Messen, Befragen, Befreien – Oliver Flügel-Martinsens ZPTH-Artikel in der Diskussion

Die Zusammenarbeit des Theorieblogs mit der Zeitschrift für Politische Theorie geht weiter, soeben ist das zweite Heft der Zeitschrift erschienen. Es versammelt Beiträge von Kari Palonen zu Begriffsdebatten und Debattenbegriffen, von Thomas Schölderle zum Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon, Raimund Ottow zur politischen Kultur Englands sowie Debattenbeiträge, Tagungsberichte und Review Essays. Ein weiterer Beitrag ist von Oliver-Flügel Martinsen und diesen können wir an dieser Stelle exklusiv als PDF-Download anbieten. Bei dem „Die Normativität von Kritik – Ein Minimalmodell“ überschriebenen Artikel handelt es sich um einen dichten, die Grundfragen politischer Theorie reflektierenden Beitrag. Wie schon bei der ersten Auflage dieses Diskussionsformats – der Diskussion von Bernd Ladwigs Beitrag – wird die Veröffentlichung durch einen Kommentar begleitet. Frieder Vogelmann setzt sich in diesem kritisch mit Oliver Flügel-Martinsens Minimalmodell einer normativen Kritik auseinander. Dabei blickt er von den Schlussfolgerungen des Artikel auf dessen Argumentationsgang zurück. Wer Genaueres wissen will, lese unter dem Strich weiter.

Wir freuen uns auf eine lebhafte Diskussion und werden voraussichtlich in ein bis zwei Wochen eine Replik von Oliver Flügel-Martinsen auf die bis dahin eingegangene Kritiken veröffentlichen. Aber nun zu Frieders Kommentar.

Messen, Befragen, Befreien. Zu Oliver Flügel-Martinsens Aufsatz »Die Normativität von Kritik«

Am Ende des ersten Absatzes, in dem die Wiederkehr der Kapitalismuskritik konstatiert wird, fragt Oliver Flügel-Martinsen, woran die Kritiker Anstoß nehmen – „und vor allem: Was erlaubt ihnen, Anstoß zu nehmen?“(140) Es ist die erste Formulierung der grundlegenden Frage des Artikels: Muss Kritik normativ sein, und wenn ja, welche Art der Normativität nimmt sie in Anspruch?

Dass Kritik normativ ist, steht dabei von Anfang an fest, schließlich beinhaltet sie eine Wertung, und sei es zu sagen: „So ist es falsch“ (140). Flügel-Martinsens Ziel ist – wie sein Untertitel bereits verrät –, ein Minimalmodell von Kritik zu entwerfen, in dem Normativität sich als unverzichtbar erweist und das doch keine eigene Konzeption der Normativität artikulieren muss, ehe sie zu kritisieren beginnen darf. Er wählt dazu die Strategie, der Normativität von Kritik durch Befragen jener Positionen auf die Schliche zu kommen, die sich selbst als anormativ verstehen; gesucht wird also nach den notwendigen Restbeständen von Normativität in jenen Kritiken, die sich jeder Normativität entziehen wollen.

Doch was ist eigentlich Normativität? Normativ ist, was sich als „wertende Einschätzungen“ (143) verstehen lässt. (Und Normativität? Die Quelle von Wertungen? Die Gründe für Wertungen?) Während ein ganzer Strang der Philosophie – Flügel-Martinsen nennt Korsgaard, Habermas, Forst und Gosepath – sich gegenwärtig darum müht, die dabei zum Einsatz kommenden Maßstäbe zu rechtfertigen und sich so erneut mit Lust dem Bau immer größerer Systeme widmet, will der Autor des Artikels mit einem „bescheideneren Verständnis von Normativität“ auskommen.

Anhand von Augustinus, Machiavelli und Spinoza zeigt Flügel-Martinsen, wie gerade jene Kritiken, die keine ausgearbeitete Konzeption von Normativität vortragen, sondern eine „normativ enthaltsame Forscherhaltung“ (148) einnehmen, eine radikale Befragung dessen ermöglichen, was Gegenstand ihrer Kritik ist. Ihre Normativität liegt in der „kritischen Distanznahme“ (148), nicht im Begründen positiver Maßstäbe, an denen das Kritisierte scheitert.

