Blogdebatte: Epochalisierung als ideengeschichtliches Argument in der Politischen Theorie

Im Rahmen unserer Blogpost-Reihe zum Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte fragt Marcus Llanque nach der Bedeutung von Epocheneinteilung für die Legitimation von Politischen Theorien.

Theorien können bekanntlich deskriptiv wie normativ begründet werden; die ideengeschichtliche Argumentation fügt diesen Strategien weitere hinzu, eine davon ist die Legitimation durch Epochalisierung. Der Akt der Einteilung von Geschichte in Epochen, Ären, Perioden, Zeitaltern war nie nur rein archivarischer Art. Von Beginn an bedeutete die Abgrenzung nach Epochen ein Werturteil, das nicht nur die chronologische Positionierung betrifft, sondern auch die inhaltliche Bedeutung. Periodisierungen, vor allem Epochalisierungen fügen die ideengeschichtliche Zeit als Argument in die Politischen Theorie ein. Jede Bestimmung eines Zeitalters, in welchem die eigene Gegenwart sich angeblich befinden soll, nimmt eine ideengeschichtliche Argumentation vor, die theoretische Konsequenzen hat, denn aus ihr folgt die anhaltende Relevanz der einen Texte und die historische Marginalisierung anderer.

Die Periodisierung ist in den Geschichtswissenschaften ein anhaltendes Problem und wird dort auch theoretisch reflektiert. Dort dominiert jedoch die Frage, wie das historische Material temporal miteinander verknüpft, ob Entwicklungslinien als Kontinuitäten oder Diskontinuitäten zu sehen sind. Die Formulierung bzw. Festlegung von Zeiträumen in der Politischen Theorie erfolgt weitaus stärker aus der jeweiligen Gegenwart heraus. Befunde der Geschichtswissenschaften, etwa die Einteilung ihres Stoffes nach Antike, Mittelalter und Moderne, werden zwar immer wieder übernommen, aber aus einem anderen Erkenntnisinteresse heraus. Nun geht es um Nähe oder Ferne der Vergangenheit zur eigenen Gegenwart, um die Strukturierung der Bedeutsamkeit des Vergangenen für theoretische Fragen des Heute und Jetzt.

In seiner Marburger Antrittsvorlesung von 1961 machte Jürgen Habermas einen Schnitt zwischen einer sich an Aristoteles orientierenden, „alten Politik“ und der „modernen“ Politik, wobei er der „alten“ Politik die Zeitgemäßheit abspricht: „Wo diese uns noch begegnet, erscheint sie hoffnungslos altmodisch (…) Uns allen ist die alte Politik fremd geworden…“ (Theorie und Praxis, S. 48). Habermas begründet diesen Schnitt ideengeschichtlich damit, dass die mit Machiavelli und Morus einsetzende „Revolution der Denkungsart“ (bekanntlich ein Wort Kants), die dann in der politischen Philosophie von Thomas Hobbes endgültig vollzogen wurde, als Wandel von einer an der Ethik orientierten Politik zur „social philosophy“ zu verstehen sei (ebda.). Man könnte nun an Habermas zeigen, wie sich seine Position zur Ideengeschichte veränderte, wie aus einem Angriff auf zeitgenössische Rezeptionen von Aristoteles (damals aus den Reihen der Münsteraner Ritter-Schule) allmählich eine Verteidigungsposition zu Gunsten der „Moderne“ wurde, die sich überholt sah von der „Postmoderne“. Wieder durch ideengeschichtliche Besinnungen (nun unter Berufung auf Hegel) setzte sich Habermas mehr als 20 Jahre zur Wehr gegen die in Zweifel gezogene Modernität der Moderne.

Die Erinnerung an diese Debatten, von welchen wir mittlerweile selbst sagen könnten, dass sie „uns fremd“ geworden sind, die aber – ideengeschichtlich betrachtet – noch nicht „lange her“ sind, soll den Fragehorizont öffnen für das ideengeschichtliche Argument in der Politischen Theorie im Lichte ihrer Periodisierungen.

Einteilungen der Ideengeschichte haben Konsequenzen für die Rezeptionsfähigkeit „vergangener“ Theorien. Solche Einteilungen erklären das vor-gegenwärtige (ehemals „vormoderne“) Material für vergangen im Sinne von bedeutungslos für die heute Lebenden, dagegen andere Materialen, die nach einer bestimmten, ideengeschichtlich definierten Zäsur liegen, für relevant und bedeutsam auch und gerade für die heutige Zeit. Wo der Schnitt im Einzelnen angelegt wird, variiert.

