Lefort-Schwerpunkt: Ein Blick jenseits des Rheins: Die französischsprachige Lefort Rezeption

In den vergangenen Jahren ist Claude Lefort im deutschsprachigen Raum vor allem als Radikaldemokrat in Erscheinung getreten, spätestens seit seiner Erwähnung als einer der zentralen Referenz-Autor:innen im Handbuch Radikale Demokratietheorie. Wenn man allerdings auf den französischsprachigen Raum blickt, zeichnet sich ein etwas anderes Bild: Es fällt vor allem auf, dass Lefort vielschichtiger gelesen wird.  So wird beispielsweise seine eigenwillige Lese- und Denkmethode, die auch literarische Texte miteinschließt, herausgestrichen, seine Interpretationen demokratischer Ereignisse in Ländern der ehemaligen Sowjetunion beleuchtet sowie Verbindungen zur Psychoanalyse herausgestellt. Die radikaldemokratische Auslegung stellt dabei nur eine der zahlreichen Facetten seines Denkens dar.

Deswegen möchte dieser Beitrag zum einen dafür argumentieren, Lefort nicht nur als Radikaldemokraten zu verstehen, sondern, inspiriert von französischsprachigen Auseinandersetzungen, vielschichtiger zu lesen, beispielsweise als eigenwilligen Machiavelli- oder LaBoétie-Interpreten, oder literarisch versierten politisch-phänomenologischen Philosophen. Zum anderen ergäben sich aus dieser komplexeren Lesart neue Perspektiven für radikaldemokratische Auslegungen, beispielsweise in Bezug auf sein Demokratie- und Politikverständnis. Um diesen möglichen Horizont aufzuzeigen, soll nun im Folgenden, nach einem kurzen Blick auf den deutschsprachigen Raum, die breitere französischsprachige Rezeption schlaglichtartig beleuchtet werden.

Ein kurzer Blick auf den deutschsprachigen Raum: fehlende Übersetzungen und eine überschaubare Rezeption

Die deutschen Übersetzungen von Leforts Werken halten sich in einem überschaubaren Rahmen. So gibt es lediglich eine von Rödel 1990 herausgegebene Aufsatzsammlung Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie mit Texten von Lefort und Castoriadis. Darüber hinaus erschienen 1999 der mittlerweile vergriffene Artikel Fortdauer des Theologisch-Politischen? und 2008 Die Bresche. Essays zum Mai 68 sowie einige Auszüge aus Les Formes de l’histoire im 2017 von Felix Trautmann herausgegebenen Band Das Politische Imaginäre. Eine Übersetzung von Le Temps présent. Écrits 1945-2005 ist seit längerer Zeit bei Suhrkamp unter dem Titel Die leere Mitte angekündigt; der Erscheinungstermin jedoch weiterhin ungewiss.

So mag es nicht verwundern, dass es im deutschsprachigen Raum an Monografien, Special Issues und Sammelbänden fehlt, die sich ausschließlich mit Lefort oder zumindest vorrangig mit Lefort befassen (Ausnahmen sind der Sammelband Am leeren Ort der Macht. Das Staats- und Politikverständnis Claude Leforts (2013) oder Gefährliche Freiheit. Rousseau, Lefort und die Urspränge der radikalen Demokratie (2016)). Ebenfalls mangelt es noch an einer deutschsprachigen Einführung, die sich ausschließlich mit Lefort befasst. Seit geraumer Zeit häufen sich lediglich einzelne Kapitel zu Lefort (beispielsweise in Die politische Differenz (2010) oder Neue Philosophien des Politischen zur Einführung  (2012)).

Diese spärliche Übersetzung macht es für Leser:innen, die nicht der französischen Sprache mächtig sind, beinahe unmöglich, die Tiefe und Komplexität des Werkes von Lefort zu durchdringen und führt gleichzeitig zu einer teils sehr einseitigen Rezeption, die sich insbesondere auf die übersetzten Texte aus dem Jahr 1990 bezieht. Die insgesamt eher eindimensionale Rezeption im deutschsprachigen Raum ließe sich zumindest teilweise durch die fehlenden Übersetzungen erklären. Denn selbst im Feld der Radikalen Demokratietheorien gibt es andere französische Autor:innen, von denen es weitaus mehr Übersetzungen gibt, so beispielsweise Jacques Rancière oder Jean-Luc Nancy.