Da weder Augustinus, noch Machiavelli oder Spinoza diese befragende Haltung reflektierend zum Programm erheben, nimmt Flügel-Martinsen einen vierten Autor hinzu: Michel Foucault. Dessen genealogische Kritik wird als Verunsicherung des Bestehenden durch rückhaltlose Befragung vorgestellt. „Ihre Normativität speist die Kritik nicht aus Begriffen und Konzeptionen, auf die sie sich stützt, sondern die minimale Normativität der Kritik, die ihr aber gerade starke Züge verleihen können soll, verdankt sich dem Umstand, dass sie eine befragende Infragestellung dessen ist, was uns selbstverständlich zu sein scheint und damit häufig der Kritik enthoben bleibt.“ (151)

So wandelt sich am Ende, was unter Normativität zu verstehen ist: Nicht das Begründen eines Sollens, nicht die Rechtfertigung eines Maßstabs, sondern die Infragestellung des Bestehenden ist normativ. Sie wertet als falsch, was unveränderlich sich gibt und muss dafür die Möglichkeit des Anders-werdens erweisen. Es braucht zur Kritik keine neuen philosophischen Systeme, sondern eine kühle Analyse dessen, was sich als alternativlos ausgibt. Mehr nicht, und auch nicht weniger.

Sind damit jedenfalls die wichtigsten Stationen dieses dichten und interessanten Texts wiedergegeben, sollen im Folgenden drei Fragen oder Kommentare formuliert werden, die die Ergebnisse nutzen, um die Ausgangslage zu kritisieren. Das ist der Tatsache geschuldet, dass ich mit vielen Schlussfolgerungen zwar übereinstimme, jedoch Probleme mit dem Gang der Argumentation sehe. (Sollte ich damit die performative Dimension des Artikels unterschätzen, der sich ganz gemäß des vorgestellten Kritikmodells von den zu Beginn formulierten Selbstverständlichkeiten so weit distanziert, dass sie fraglich werden, ziehe ich angesichts dieser schönen Kongruenz von Wort und Tat meinen virtuellen Hut.)

1. Messen. Eine erste Nachfrage betrifft die Sprache des Texts. Insofern Kritik eine nicht zu vernachlässigende rhetorische Dimension besitzt, was gerade die von Flügel-Martinsen besprochenen Autoren demonstrieren, stellt sich die Frage, ob nicht auch das theoretische Sprechen über Kritik – ihr Theoretisieren – großen Einfluss auf die Kritik selbst hat. Wird dieser Punkt zugestanden, so kann man feststellen, dass der dominante Theoretisierungsmodus von Kritik eine ganz bestimmte Sprache spricht: Kritik „wertet“, sie verfügt über „Maßstäbe“ mit denen sie das Gegebene „misst“ und die ihr „erlauben“, es als falsch, verzerrend, schlecht etc. zu denunzieren. Diese Art des Theoretisierens von Kritik und das Kritikmodell, das ihr vor Augen steht, nenne ich „vermessend“; mir scheint damit ein auf der theoretischen Ebene eminent kraftvolles „Bild“ bezeichnet zu sein, das uns „gefangen hält“. Schuld hieran ist in hohem Maße die Sprache, in der wir über Kritik nachdenken. Schließlich beendet Wittgenstein seine Sentenz zum Bild, das uns gefangenhält, mit dem Satz: „Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“

Flügel-Martinsens Vorschlag einer befragenden Kritik setzt dieser vermessenden Kritik ein anderes Modell entgegen. Befragen ist eine andere Tätigkeit als Messen, die Normativität der Kritik entsteht hier aus dem Nachweis von Alternativen zu dem sich als alternativlos Gerierenden, nicht aus der Begründung der in der Kritik verwandten Maßstäbe. Dennoch bleibt Flügel-Martinsen auf der theoretischen Ebene der vom vermessenden Modell geprägten Sprache treu. Das führt zu Irritationen. Ist es nicht irreführend, von der Normativität dieser Kritik zu sprechen, wenn Normativität als ein „Werten“ eingeführt wird, die Wertung der befragenden Kritik jedoch kaum Anteil an ihrem Erfolg hat? Die befragende Kritik bezieht ihre Kraft aus dem Verfremdungseffekt, mit dem sie das Bekannte neu beschreibt und so für alternative Betrachtungsweisen „öffnet“. Dass sie dabei zu einer Wertung kommt, mag richtig sein, scheint aber gerade bei den von Flügel-Martinsen untersuchten Autoren nicht diskutiert zu werden, da diese Wertung nur ein Nebeneffekt der befragenden Kritik ist.

2. Befragen. Eine zweite Frage betrifft die Rekonstruktion der befragenden Kritik bei Augustinus, Machiavelli und Spinoza. Woran macht sich bei diesen Autoren fest, dass ihre Beschreibungen auch Infragestellungen sind? Man könnte auch formulieren: Wer hört eigentlich die Befragung? Unter welchen Umständen führt eine „normativ enthaltsame Methodik“ (145) zu einer Beschreibung, die von ihren Rezipient_innen als kritische Befragung verstanden wird? Die Bedingungen dafür sind deswegen wichtig zu skizzieren, weil ansonsten die befragende Kritik ein extrem weiter, ja formloser Begriff zu werden droht. Ließen sich etwa die Naturwissenschaften nicht gerade als Paradebeispiele einer befragenden Kritik begreifen?

Daran schließt sich das allgemeine Problem an, was eine Kritik – in all den hier diskutierten Fällen: ein kritischer Text – zur Kritik macht: ihr_e Autor_in, ihre Leser_innen oder die historische Tatsache, dass sie als Kritik Effekte gezeitigt hat? Und sind diese Kriterien nicht selbst wiederum abhängig von der Art der Kritik? Wären sie für die vermessende Kritik daher nicht andere als für die befragende?

3. Befreien. Mein letzter Punkt betrifft die Autoritätsverhältnisse im Wissen. „Was erlaubt es [den Kritikern; F.V.], Anstoß zu nehmen?“ (140), so formuliert Flügel-Martinsen seine Grundfrage, und man ist versucht, polemisch zu antworten: Darum muss sich die befragende Kritik nicht kümmern. Sie erfolgt nicht erst, wenn sie autorisiert wurde; die befragende Kritik müsste ihrer eigenen Normativität nach, gerade dort fragen, wo die scheinbare Alternativlosigkeit (zum Kapitalismus, zur Verantwortung, zum Umweltschutz, zur Gerechtigkeit,…) keine Frage zulässt. Deshalb spricht Foucault davon, dass die Kritik sich selbst das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte und die Macht auf ihre Wahrheitseffekte hin zu befragen (vgl. Was ist Kritik?, 15).

Deutlich wird die Gefahr, sich zu viel von jener theoretischen Sprache vorgeben zu lassen, die doch verlassen werden soll. Das Bild der vermessenden Kritik legt nahe, erst unsere Maßstäbe zu rechtfertigen und hierdurch die Genehmigung zur Kritik zu erhalten. Doch eine nicht an diese Vorstellung gebundene Kritik tut gut daran, sich klar zu werden, ob sie eine solche Frage überhaupt beantworten muss. Ihre Kraft mag nämlich auch darin liegen, sich von dem Bild zu befreien, in dem Kritik als Vermessung der verwalteten Welt deren Produktionsweise von Erkenntnissen übernehmen muss.

8 Kommentare zu “Messen, Befragen, Befreien – Oliver Flügel-Martinsens ZPTH-Artikel in der Diskussion

  1. Lieber Frieder, lieber Oliver Flügel-Martinsen,

    erstmal herzlichen Dank für den sehr spannenden Text und den sehr hilfreichen Kommentar. Im Folgenden einige viel zu lange Überlegungen hinsichtlich der Normativität und der Grenzen der befragenden Kritik.
    Wenn ich den Text richtig verstanden habe, versucht er eine Antwort auf ein Dilemma zu formulieren, vor dem viele kritische Geister – insbesondere solche mit postmodernen Sympathien – regelmäßig stehen. Das Dilemma ergibt sich aus zwei Prämissen: Einerseits ist Kritik ein inhärent normatives Unterfangen, das bereits begriffliche eine Wertung impliziert. Etwas zu kritisieren, schreibt Flügel-Martinsen, heißt zumindest zu sagen: „so ist es falsch“. Andererseits – und so entsteht das Dilemma – sind die normativen Maßstäbe, an denen die zu kritisierenden Handlungen oder Sachverhalte gemessen werden, nicht objektiv wahr bzw. richtig oder zumindest nicht intersubjektiv beweisbar. Wenn die zweite Prämisse richtig ist, scheint berechtigte Kritik unmöglich. Wie will man etwas kritisieren wenn es keinen intersubjektiv verbindlichen Maßstab gibt, an dem sich evaluative Begriffe wie richtig und falsch, gut und schlecht, gerecht und ungerecht, bemessen lassen? Man könnte dies das Dilemma des kritischen Postmodernismus nennen.

    Oliver Flügel-Martinsen schlägt nun folgenden Ausweg aus diesem Dilemma vor: Kritikerinnen sollten sich von dem gescheiterten Projekt der Begründung normativer Maßstäbe abwenden und sich stattdessen mit einer minimalen Normativität begnügen, die er als „Normativität der Öffnung“ verstanden wissen will. An die Stelle einer wertenden Kritik soll eine „befragende Kritik“ treten, die zwar nicht notwendigerweise Alternativen aufzeigen kann, jedoch dazu geeignet ist, die vermeintliche Alternativlosigkeit des status quo zu erschüttern. Eine solche Kritik wäre zugleich normativ bedeutsam ohne ungedeckte normative Geltungsansprüche zu erheben. Als Beispiele für eine solche Art der Kritik kommen mir etwa der Sponti-Spruch „ Geschichte ist machbar, Frau Nachbar“ oder der im progressiven Christentum verbreiteten Slogan „Eine andere Welt ist möglich!“ in den Sinn.

    Im Folgenden möchte ich drei miteinander verbundene Einwände gegen diese Auflösung des Dilemmas erheben: 1. Die befragende Kritik wechselt sowohl den Gegenstand als auch die Art der Kritik. 2. Die befragende Kritik ist zwar normativ bedeutsam aber nicht selber normativ. 3. Die befragende Kritik ist nur für einen Teil von kritikwürdigen Handlungen überhaupt relevant.

    1. Die befragende Kritik wechselt den Gegenstand der Kritik weil sie nicht Handlungen (z.B. Euro-Rettung) oder Weltzustände (z.B. globale Ungleichheit) kritisiert, sondern Überzeugungen von dem modalen Status dieser Handlungen bzw. Weltzustände. Der modale Status einer Aussage bezieht sich darauf, ob etwas notwendiger-, möglicher- oder kontingenterweise der Fall ist. So sind etwa alle Junggesellen notwendigerweise unverheiratet, aber es ist ein kontingentes Faktum, dass wir in einer Welt leben, in der der Reichtum so ungleich verteilt ist wie in dieser oder dass wir uns entschließen den Euro zu retten (wovor auch immer). Wenn ich Oliver Flügel-Martinsen richtig verstanden habe, dann ist es die Aufgabe der befragenden Kritik auf die Kontingenz von sozialen Fakten hinzuweisen und damit ihre Veränderbarkeit hervorzuheben. Eine solche Kritik kritisiert jedoch nicht die sozialen Fakten oder Handlungen als solche, sondern lediglich die Behauptung ihrer Unveränderbarkeit, d.h. ihrer modalen Notwendigkeit. Mit diesem Wechsel des Gegenstandes der Kritik verändert sich auch ihre Art. Eine solche Kritik zielt nicht auf die praktische Veränderung von Handlungsweisen oder Weltzuständen, sondern lediglich auf die Korrektur von falschen Überzeugungen hinsichtlich des modalen Status dieser Handlungen oder Weltzustände. Nehmen wir z.B. an ich wäre der Ansicht, dass man Cappuccino nur mit Sprühsahne herstellen kann. Jetzt macht mich aber mein Freund aus der Großstadt darauf aufmerksam, dass es in Berlin auch Cappuccino mit Milchschaum gibt, der ihm im Übrigen viel besser schmeckt. Diese Kritik richtet sich nicht notwendigerweise gegen meine Handlung, den Kaffee mit Sahne zu trinken, sondern lediglich gegen meine Überzeugung, dass ich andernfalls keinen Cappuccino mehr trinken würde. Nichts an der Kritik zwingt mich meine Handlungsweise zu verändern, sie zeigt lediglich auf, dass ich meine Überzeugungen ändern muss. Die Kritik ist somit epistemisch und nicht normativ.

