Im Rahmen unserer Blogpost-Reihe zum Verhältnis von Politischer Theorie und Ideengeschichte plädiert Imadé Aigbobo dafür, Theoriebildung als Mittel zu betrachten, fragwürdige Kanon-Entscheidungen zu hinterfragen und Rezeptionsblockaden aufzulösen.
Warum braucht die Ideengeschichte die Politische Theorie? Weil die Ideengeschichte das Archiv und Arsenal politischer Ideen nicht nur verwaltet, sondern ständig neu ordnen muss, um lebendig und relevant zu bleiben. Die Theoriebildung kann hierbei kreative Impulse setzen, Rezeptionsblockaden lösen, vermeintlich im Archiv verstaubte politische Ideen für gegenwärtige Kontexte aktualisieren und so das Arsenal dynamisieren. Am Beispiel der Wiederentdeckung Max Stirners durch Saul Newman will ich zeigen, wie eine politische Theorie geschichtlich marginalisierte Konzepte reaktiviert, sie in gegenwärtige Deutungskämpfe überführt und für das Arsenal waffenfähig macht.
Die Ideengeschichte als Deutungskampf
Versteht man die politische Ideengeschichte mit Marcus Llanque als „Archiv“ und „Arsenal“ (2008, S. 1ff.) des politischen Denkens, wird deutlich, dass diese nicht als ein abgeschottetes Experimentieren im vermeintlich vorpolitischen Feld, sondern vielmehr als ein Kampf um Ideen und der Ideen um Deutungshoheit im Handgemenge gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen begriffen werden muss. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass der hegemoniale Kanon politischen Denkens nicht das Ergebnis einer unvoreingenommen akademischen Debatte, sondern eines fortwährenden Deutungskampfes ist. Daraus folgt selbstverständlich, dass sich bestimmte Diskursformationen als hegemonial durchsetzen und dadurch einen großen Einfluss über die Ordnung des ideengeschichtlichen Archivs und Arsenals gewinnen. Diese hegemoniale Vorselektion prägt dann das weitere politische Denken, wodurch aus dem Kanon ausgeschlossene Theorien ein Schattendasein im Archiv fristen. Trotz potenziell fruchtbarer Anknüpfungspunkte für gegenwärtige Debatten geraten sie somit gar nicht erst ins Blickfeld der Theoriebildung, werden nicht aktualisiert und in das Arsenal des politischen Denkens überführt.
So zeigt etwa Martin Oppelt am Beispiel der Rezeption der politischen Theorie Jean-Jacques Rousseaus im Kommunitarismus, wie die verengende Verschlagwortung Rousseaus unter Totalitarismus oder Liberalismus im Arsenal der politischen Ideengeschichte sowie eine hegemoniale Interpretation seiner Ideen als proto-totalitär, die ihm eine fehlende Anschlussfähigkeit für gegenwärtige politiktheoretische und gesellschaftspolitische Debatten zuschreibt, zu „Rezeptionsblockaden“ gerinnen (Oppelt 2018). Diese führten „zu Verknappungen und Leerstellen in gesellschaftspolitischen Debatten um die Herausforderungen, Gefahren und möglicherweise nötigen Transformationen der Demokratie“ (ebd., S. 326). Ferner hätten sie zur Folge, dass Akteur:innen, die im politischen Deutungskampf auf das Arsenal der politischen Ideengeschichte zurückgriffen, nur politiktheoretische „Waffensysteme“ vorfänden, denen vom hegemonialen Kanon eine erwiesene Erklärungs- und Wirkungskraft zugeschrieben worden sei. Dadurch werde die Ordnung des Arsenals jedoch zu exkludierend und statisch, wodurch die Etablierung grundlegender theoretischer Alternativen und alternativer Interpretationswege klassischer Denker:innen erschwert werde (vgl. ebd., S. 324ff.).
Theoriebildung als Mittel zur Überwindung von Rezeptionsblockaden
Meine These lautet daher, dass die Theoriebildung der normativen und theoretisch-systematischen Politischen Theorie einen wesentlichen Beitrag zur Auflösung dieser Rezeptionsblockaden und zur Dynamisierung des Archivs und Arsenals der politischen Ideengeschichte leistet. Die mit dem „Und“ ausgedrückte, meiner Ansicht nach unverzichtbare Wechselwirkung der politischen Theorie und Ideengeschichte, ergibt sich folglich nicht nur durch die Bereitstellung des Archivs und Arsenals politischen Denkens für die politische Theorie durch die Ideengeschichte, sondern ebenso durch die Dynamisierung des Archivs und Arsenals der Ideengeschichte durch eine von ideengeschichtlichen Erkenntnisinteressen unabhängige Theoriebildung.
