. Die sogenannte antiquarische Historie ist laut Nietzsche bekanntlich Sache des „Bewahrenden und Verehrenden“ (265), der mit nostalgischer Pedanterie in die Vergangenheit blicke und sich von einer pflichtbewussten Zuneigung ihr gegenüber leiten lasse. Das akribische „Wittern auf fast verlöschten Spuren“ (ebd.) entartet laut Nietzsche jedoch in dem Moment, in dem es sich den vitalen Kräften der Gegenwart zu sehr verschließt und sich derart auf die vergangenen Elemente fixiert, dass es sie nur noch isoliert betrachtet. Die antiquarische Historie biete dann das „widrige Schauspiel einer blinden Sammelwuth, eines rastlosen Zusammenscharrens alles einmal Dagewesenen“ (268), auf Kosten der Heraufkunft des Neuen in der Gegenwart. 

Eine überraschende Verteidigung des Antiquarismus, und zwar mitsamt mancher seiner Exzesse, stammt von Axel Honneth (2009: 35-46). Seine Laudatio auf Quentin Skinner, den berühmtesten Vertreter der Cambridge School der politischen Ideengeschichte, ist für die vorliegende Frage interessant, weil hier ein vorwiegend systematisch und begrifflich arbeitender Sozialphilosoph danach fragt, inwiefern Skinners Untersuchungen des politischen Denkens der frühen Neuzeit einen Beitrag zur „Kritik der gegenwärtigen Lebensverhältnisse (36) leisten. Dabei ist Skinners von der Sprechakttheorie beeinflusste ideengeschichtliche Methodik, die die untersuchten Texte derart kontextualisiert, dass die von ihren Autor*innen intendierten Handlungen in den ideologischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit zutage treten sollen, immer wieder Gegenstand von Kritiken geworden, die Nietzsches Polemik in der Sache nicht unähnlich sind. Honneth will Skinners Kontextualismus nun gar nicht erst von derlei Anklagen freisprechen, sondern ist der Auffassung, dass Skinner das Kunststück gelungen sei, „der antiquarischen Ideengeschichte selbst eine kritische Funktion bei[zu]messen“ (2009: 44). Diese kritische Funktion erfülle die minutiöse Rekonstruktion lokal gebundener Diskussionstexte und der Intentionen, mit denen die heute klassischen Autoren in ihnen interveniert haben, dadurch, dass sie diesen Texten ihren polemisch-konfrontativen Charakter und damit ihre Eigensinnigkeit zurückgebe. 

Damit konserviert der Kontextualismus denjenigen Gehalt politischer Ideen, der ihre historische Irreduzibilität ausmacht. In ihrer Alterität sind sie für uns also nicht unmittelbar, sondern erst im Zuge ihrer Historisierung erfahrbar. Gerade darin sieht Honneth das emanzipatorische Potenzial, das eine Konfrontation mit ihnen bereithält: „Nur dann, wenn diese Ideen der Vergangenheit in der Differenz zum Heute als wirkliche Alternativen zum bestehenden Denkhorizont auftauchen, können wir uns dank ihrer Hilfe von den gedanklichen Beschränkungen unserer Selbstverständigung befreien.“ (2009: 45-46) Für den Frankfurter Sozialphilosophen ist der Ideenhistoriker aus Cambridge damit in der Lage, die freiheitseinschränkenden Denkhorizonte der Gegenwart tendenziell zu destruieren, und das, so scheint es, gerade proportional zur Sorgfalt, mit der die Historizität vergangener Paradigmen aufgezeigt wird. Freilich muss sich diese Operation vor der historistischen Versuchung hüten, eine solche Verortung von einer zeitlosen und wertfreien Warte aus vornehmen zu wollen. Dennoch müssen wir uns in dieser Vorstellung mit einem Text und seiner Entstehungs- und Wirkungsgeschichte plausiblerweise erst vertraut machen, bevor er uns als genuin fremd erscheinen und damit das Verständnis unserer eigenen Zeit irritieren und potenziell verändern kann. Eine konsequent historisierende Ideengeschichte erfüllt somit noch vor der Aneignung von ihr zutage geförderter Alternativen eine kritische Funktion für die Theoriebildung: Diese wird mit einem Sinn für die eigenen „Kontingenzen unserer speziellen Geschichte oder Sozialstruktur“ gesättigt, wie es schon beim frühen Skinner (2011: 21-87, hier: 87) selbst heißt. (Dass das Vertrauen darauf, dass gedankliche Fixierungen der Gegenwart sich schon durch die einsamen Anstrengungen des historischen Geistes aufbrechen ließen, seinerseits problematisierungswürdig erscheint, sei hier nur am Rande bemerkt.)  

Das ideologische Feld 

In Skinners Grundüberzeugung, dass „selbst die abstraktesten Werke der politischen Theorie nie über dem Kampfgeschehen stehen“, sondern stets „Teil des Kampfes selbst“ (2008: 15) sind, erscheint die theoretische Arbeit als eine spezifische Form der Praxis, die mit anderen sozialen Praktiken in Beziehung steht. Als solche lässt sie sich nicht nur auf kommunikativ-intentionaler Ebene auswerten, sondern auch unter stärkerer Berücksichtigung der realpolitischen, sozialen und kulturellen Konflikte, die in den ideologischen Auseinandersetzungen der Ideengeschichte einen Ausdruck finden. Die ideellen Verfestigungen, die Honneth und Skinner in der Gegenwart feststellen, können als Einsatzort für jede theoretische Praxis geltend gemacht werden, die auf das Kampfgeschehen einwirken möchte; sie entwickeln sich ihrerseits aber auch nicht unabhängig von dem, was ‚außerhalb‘ der Theorie geschieht. Für diese komplexen Wechselverhältnisse bieten die diversen lokalen Konfliktfelder der Ideengeschichte reichlich Anschauungsmaterial. 

Als instruktive Verbindung einer ideengeschichtlichen Untersuchung mit grundlegenden Reflexionen über die Historizität des Denkens kann ein früher Text von Louis Althusser (2011: 55-104) gelten, der den Titel Über den jungen Marx trägt und sich auf den ersten Blick als ein Literaturbericht über Studien zu den Marxschen Jugendschriften ausgibt, obwohl es seinem Autor doch, wie er im Untertitel ausweist, nicht zuletzt um Fragen der Theorie geht. Althusser stellt „wissenschaftliche Prinzipien“ (72) zum Verständnis der Genese einer Theorie auf, und zwar an zentraler Stelle den Hinweis darauf, dass der Sinn eines individuellen Denkens „nicht von seinem Verhältnis zu einer von ihm unterschiedenen Wahrheit abhängt, sondern von seinem Verhältnis zum existierenden ideologischen Feld und zu den gesellschaftlichen Problemen und der gesellschaftlichen Struktur, die es tragen und sich in ihm spiegeln (71).  

Der apodiktische Klang dieser Zeilen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Althusser in ihnen ein diffiziles Historizitätsprinzip vertritt, mit dessen Hilfe die komplexe Genese von Ideen in ihrem Verhältnis zu den bestehenden ideellen wie materiellen Verhältnissen nachvollzogen werden soll. Das ideologische Feld, in das ein Denken eintritt (und das im Fall, der Althusser interessiert, v.a. hegelianisch und feuerbachianisch geprägt ist), spiegelt die soziale Struktur und ihre Probleme nicht einfach bewusstlos wider, sondern ist von Gedanken besiedelt, die sich diese realen Schwierigkeiten und Widersprüche auf spezifische Weise als einheitliche Problematik ihrer Reflexion zu eigen machen. Dieser Vorgang ist kein statischer Grabenkampf, sondern wird seinerseits von einer „Logik des Einbrechens der realen Geschichte“ (99) (etwa in Form der organisierten Klassenkämpfe der Mitte des 19. Jahrhunderts) permanent in Bewegung gehalten und transformiert. Diese komplexe Gemengelage lenkt den ideengeschichtlichen Fokus weg von fixier- und feststellbaren kommunikativen Absichten und hin zu den sozialen Prozessen, die die Ideen einer Autorin durchwirken und in ihnen verarbeitet werden sowie zu der „spezifische[n] Differenz“ (82), die eine theoretische Problematik in einem gegebenen ideologischen Feld markiert. 

Dadurch aber erweist sich die Historizität von Ideen auch als etwas, das diese nicht bloß passiv und von außen erleiden. Dass sich ihre Genese in einem historischen Kontext und unter spezifischen Bedingungen vollzieht, muss weder ihre Produktivität lähmen noch auf Kosten ihres spekulativen, systematischen oder rationalen Gehalts gehen. Im Anschluss an die philosophiehistorischen Überlegungen des Althusser-Schülers Pierre Macherey (1999: 283-312) lässt sich die Historizität von Theorie vielmehr als positive Bedingung begreifen, eine effektive theoretische Praxis auszuarbeiten, die sich zu anderen Praxisformen ins Verhältnis setzt – auch in der Gegenwart. Die von ideengeschichtlicher Forschung geleistete Historisierung hielte somit Erkenntnisse für politiktheoretische Vorhaben bereit, die diesen praktischen Charakter affirmieren, indem sie den Zusammenhang von intellektueller Produktion und den in der Gegenwart wirkenden Kräfteverhältnissen in die eigene theoretische Arbeit miteinzubeziehen versuchen. Diese Verhältnisse ergeben sich nie nur aus dem intellektuellen Feld selbst, sondern immer auch aus seiner Stellung zu politischen Institutionen und sozialen Kämpfen.

Sebastian Dute ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der TU Darmstadt.

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