    2. Trotzdem gebe ich Oliver Flügel-Martinsen recht, dass die befragende Kritik normativ bedeutsam ist. Allerdings nur in dem relativ trivialen Sinn, dass ein normatives Sollen die Veränderbarkeit einer Handlung oder eines Zustandes impliziert (Humes „ought implies can“). Veränderbarkeit ist also eine notwendige Voraussetzung für normative Kritik. Aber sie ist selber noch nicht normativ. So ist z.B. Wasser eine notwendige Voraussetzung für einen Cappuccino, aber eine Tasse Wasser ist deswegen noch lange kein Cappuccino, noch nicht einmal ein minimal-Cappuccino. Nichts an der Tatsache, dass es Wasser gibt, verpflichtet mich dazu einen Cappuccino zu kochen und nichts an der Tatsache, dass der Kapitalismus kein Naturgesetzt ist, verpflichtet mich dazu, Sozialist zu werden. Die Tatsache impliziert lediglich, dass ich mein Kapitalisten-Dasein nicht mit dem Verweis auf seine Alternativlosigkeit rechtfertigen kann, sondern ich gezwungen bin, mich in den Raum normativer Argumentation für und wider des Kapitalismus (oder des Cappuccinos) zu begeben.

    3. Die befragte Kritik scheint damit nur dann normativ bedeutsam zu werden, wenn bestimmte Handlungen mit Verweis auf ihre Unabänderlichkeit begründet werden. Sie scheint mir deswegen nur für die Kritik eines bestimmten Typus der Begründung von Handlungen relevant zu sein. So könnte ich z.B. ein Anhänger der Marktwirtschaft sein, weil ich naiver und geschichtsvergessenerweise den Kapitalismus für einen Teil der menschlichen Natur halte. Aber dies ist nicht die einzige denkbare Begründung. Zum Beispiel könnte ich nach der Lektüre Robert Nozicks auch der Ansicht sein, dass der Kapitalismus die einzige gerechte Form der Wirtschaftsorganisation ist. Gegen diese zweite Art der Begründung ist die befragende Kritik ein stumpfes Schwert. Leider fürchte ich, dass die Rhetorik der Alternativlosigkeit in den meisten Fällen lediglich eine Metapher für die normative Überlegenheit des status quo ist. Für die Kritik dieser Überzeugungen bedarf es genuin normativer Argumente.

    Die Länge des Kommentars zeigt, wie anregend ich den Text fand. Er scheint mir wirklich eines der zentralen Probleme der nicht-normativen kritischen Theorie auf den Punkt zu bringen!

  2. Lieber Frieder, lieber Oliver Flügel-Martinsen,

    ich kann mich Cord nur darin anschließen, dass sowohl der Text als auch der Kommentar zur Diskussion einladen. Mit meinen Fragen nehme ich diese Einladung an und freue mich auf eine spannende Diskussion.

    Die „minimale Normativität der Kritik“, so Flügel-Martinsen, „verdankt sich dem Umstand, dass sie eine befragende Infragestellung dessen ist, was uns selbstverständlich zu sein scheint und damit häufig der Kritik enthoben bleibt“ (151). Was ist damit gewonnen? Flügel-Martinsen zufolge einerseits die Bestätigung der weit verbreiteten These, dass Kritik unweigerlich normativ ist. Andererseits die (beruhigende) Erkenntnis, dass diese Normativität jedoch nicht auf eine lange Begründungskette angewiesen ist, sondern lediglich auf der Interrogation unserer Vorannahmen basiert, die eine „Öffnungs- und Distanzierungsbewegung“ ermöglicht.

    Im Folgenden möchte ich kurz auf zwei Punkte eingehen, die mir nach der Lektüre dieses interessanten und dicht argumentierenden Textes fragwürdig, d.h. einer Frage würdig, erscheinen.

    1) Wie radikal kann die befragende Infragestellung sein?

    Gadamer hat nicht nur in „Wahrheit und Methode“, sondern auch in seiner Auseinandersetzung mit Habermas nach meiner Einschätzung einleuchtend dargestellt, in welchem Umfang wir auf Vorannahmen (Vor-Urteile) angewiesen sind und dass selbst die Bewusstmachung und kritische Überprüfung von Vorurteilen immer nur partiell erfolgreich sein kann, da Kritik wiederum nolens volens auf Vorurteilen basiert. Diese Zirkularität, sollte Flügel-Martinsen ihr zustimmen, hätte drei nicht zu unterschätzende Konsequenzen für seine Argumentation: Erstens müsste er konstatieren, dass befragende Kritik zugleich beleuchtet und verschleiert, weil sich manche Vorannahmen der Reflektion verweigern. Dadurch würde Kritik selbst wiederum Kritik provozieren, welche die im ersten befragenden Durchgang als selbstverständlich erachteten Vorannahmen offenlegt und hinterfragt, dabei jedoch andere aus dem Blick verliert. Kurz: Kritik würde in einem infiniten Regress münden. Zwar ist sie damit keineswegs diskreditiert, doch die Öffnungs- und Distanzierungsbewegung, die laut Flügel-Martinsen von ihr ausgeht, wäre somit immer „nur“ eine relative und vorübergehende. So weit so gut. Für seine Argumentation problematisch wird diese Zirkularität nach meiner Einschätzung erst durch sein verkürztes Verständnis von „Kritik“.

    2) Warum wird Kritik ausschließlich negativ definiert?

    Denn mit dem Credo „ Kritik (…) sagt: „So ist es falsch“ (140), bleibt der Begriff einer umgangssprachlichen Verwendung verhaftet. Dass vor allem im philosophischen und wissenschaftlichen Vokabular sinnvoller Weise zwischen verschiedenen Arten von Kritik (man denke hier neben negativer und „destruktiver“ Kritik etwa an „konstruktive“ bzw. positive Kritik oder auch an Selbst-Kritik) unterschieden wird, unterschlägt Flügel-Martinsen dabei. Für seinen weiteren Gedankengang ist diese Verkürzung des Begriffs nicht unwesentlich. Denn zu seiner Schlussfolgerung, dass „Kritik unvermeidlich auf Normativität verweist, Normativität aber nicht unbedingt kritisch sein muss“ (143), gelangt er, indem er die Affirmation bestehender Verhältnisse als das „Gegenteil“ von Kritik bezeichnet (ebd.). Aber Kritik ausschließlich negativ zu definieren, würde das nicht bedeuten, das Ergebnis der befragenden Infragestellung bereits im Vorhinein einzugrenzen und damit den Verlauf der Interrogation zu manipulieren? Warum sollte das Ergebnis der kritischen Prüfung nicht auch die Affirmation bestehender Verhältnisse miteinschließen können? In Anbetracht der oben erwähnten zirkulären Vorurteilsstruktur menschlichen Denkens und als Reaktion auf eine weitere Zuspitzung von Flügel-Martinsen lässt sich das mir vorschwebende Problem wohl noch genauer fassen. So schreibt er: „Als falsch erscheint (…) nämlich immer genau das, was sich gegen eine Befragung von vornherein zu immunisieren sucht, indem es sich als alternativlos darstellt“ (152).

    Bringt man nun die Positionen von Gadamer und Fügel-Martinsen zusammen, so ergibt sich folgende Frage: Wenn die befragende Infragestellung von Vorurteilen immer nur partiell erfolgreich sein kann und somit stets manche Vorurteile, welche sich der Reflektion verweigern (und gar nicht erst befragungswürdig erscheinen), als „falsch“ diskreditiert werden, wäre dann nicht die von diesen „falschen“ Vorurteilen ausgehende Denkbewegung in gewisser Weise zum Scheitern verurteilt, bevor sie überhaupt in Gang kommt? Oder möchte Flügel-Martinsen unter der Hand doch eher einen gegen Gadamer (und Foucault) gerichteten „positivisme malheureux“ (unglücklichen Positivismus) wieder einführen, der glaubt, alle Vorurteile einer kritischen Befragung zugänglich machen zu können und dadurch eine radikale Öffnungs- und Distanzierungsbewegung bewirkt?

    Auch auf die Gefahr hin, dass beide Fragen den Kern der Argumentation verfehlen, verbinde ich mit Ihnen die Hoffnung, dass sich auch ein Missverständnis als produktiv erweisen könnte.

  3. Normativität von Theorie – theoretisch und praktisch. Kommentar zu Oliver Flügel-Martinsens „Die Normativität von Kritik“

    Unter der Frage nach der ‚Normativität von Kritik‘ widmet sich Oliver Flügel-Martinsen dem metatheoretischen Streit um den Status des Normativen in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Angesichts der „zwiespältigen Lage“ des auf die scharfe Aporie: „die Einnahme eines normativen Standpunktes [ist] gleichermaßen unumgänglich und unmöglich“ gebrachten Streites bescheidet sich F.-M. mit einer vorläufigen Auflösung (142). Sein „Minimalvorschlag“ (ebd.) normativer Kritik soll sich der Aporie entziehen, indem er auf die Formulierung einer umfassenden Normativitätsbegründung als Maßstab der Kritik verzichtet und auf eine Form der Kritik setzt, die sich „mit einem bescheideneren Verständnis von Normativität begnügen“ kann (144). Das bescheidenere Verständnis besteht dabei darin, Kritik nicht an eine starke Konzeption der Normativität zu binden, welche als Standpunkt oder Grund der Kritik vorausgesetzt wird, sondern die Normativität aus der der Kritik inhärenten „kritischen Distanznahme“ (144) selbst abzuleiten.