Ein Blick über den Rhein: eine erhöhte Aufmerksamkeit in den vergangenen zehn Jahren

Man sollte meinen, dass durch die fehlende sprachliche Hürde im französischsprachigen Raum die Chancen für eine breitere Rezeption für Lefort von Anfang an besser standen. Aber auch hier ist Lefort lange Zeit „unter dem Radar“ gelaufen. Erst in den letzten zehn Jahren häufen sich die Publikationen zu ihm. Davor gab es lediglich vereinzelt Artikel, insbesondere ist der Sammelband La démocratie à l’œuvre. Autour de Claude Lefort (1993) zu erwähnen. Dieser entfachte immerhin eine kurze Diskussion, die aber schnell wieder versiegte und erst seit kurzem wieder aufflammt. Dabei wird Leforts Werk zum einen überblickshaft beleuchtet, insbesondere in der 2020 erschienenen Einführung von Nicolas Poirier sowie auch in zahlreichen weiteren Monographien. Zum anderen wird sein aktueller Bezug, speziell zu Fragen der Demokratie und ihren multiplen Krisen, deutlich gemacht. Besonders erwähnenswert ist das von 2016 bis 2021 am Centre de théorie politique der Université libre de Bruxelles angesiedelte Projekt: „Pourquoi Lefort: une généalogie conceptuelle d’enjeux normatifs contemporains“.

Lefort – nicht nur, aber auch ein Radikaldemokrat ?

Wie bereits erwähnt, fällt auf, dass Lefort nur in wenigen französischen Publikationen explizit als Radikaldemokrat gelesen wird (siehe etwa: L’institution de la démocratie et la démocratie radicale. La leçon de Lefort (2015) oder De la démocratie radicale au gouvernement représentatif (2020). Daneben fand Lefort als Radikaldemokrat ebenfalls bei dem im März 2024 stattgefundenen internationalen Kolloquium Démocratie Radicale : Généalogie, Actualité, Ouverture an der Université Paris Nanterre Erwähnung.) Die Lesart als Radikaldemokrat ist in Frankreich somit deutlich jünger als in Deutschland. Dies mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass die in Deutschland so bezeichneten radikaldemokratischen Autor:innen deutlich heterogener in Frankreich gelesen werden und es noch keine französische Einführung oder Handbuch zu dem Thema vorliegt. So werden die radikalen Züge von Leforts Demokratieverständnis häufig nur als eine Facette seines Denkens ausgemacht, neben seinem Totalitarismuskonzept, seinen Gedanken zu Menschenrechten oder seinem republikanischen Entwurf der Gestaltung des Sozialen.

Denn nicht zuletzt muss auch im französischsprachigen Raum immer wieder die Frage geklärt werden, warum sich überhaupt mit Lefort beschäftigt werden sollte: Bereits der Titel des oben erwähnten Brüsseler Projekts deutet darauf hin, aber auch die einleitenden Texte der Special Issues betonen die bisherige Unterschätzung und weitgehende Unbekanntheit von Lefort in der politiktheoretischen Debatte, insbesondere auch außerhalb der frankophonen Welt. Dagegen wird hervorgehoben, dass Lefort eben nicht nur in demokratietheoretischer Hinsicht, sondern darüber hinaus durch seine Beiträge für die Ideengeschichte und zu zeitgenössischen Herausforderungen interessant wird.

Die inhaltlichen Besonderheiten der französischsprachigen Debatte

Worin besteht aber nun die benannte erweiterte Sichtweise auf Lefort? Was sind die  Themen und Perspektiven, die im deutschsprachigen Raum eher unterschlagen werden, bzw. die für den deutschen Raum noch interessant werden könnten?

Es fällt zuerst einmal auf, dass Lefort als Leser (lecteur) von bestimmten Autor:innen und Texten wahrgenommen wird, wie Étienne La Boétie, Niccolò Machiavelli, Dante Alighieri oder Edgar Quinet. Aus diesem Lesen schöpft er sein eigenes Schreiben (lire-écrire); seine eigene Art der Interpretation als Denkmethode, die sich an den Beiträgen reibt sowie eine Beziehung mit und zum Anderen eingeht. So wird zum Teil von einer lefortschen Kunst des Lesens (l‘art de lire lefortien) gesprochen. Dieses Lesen bezieht sich interessanterweise nicht nur auf politisch-theoretische Texte wie die Tocquevilles, sondern auch auf anthropologische von Claude Lévi-Strauss oder Pierre Clastres sowie literarische wie die von Salman Rushdie, George Orwell oder Alexander Solschenizyn (siehe etwa Un Homme en trop. Réflexions sur l’Archipel du Goulag (1976) und Écrire. À l’épreuve du politique (1992)). Damit unterhält Lefort eine Nähe zu den Literaturwissenschaften, die so noch keine Rolle im deutschen Diskurs spielt. Literatur kann für ihn, ähnlich wie die Demokratie, in einer Unbestimmtheit verharren, da sie konstituierte Hierarchien hinterfragt und Hegemonien auflöst. Hieran anschließend könnte somit ein tiefergehendes Verständnis von Leforts Demokratiebegriff entstehen.