Diese These möchte ich an dem Beispiel der Theoriebildung eines politischen Theoretikers und dessen Aktualisierung einer von Rezeptionsblockaden beladenen Theorie verdeutlichen, die im Kanon des politischen Denkens nur einen äußerst randständigen Platz einnimmt. Genauer gesagt handelt es sich hierbei um die Rezeption und Aufnahme der Theorie des Philosophen Max Stirners in die Entwicklung einer politischen Theorie des Postanarchismus im Werk des britischen Politikwissenschaftlers Saul Newman. Bevor jedoch auf diese eingegangen wird, soll zunächst ein kurzer Blick auf die Rezeptionsgeschichte Stirners und die Rezeptionsblockaden, die sich aus den Interpretationen seiner Philosophie herausbildeten, eingegangen werden. Es ließen sich gewiss auch Beispiele aus weniger randständigen Positionen anführen, doch gerade die Theoriebildung und das Aufzeigen grundlegender politischer Alternativen und Interpretationswege in solchen Randpositionen verdeutlichen die Möglichkeit, etablierte Rezeptionsblockaden aufzulösen und das Arsenal zu dynamisieren.
Zur Rezeptionsgeschichte Max Stirners
Mit der Veröffentlichung der Dissertation des Ideenhistorikers Ulrich Pagel erschien im Jahr 2020 eine umfassende Rekonstruktion der Rolle Max Stirners im Diskurs des Junghegelianismus, des Entstehungskontexts seiner Publikationen sowie des Abfassungszusammenhangs der Manuskripte zur ‚Deutschen Ideologie‘ von Karl Marx und Friedrich Engels. Überzeugend zeigt Pagel auf, welche zentrale Rolle Stirner nach der Veröffentlichung seines Hauptwerks im Ausgang der junghegelianischen Debatte einnahm und welchen entscheidenden Beitrag die intensive Auseinandersetzung von Marx und Engels mit Stirners Ideen zur Entwicklung ihres historischen Materialismus und ihres Ideologiebegriffs leistete. Marx‘ und Engels Interpretation Stirners im mehr als 400 Seiten umfassenden Manuskript „Sankt Max“, welches den Großteil des erstmals im Jahr 1932 unter dem Namen „Die Deutsche Ideologie“ veröffentlichten Manuskriptkonvoluts ausmacht, kann als die primäre Rezeptionsblockade betrachtet werden, welche die Aktualisierung Stirners Denkens, besonders für eine radikale Politik, verhinderte. So lässt sich, laut Pagel, die Entwicklung der Begriffe „Ideologie“ und „Kleinbürger“ im Rahmen ihrer Kritik an Stirner als Teil einer Delegitimierungstrategie im Deutungskampf des Junghegelianismus verstehen, welche es Marx und Engels ausgehend von ihrem historisch-materialistischen Ansatzes erlaubte, Stirner als ideologisierenden Kleinbürger zu kritisieren, dessen Philosophie jede Form von Emanzipation verhindern würde (ebd., S. 666).
Diese zunächst von marxistischen Theoretiker:innen aufgenommene Interpretationslinie durchzieht in jeweils unterschiedlichen Variationen bis heute die Rezeption Stirners. Beispielsweise sieht sich Jürgen Habermas, der sich in seiner Dissertation intensiv mit Stirner beschäftigte, nach dem Verweis auf die Ähnlichkeit dessen Denkens mit Nietzsche dazu gezwungen klarzustellen, dass „das aus der Armut und der Enge hervorgetriebene Mittelmaß [Stirners] durch einen Abgrund von der Radikalität des Genies [Nietzsches] geschieden ist“ (Habermas 1954, S. 24). Aufgegriffen wurde diese Interpretationslinie auch von Alex Gruber und Philipp Lenhard, denen Stirner „als einer der frühesten und wichtigsten Vertreter ‚deutscher Ideologie‘“ (Gruber/Lenhard 2014, S. 21) gilt, dessen Ideen mit der „Volksgemeinschaft der Nazis oder [dem] islamistische[n] Racket des 21. Jahrhunderts“ (ebd.) in Verbindung zu bringen seien.
Eine weitere Rezeptionsblockade ergibt sich freilich durch das Werk selbst. Stirners bewusst unsystematische Darlegung seiner radikalen Thesen und die polemische Sprache, mit der er das aufklärerische Denken seiner Zeitgenossen angreift, können bis heute bei vielen Leser:innen zu Abwehrreaktionen führen. Der Philosoph Jacob Blumenfeld bringt die Provokation Stirners prägnant auf den Punkt:
„Stirner’s philosophy is a big fuck you to every progressive and liberal viewpoint. It is not expressed in the name of some superior tradition, race, gender, or nationality. Fuck them all, Stirner says, and fuck you too. I don’t care about your values, your issues, your cause—I care about me. Only after we learn how to care for ourselves can we begin to care for each other as singular equals, and not as generic representatives of groups, classes, identities, and states. That is Stirner’s provocation.“
Bei aller „philosophico-political seriousness“ (Derrida 1994, S. 151), die Stirners Denken im Laufe der Zeit von einflussreichen Denker:innen – wenn auch nur in Randbemerkungen – zugesprochen wurde, führte dies dazu, dass einer Betonung der fruchtbaren Elemente seiner Philosophie oft ein polemischer Abriss beigefügt wurde. So beendet etwa Jürgen Habermas, der „Stirners Analysen zum Ausgangspunkt“ seiner Dissertation machte, nachdem er deren Konsequenz und Radikalität zu würdigen schien, sein Stirner-Kapitel mit einem Verweis auf die „Absurdität der Stirnerschen Raserei“.