    Es muss zunächst jenes seltsame ‚und‘ der Ausgangsanalyse der Aporie zwischen Unumgänglichkeit und Unmöglichkeit der Einnahme eines normativen Standpunktes überraschen. Entweder die Einnahme eines normativen Standpunktes ist unmöglich, dann kann sie nicht möglich, also auch nicht unumgänglich sein, oder aber sie ist unumgänglich, dann muss sie auch möglich, kann also nicht unmöglich sein. Dieser Widerspruch löst sich bei F.-M. zur einen Seite dadurch auf, dass es F.-M. eigentlich nicht um die Unmöglichkeit der Einnahme eines normativen Standpunktes geht, sondern um die Unmöglichkeit „normativer Konzeptionen“ (141), genauer: umfassender normativer Konzeptionen. Hierauf komme ich noch zurück. Der Widerspruch löst sich zur anderen Seite auf, weil F.-M. auch nicht davon ausgeht, dass die Einnahme des normativen Standpunktes unumgänglich ist. Sie bleibt nämlich als – etwas paradoxe – Möglichkeit der „anormative[n] Haltung“ (151) bis zum Schluss erhalten. Paradox ist diese Beibehaltung der Möglichkeit anormativer Argumentation, als dass gerade sie es ist, die wiederum, auf Grund der durch sie ermöglichten reflexiven Distanznahme, gerade die Normativität von F.-M. Minimalkonzeption begründet.

    Folgt man von hier aus der nach F.-M. scheinbar leicht zu begründenden These der Unumgänglichkeit der Einnahme eines normativen Standpunktes („Sie muss nicht mehr tun, als den exegetischen Nachweis erbringen, dass sich die behauptete Anormativität in den Theorien selbst nicht durchhalten lässt“ (142)), so stünde erstens die bei F.-M. eigentümlich unterschlage Frage nach der Bewertung der (Minimal-)Normativität der Öffnung im Raum – auch hierauf komme ich zurück. Zum zweiten würde der „[b]erechtigt[e] Hinweis […] anormative[r] Argumentationen“, dass „der plausible Aufweis normativer Konzeptionen sich als ausgesprochen schwieriges Unterfangen erweist“ (141) – hinsichtlich dessen Möglichkeit des Gelingens sich F.-M. skeptisch zeigt (142 Fn 3) – sich als ein berechtigter Hinweis einer normativen Argumentation entpuppen. Würde eine Analyse hier zu Tage bringen, dass der ‚anormative‘ positivisme heureux dem modernen szientistischen Positivismus enger verbunden ist, als ihm selbst lieb ist – und in einem sprachphilosophisch geprägten wissenschaftlichen Klima lieb sein kann? Welche Begründungsanforderungen werden denn hier eigentlich an eine umfassende Konzeption des Normativen gestellt? Wann wäre eine solche Konzeption plausibel? Was implizieren die Begründungsanforderungen?

    Und auch wenn, unbeachtet der Frage nach den Begründungsanforderungen an eine plausible Konzeption des Normativen, die theoretische Philosophie in der Lage wäre, jegliche Konzeptionen des Normativen hinsichtlich ihrer Objektivitätsansprüche in Frage zu stellen, was bedeutete dies für die praktische Philosophie und die Politische Theorie? Immerhin erscheint der vorliegende Aufsatz ja in einer Zeitschrift, die sich der letzteren Disziplin zuwendet. Angesichts des ‚quasi-ontologischen‘ (Habermas) Status normativer Wahrheit, i.e. der Tatsache, dass wir in normativen Argumentationen ‚Letztbegründungen‘ – mehr oder weniger reflektiert, mehr oder weniger bewusst – in Anspruch nehmen, stellt sich aus politischer Sicht weniger die Frage nach der reinen Möglichkeit einer solchen Letztbegründung, sondern öffnet sich ein Raum spezifisch politischer Fragen, etwa: welche normative Position nimmt ein Autor ein, was sind die Folgen seiner Argumentation für die politische Praxis?

    In dieser Differenzierung theoretischer und praktischer Fragen mag eine Form liegen, welche das zu Beginn thematisierte ‚und‘ der Aporie zu denken erlauben würde – wobei freilich einiges an aporetischem Charakter (und wechselseitiger Irritation) verloren ginge. Doch will ich hier noch einmal zur ‚Minimalkonzeption‘ von F.-M aus praktischer Sicht. Zunächst, betrachtet man sich die spezifische Normativität derselben, beschleicht mich der Verdacht, dass die als minimal ausgegebene Konzeption so minimal gar nicht ist. F.-M. vermeint sich mit seiner Konzeption ‚relativistischen‘ Kritiken zu entziehen, als die von ihm skizzierte Form der Kritik keiner „begründete[n] Konzeption von Normativität, die einen Maßstab des Gesollten formuliert“ bedürfen soll, keines „Maßstabs des Richtigen“ (152). Wenn F.-M. aber von der „Normativität der Öffnung“ spricht, davon, dass es der von ihm skizzierten Kritik als „falsch erscheint […], was sich gegen eine Befragung von vorneherein zu immunisieren sucht“, wie kann er dann vermeiden, den „Aufweis des Zukünftig-anders-sein-Könnens“ als richtig anzusehen (152f.)? Wenn F.-M. dies nicht vermeiden kann, bleibt die Frage, warum dies richtig ist, resp. warum die semantische Stillstellung des Anderen, des Alternativen falsch ist. Ohne die Richtigkeit und Wichtigkeit, ohne das Gute dieser Norm in Frage stellen zu wollen – es verweist diese Frage darauf, dass hier erheblich mehr normativer Tiefgang im Spiel ist, als suggeriert wird. Die Normativität der Minimalkonzeption, so F.-M. – in auffallendem performativem Widerspruch zur Praxis der Textproduktion – speise sich „nicht aus Begriffen und Konzeptionen“, so F.-M. (151). Die Beantwortung der Frage nach dem Warum der Richtigkeit jedoch würde sich ohne umfassendere Konzeptionen wohl kaum bewerkstelligen lassen.

    Darauf, dass auch die von F.-M. anvisierte Normativität, auch wenn sie scheinbar in der Kritik selbst verortet wird, nicht ohne eine vorgängige Konzeption auskommt, welche eine kritische Haltung als normativ erstrebenswert auszeichnet, verweist auch der Blick in die Praxis. Politische Regime, welche der Normativität des Zukünftig-auch-anders-sein-Könnens keine allzu große Wertschätzung entgegenbringen, verweisen auf den manifesten Sollenscharakter dieser Normativität: sie verweist auf die institutionelle Normierung, von Rede- und Meinungsfreiheit über Publikations-/Pressefreiheit bis hin zu spezifischen Regierungsformen und Formen des Machtwechsels. Die Tatsache, dass auch die Normativität der Kritik theoretisch auf tiefer gehendere Wertschätzung der Kritik verweist, spiegelt sich in den praktischen Bedingungen und Voraussetzungen von Kritik.

    Wenn nun aber auch die Konzeption von F.-M. eine umfassendere Konzeption von Normativität zumindest impliziert, welches sind die spezifischen Ausblendungen dieser normativen Konzeption? Jens verweist hier in seinem Beitrag auf die problematischen Folgen der Präskription des Negativen. Es ließe sich hier anschließen in Form jener Kritik, die Charles Taylor gegen Jürgen Habermas richtet: nicht davon sprechen zu können, was eigentlich wichtig an der skizzierten Normativität ist, warum wir sie wertschätzen sollten. Sie bleibt hier schlicht sprachlos. Dies prolongiert sich in jene argumentative Schwäche, auf die der Beitrag Cords hinweist. Und schließlich müsste sich die vorgeschlagene Konzeption nicht nur auf Grund der ihr eigenen Sprachlosigkeit fragen lassen, in wie weit sie nicht eigentlich in einer Nähe steht zu dem, was sie doch eigentlich erschüttern wollte – was, wenn der Yuppie Deleuze als Affirmation seiner neoliberalen Ideologie liest (Žižek)? Fragen, die sich an die in Frieders Beitrag aufgemachte Kategorie des Hörers anbinden lassen.

    In freudig gespannter Erwartung der Replik,

    G.S.

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