Lefort kreiert zudem eine eigene Methode des Nachdenkens in Form des Kommentierens und Interpretierens, ausgehend von bestimmten Autor:innen, aber auch Ereignissen, wie dem ungarischen Aufstand 1956 oder der Situation in Polen Anfang 1957. Diese begreift er als singuläre, demokratische Erzählungen. In diesem Denken ausgehend von Phänomenen versteckt sich ebenfalls ein Merleau-Pontysches Erbe. Das demokratische Erleben und proletarische Erfahren (l’expérience prolétarienne) bekommt eine deutlich stärkere Betonung im französischsprachigen Diskurs. Lefort bezieht sich damit weniger auf die Französische Revolution, wie im deutschen Diskurs oft behauptet, als auf demokratisches Aufbegehren in ehemaligen Ländern der Sowjetunion, das er immer wieder als singulär-exemplarisch für sein Demokratieverständnis betrachtet. Dies gilt insbesondere für die frühen Texte, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. In diesen geht es ebenfalls weniger um Fragen der Repräsentation oder der Wahl, sondern vielmehr um demokratisches, gemeinsames Handeln. Gerade dieser frühe Lefort könnte somit auch eine Fundgrube für eine breiter angelegte radikaldemokratische Lektüre sein. Vorstellbar wäre, dass dadurch eine Schärfung des Blicks auf die Erfahrungs- und Handlungsebene von Subjekten sowie auf soziale Fragen möglich wird.

Zudem fällt auf, dass Lefort in der französischsprachigen Debatte zunehmend zeitdiagnostisch gelesen wird, beispielsweise in Bezug auf den Populismus (durch seinen interpretativen Rückbezug auf LaBoéties Phantasma des Einen (phantasme de l’Un)) oder zu ökologischen Fragen des Anthropozäns (in Bezug auf Leforts Verständnis von Demokratie, welches zentral durch eine Ungewissheit (l’indétermination) geprägt ist, aus der sich multiple Handlungsmöglichkeiten ergeben). Zwar gibt es auch im deutschsprachigen Raum eine anhaltende Debatte zur sogenannten „Krise der Demokratie“, doch spielt Lefort dort eher eine untergeordnete Rolle. Eine breitere und vielschichtiger angelegte Rezeption könnte somit auch hier wieder neue Anknüpfungspunkte finden.

Des Weiteren wird Leforts Denken mit der Psychoanalyse in Verbindung gebracht: Diese Verbindungen verstecken sich in seinem Werk, werden allerdings durch einige zentrale lefortsche Begriffe wie Phantasma des Einen, Symbolisches und Imaginäres, Spaltung (division), Gesetz oder Begehren (désir) deutlich. Gerade dadurch, dass die demokratische Gesellschaft sich durch eine Auflösung aller Gewissheiten auszeichnet, wird der Umgang mit dem Unbekannten, Unkontrollierbaren und Endlosen, wie es in der Psychoanalyse der Fall ist, erst möglich. Für eine solche In-Beziehung-Setzung spricht ebenfalls, dass Lefort selbst in Psychoanalytischen Zeitschriften veröffentlicht hat (siehe etwa Démocratie et avènement d’un « lieu vide » (1982) oder Psychanalystes. Le Mythe de l’un dans le fantasme et dans la réalité politique (1983)). Diese Verbindung könnte ebenfalls im deutschsprachigen Raum fruchtbar gemacht werden und neue Perspektiven auf Lefort eröffnen.

In der französischsprachigen Debatte wird schließlich Leforts Konflikt- oder besser gesagt: Teilungsverständnis (division) eingehend untersucht; nicht nur in einem psychoanalytischen Sinne, sondern auch in Rückbezug zu Machiavelli oder der Veränderung des Konfliktverständnis in Leforts eigenem Denken. Diese Feinheiten hat der deutschsprachige Diskurs noch nicht auf dem Schirm. Gerade weil die radikaldemokratische Debatte von einer zentralen Stellung des Konfliktes ausgeht und für diesen Fokus zum Teil kritisiert wird, da vermeintlich Bindungskräfte der Demokratie nicht mehr erklärt werden können, sollte sich stärker mit dem Konfliktbegriff auseinandergesetzt werden. Es könnte so besser auf die Kritik reagiert werden und zugleich ein tieferes Verständnis des Demokratie- und Politikbegriffes entstehen, welcher in der Lefortschen Perspektive in einer gleichzeitigen Instituierung von Teilung und Gesellschaft, sprich Konflikt und Politischem, aufgeht.

Dieser schlaglichtartige Blick auf die französischsprachige Lefort-Rezeption zeigt die vielfältigen möglichen Lesarten, die im deutschsprachigen Raum nur ansatzweise angekratzt sind; nicht zuletzt auf Grund von fehlenden Übersetzungen und der sehr eindimensionalen Lesart als Radikaldemokrat, die zudem gut daran täte tiefer in die unterschiedlichen Facetten des Autors einzutauchen, um ein besseres Verständnis seines Demokratie- und Politikverständnisses zu gewinnen. Und wer weiß, was noch alles im Lefort Archiv in Paris schlummert…

Ragna Verhoeven ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS) und assoziiertes Mitglied des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Erfahrung“ an der Universität Bielefeld sowie am Laboratoire des Théories du Politique in Paris. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Konflikt und Verbindendem in Radikalen Demokratietheorien.

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