Es ließe sich noch eine Reihe weiter Interpretationslinien und Rezeptionsblockaden aufzählen. Es sollte allerdings bereits deutlich geworden sein, dass Stirners Ideen, besonders der politischen Dimension seines Denkens, im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte von hegemonialen Diskursformationen keine für die Aufnahme in das Arsenal des politischen Denkens notwendige Erklärungs- und Wirkungskraft zugesprochen und sie in die abgelegenen Ecken des Archivs verbannt wurden.
Von der Randfigur zum waffenfähigen Denker
Erst Saul Newmans Diskussion und Aufnahme zentraler Konzepte Stirners Philosophie in seine Entwicklung einer politischen Theorie des Postanarchismus, sorgte dafür, dass Stirners Ideen in politik-theoretische Debatten aufgenommen wurde. Im Wesentlichen geht es in Newmans Ansatz des Postanarchismus, wie auch bei anderen Denker:innen, die dem postanarchistischen Diskurs zugerechnet werden, um die Aktualisierung des klassischen Anarchismus, dem – meist stark verkürzt – ein Hang zu essentialistischen, naturalistischen, universalistischen, eurozentrischen und epistemologischen Grundannahmen unterstellt wird (vgl. Eibisch 2024, S. 144). Durch den Rückgriff auf die postmoderne und poststrukturalistische Werkzeugkiste, sowie im Falle Newmans durch die Bezugnahme auf die Theorie Stirners, wird in der postanarchistischen Theoriebildung versucht, den Anarchismus von diesen essentialistischen Grundannahmen zu entkernen und zugleich seinen ethischen Gehalt für die radikale Politik des 21. Jahrhundert zu aktualisieren. Ausgehend von einer originellen Lesart betrachtet Newman Stirner als ersten Theoretiker des Zerfalls der großen Metanarrative (vgl. Newman 2016, S. 40). Er liest ihn somit als einen proto-postmodernen Denker, der sich bereits im Vormärz mit den sozio-politischen Konsequenzen und Potenzialen dieser Entwicklung auseinandergesetzt hat und deshalb auch für eine radikale Politik im Zeitalter der Kontingenz anschlussfähig ist.
Durch die Rezeption Stirners im Rahmen seiner Theoriebildung zeigt Newman somit nicht nur auf, dass dessen nahezu vergessenes Werk eine wichtige Verbindung in der Entwicklung einer politischen Theorie darstellt, die sowohl die Fallstricke staatlich zentrierter sozialistischer Ansätze als auch des anarchistischen Humanismus vermeidet (vgl. Laclau in Newman 2001, S. xii). Vielmehr wird hierdurch auch deutlich, dass die Einordnung von Stirners Werk im Archiv der politischen Ideengeschichte neu ausgehandelt werden muss und die Ideen eines im Arsenal unbeachteten Denkers waffenfähig gemacht und in die Deutungskämpfe der Gegenwart überführt werden können.
Das dynamische Zusammenspiel von Theorie und Ideengeschichte
Wie anhand dieses Beispiels veranschaulicht wurde, profitiert die Theoriebildung nicht nur von dem im Arsenal zur Verfügung gestellten Fundus an Ideen, Argumenten und Modellen politischen Denkens, sondern ist selbst Teil des Deutungskampfes, der zu einer stetigen Neuordnung des Archives und Arsenals beiträgt. Rezeptionsblockaden können gelöst werden, indem durch die Theoriebildung gezeigt wird, das jenseits hegemonialer Interpretationen und Verschlagwortungen anschlussfähige Interpretationswege existieren. Das „Und“ der politischen Theorie und Ideengeschichte verweist so gesehen auf dieses unverzichtbare Zusammenspiel zweier Disziplinen, die nur aus dieser dynamischen Verbindung heraus als Kreativitätsreserve der Politikwissenschaft und ideenpolitische Ressource fungieren können.
Imadé Aigbobo studiert den Masterstudiengang „Sozialwissenschaften: Konflikte in Politik und Gesellschaft“ an der Universität Augsburg und ist dort studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte.