Viele der heutigen Zeitdiagnosen attestieren unserer Demokratie, dass sie sich in einem prekären Zustand befindet. Als die zwei zentralen Herausforderungen sind ein aufstrebender Populismus und postdemokratische Tendenzen zu nennen, die für angespannte Konfliktlinien entlang divergierender Lebensstile sowie einen schleichenden Prozess der Aushöhlung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten stehen. Steffen Herrmann, dessen Habilitationsschrift „Demokratischer Streit: Eine Phänomenologie des Politischen“ am Ende vergangenen Jahres in Gestalt eines Buchforums an der Universität Wien besprochen wurde, vertritt die These, dass durch eine sich gegenwärtig verschärfende gesellschaftliche Spaltung ein genuin politischer Streit um die gemeinsame Lebensgestaltung aus dem Fokus gerät. Mit seinem Buch will Herrmann die Bedeutung des politischen Streits als produktives demokratisches Element betonen. Der Tagungsbericht orientiert sich argumentativ am Hergang des Buchforums. So wird zunächst Herrmanns Konzept von Demokratie als „Streitganzem“ beschrieben, um sodann zu prüfen, inwiefern die Methode einer politischen Phänomenologie in besonderer Weise ermöglicht, jenes Konzept nicht nur zu analysieren, sondern auch praktisch zu erweitern. (mehr …)
Autor: Vanessa Ossino
„Nutze den Tag!“ – Zeitempfinden und Arbeitsdisziplin im Kapitalismus
In dieser Woche setzen wir unsere Blogpost-Reihe zum Thema Zeit fort und starten mit einem Beitrag von Vanessa Ossino. Sie diskutiert die Zeitlogik des Kapitalismus und argumentiert für das politische Potenzial von Passivität.
Wir alle wissen: Zeit ist Geld. In einer Kultur, in der Zeit als Wert und Ware gehandelt wird, wiederholt sich jenes Motto als Mantra in unzähligen Köpfen von fleißigen und effektiven Menschen oder wird zum Zukunftshorizont für diejenigen Personen, die es allererst werden wollen. Dass Zeit Geld ist, wusste schon derjenige Mann, dessen Gesicht heute den 100 Dollarschein schmückt: Benjamin Franklin. Im Glanze der puritanischen Disziplin bürgerlicher Zeiteffektivität kritisierte der amerikanische Staatsmann, der sich zeit seines Lebens für Uhren interessierte und mit dem Erfinder der Kontrolluhr befreundet war, diejenigen Personen, die ihre Zeit „sorglos vertändeln“, da sie „in Wahrheit Geldverschwender“ seien. Die Verbreitung dieses Mantras ist ein historisch spannender Effekt puritanischer Arbeitsdisziplin, die sich als ein wesentliches Element der industriellen Revolution und dem daraus resultierenden Industriekapitalismus auszeichnet. Schon Karl Marx wusste, dass Arbeitskampf immer auch Kampf um Zeit und die Verfügung über Zeit eine wesentliche Modalität der ursprünglichen Akkumulation ist. Die lineare Zeit der kapitalistischen Produktionsweise hat einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, so Marx, dass sich eine Arbeiterklasse entwickelt hat, „die aus Erziehung, Tradition [und] Gewohnheit die Anforderungen der Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt“. Es gilt also danach zu fragen, welche Denkfiguren und Praktiken Räume eröffnen können, die eine Potentialität für ein Jenseits kapitalistischer Zeitlogiken bereithalten. (mehr …)
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