Es lassen sich auch Alternativen hierzu denken. Wenn J.G.A. Pocock mit Blick auf das Verhältnis von Renaissance und Neuzeit von ideengeschichtlichen Eintunnelungen sprach (erstmals 1979), so lässt sich dieser für das Archiv der Ideengeschichte entwickelte Gedanke auch auf das Arsenal beziehen: Die Erinnerung etwa an demokratische Praktiken fernster Vergangenheit (der „Antike“ etwa), können zum Vorbild werden für politische Experimente in einer Gegenwart, deren Anspruch „wahrhaft“ demokratisch zu sein von vielen Stimmen in Zweifel gezogen wird. Die temporale Struktur der Ideengeschichte besteht nicht auf ungebrochenen Kontinuitäten. Denn anders als in den materiellen Abläufen der Geschichte sind intellektuelle Rezeptionen nicht auf bruchlose Entwicklungen angewiesen, sondern können sprunghaft erfolgen. Fernste Vergangenheit wird durch Rezeptionen zum Teil der Gegenwart, wogegen ihre tatsächlich (historische) Vorgeschichte, theoretisch in Vergessenheit geraten kann – in Vergessenheit geraten soll. Die ideengeschichtliche Argumentation dient hier also an der Arbeit an einer Genealogie der Gegenwart, indem es ihr Verhältnis zur Vergangenheit definiert, aber auch Ausblicke darüber gibt, wie diese Gegenwart sich in der Zukunft fortentwickeln wird oder sollte.

Diese Rezeptionen erinnern an die Arbeit am ideengeschichtlichen Material im Modus des Arsenals: ideenpolitische Interessen prägen die Rezeptionen. Doch auch die Arbeit am Archiv kann mit ideenpolitischen Mitteln erfolgen. Das trifft auf viele ideengeschichtliche Verortungen der aktuellen Gegenwart zu, wo die Ideengeschichte der Gegenwart formuliert wird als Archiv und hierzu temporale Gehäuse erfunden werden: die Gegenwart wird zum Teil einer Epoche erklärt. Während der ideengeschichtliche Archivist das Material nach Kriterien der Entstehungszeit ordnet, ist das Arsenal von diesen Abgrenzungen unabhängig, es muss den Periodisierungen des Archivs nicht folgen. Wo aber die Gegenwart epochal definiert wird, um den eigenwilligen Standort der darin stattfindenden Theoriearbeit zu charakterisieren, wird ein solches archivalisches Gehäuse für die Gegenwart selbst entwickelt, für die eigene Zeit. Dies erfolgt mit ideenpolitisch nachvollziehbaren Motiven, als Legitimierung und Delegitimierung aktueller Theoriearbeit, die als zeitgemäß oder als unzeitgemäß herausgestellt wird, je nachdem, ob sie zu der jeweiligen Epochenbestimmung passt oder nicht.

Zu behaupten, dass die Gegenwart aus einer bestimmten Epoche heraus verstanden werden soll, in welcher sie sich angeblich befindet, gibt bestimmten Denkfiguren, Argumente, Texten die Bedeutung der Vorbildlichkeit, der Repräsentativität und Anschlussfähigkeit; anderen Denkfiguren, Argumenten, Texten, die mehr oder weniger gleichzeitig mit den vorgenannten entstanden sein können, wird diese Relevanz abgesprochen. Die einen Bezüge gelten hier als Stimmen einer von der Gegenwart ausgehenden Zukunft, die anderen als Stimmen aus der Vergangenheit, die nicht nur chronologisch vergangen ist, sondern auch inhaltlich für vergangen erklärt wird. Hier befinden wir uns im Deutungskampf konkurrierender Theorieansätze, die je für sich „Zeitgemäßheit“ reklamieren und sie dadurch anderen abstreiten.

Heutige Beispiele für solche Vorgänge, in welchen Politische Theorie ihre eigene Argumentation ideengeschichtlich verortet, ohne dies aber immer ideengeschichtlich ausreichend auszuweisen und selbstkritisch zu reflektieren, sind vielfach zu finden. Hier einige herauszuheben bedeutet nicht, sie exklusiv hierfür kritisieren zu wollen. Zu denken ist etwa an den Postfundamentalismus und seine Rede vom „Zeitalter der Kontingenz“. Oliver Marchart spricht davon, dass die Kontingenz „zu einem Zeichen unserer Zeit, zu einem Bestandteil unseres intellektuellen Horizontes“ wurde (Die politische Differenz, S. 75). Ein Vordenker für diese Behauptung ist Zygmunt Bauman. Wie schlüssig ist die Behauptung, Kontingenz sei die epochale Signatur unserer Gegenwart, wenn wir über eine bis in die Antike zurückreichende Ideengeschichte der Kontingenz verfügen? Die Konsequenzen von Kontingenz für die Ideengeschichte können auch anders beschrieben werden (s. etwa: Frauke Höntzsch, Diskontinuität als Paradigma: Ideengeschichte im Zeitalter der Kontingenz, S. 43-68).

Ein anderes, gegenwärtig mit aller Intensität ausgerufenes Zeitalter ist jenes des Anthropozäns. Der Begriff entstand im geologischen Fachdiskurs. Der Umstand, dass die zuständigen geologischen Fachgremien diese Periodisierung jüngst (mit Mehrheitsabstimmung) abgelehnt haben, hindert die öffentliche Debatte nicht, dieser Bestimmung der Gegenwart weiterhin zu folgen. Was aus dem Zeitalter des Anthropozäns für das politische Denken folgt und wie die Politische Theorie dies aufgreifen sollte, wird unterschiedlich beantwortet (vgl. etwa Duncan Kelly, Politics and the Anthropocene; Earl T. Harper / Specht, Doug, Imagining Apocalyptic Politics in the Anthropocene; Travis Holloway, How to Live at the End of the World). Ein Aspekt dieser Debatten berührt die Frage, ob die uns vertraute Demokratie noch „zeitgemäß“, ob sie den epochalen Aufgaben der Gegenwart gewachsen ist. Die zeitlichen Abläufe, in welchen demokratische Politik operiert, scheinen temporal unvereinbar geworden zu sein mit den Anforderungen der Epoche. Folgt daraus aber eine temporale Legitimation imperialer Politik, die in anderen räumlichen und zeitlichen Bezügen zu agieren verspricht? Einen anderen Weg geht der Versuch, die liberalen Hemmungen der Demokratie durch eine Art „grünen Republikanismus“ abzulegen, der weitsichtig genug ist, bereits über das Anthropozän hinaus zu denken.

Für all diese Debatten wäre eine Vergewisserung der dabei zugrunde gelegten ideengeschichtlichen Argumentation hilfreich. Wie hart sind die behaupteten Zäsuren, wie sehr sind Eintunnelungen vorhanden, was ist mit dem Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen? Vielleicht ist man klug beraten, für die politisch-theoretische Periodisierung politische Markierungen auszuwählen, die sowohl im Archiv als auch im Arsenal der Ideengeschichte Bestand haben. Dann wäre es ausreichend, von einem Zeitalter der Demokratie zu sprechen, mit all seinen Gefahren und all seinen Chancen. In diese Epoche ragen dann historisch weit entfernte, weil antike, aber theoretisch sehr nahe liegende Phasen der Theorieentwicklung hinein, sofern sie demokratische Praxis beschreiben. Als Epoche verstanden geht es dann aber auch nicht nur um die Beschreibung der Gegenwart in ihrem jeweiligen Augenblick, sondern um den Einbezug von Zukunftsperspektiven. Das bedeutet nicht, einen naiven Fortschrittsoptimismus im Lichte einer zu sich selbst kommenden Freiheit zu verkünden, sondern die Gegenwart im Lichte einer generationenübergreifenden politischen Arbeit zu beschreiben.

Marcus Llanque ist Professor für Politische Theorie an der Universität Augsburg.

Ein Kommentar zu “Blogdebatte: Epochalisierung als ideengeschichtliches Argument in der Politischen Theorie

  1. Abgrenzungen zwischen Epochen und „Schulen“ liegen ja oft auch in der theoretischen und philosophischen Tiefenstruktur. Die Frage ist natürlich eine nach der politischen Theorie, aber um Grabenkämpfe zu verstehen muss man, so meine ich, unbedingt auch in die („metaphysischen“) Grundlagen schauen. Gerade in Habermas‘ Ablehnung der Postmoderne ist das deutlich zu erkennen!
    https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/philosophie/fundamentalismuskritik-17095.html

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