Ein neues Unbehagen in der Demokratietheorie?

Dies ist der zweite Beitrag unserer kleinen Reihe rund um das große Thema „Herausforderungen der Demokratie(theorie)“, die wir in Kooperation mit dem Philosophieblog praefaktisch veröffentlichen. Den Auftakt machte ein Beitrag von Tine Stein über “Resiliente Demokratie und die Polykrise der Gegenwart”, nächsten Donnerstag (14.12.) gibt André Brodocz Antworten auf die Frage „Müssen in einer Demokratie immer alle mit allen reden? Über die Herausforderungen des Populismus an Universitäten“.    

In einem viel beachteten Aufsatz aus dem Leviathan diagnostizierten Hubertus Buchstein und Dirk Jörke (2003) vor ziemlich genau 20 Jahren ein massives „Unbehagen“ über die Entwicklung der zeitgenössischen Demokratietheorie. Damals sahen die beiden Politikwissenschaftler den (ebenso legitimen wie notwendigen) Kampf um den Demokratiebegriff als mittlerweile einseitig von einer semantischen Transformation dominiert, die die Idee der ,Volksherrschaft‘ von ihrer wörtlichen Bedeutung und somit „weitestgehend von [allen] partizipativen Momenten“ abgeschnitten hatte. Jene Entwicklung, bei der laut Buchstein und Jörke das „akademische Demokratietheoretisieren“ (ebd.: 471) den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Stichworte: Rationalisierung, globaler Markt, Komplexitätszuwachs, Pluralismus) nachgab oder auch bewusst in die Hände spielte, machten die Autoren u.a. an Theoretiker*innen wie Jürgen Habermas, John Rawls, David Held, Fritz W. Scharpf, Norberto Bobbio, Anne Phillips, Robert A. Dahl, Adam Przeworski, Cass Sunstein, Claus Offe, Arthur Benz oder Robert E. Goodin fest. Vom ,Ballast‘ der Partizipation befreit und allen sonstigen Differenzen zwischen deliberativen, liberalen, feministischen und sogar kritisch-republikanischen Ansätzen zum Trotz, sei die Demokratie von den genannten Vertreter*innen der Politischen Theorie seinerzeit an der Qualität ihrer Ergebnisse, sprich: an ihrem Output und nicht länger am Input ihres Zustandekommens gemessen worden. Ob sich die Bürger*innen an der Demokratie beteiligen sollen, habe dadurch nicht länger einen Selbstzweck der Volksherrschaft benannt, sondern sei allenfalls noch als Mittel zum Zweck, das heißt zur potenziellen Erhöhung der Rationalität, Effektivität oder Implementierbarkeit politischer Entscheidungen in die jeweiligen theoretischen Überlegungen eingeflossen. Über die traditionelle liberale Elitentheorie etwa von Giovanni Sartori hinaus, welche die Demokratie einst im Namen der Rationalität zu begrenzen trachtete, seien die modernen Demokratietheorien um die Jahrtausendwende angetreten, um „die Rationalität der Politik zum eigentlichen und tieferen Sinn des Demokratiebegriffs“ zu deklarieren (ebd.: 475).  

Die Antwort auf die postdemokratische Herausforderung 

Um der mit der outputzentrierten Perspektive auf die Volksherrschaft logisch einhergehenden ,Fassade‘ der demokratischen Institutionen (welche zuvor und danach z. B. von Jacques Rancière, Sheldon S. Wolin, Colin Crouch oder Chantal Mouffe als ,Postdemokratie‘ tituliert wurde) zu entgehen, schlugen Buchstein und Jörke vor zwanzig Jahren eine fulminante, aktivistische „Dynamisierung“ des Demokratiebegriffs vor, die sie insbesondere an Iris Marion Youngs oder John Dryzeks Kritik am (Habermasschen) Rationalitätspostulat anknüpften. Auch Sheldon S. Wolins an Hannah Arendt erinnernde Idee der fugitive democracy, Jacques Derridas antiinstitutionalistische démocratie à venir, Benjamin Barbers und Bernard Manins Kritik an der liberalen repräsentativen Verengung der Demokratie sowie Chantal Mouffes und William E. Connollys agonales Demokratieverständnis spielten als Gegenfolie zur Postdemokratie bzw. als Stichwortgeber*innen für eine auf politische Handlungen und Leidenschaften fokussierte Volksherrschaft eine Rolle. 

Blickt man heute retrospektiv auf das, was sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten im Bereich der Demokratietheorie getan hat, lässt sich zweifelsfrei konstatieren: der Appell von Buchstein und Jörke hat vielfältige Früchte getragen bis hin zu dem Punkt, dass zumindest im Bereich der normativen, nicht-empirischen Politikwissenschaft sicher keine Hegemonie von outputzentrierten, rationalistischen Ansätzen der Demokratietheorie mehr zu beobachten ist. Stattdessen ist eine nur mehr schwer überschaubare Zahl an gegenläufigen demokratietheoretischen Innovationen zu verzeichnen, die seitdem entstanden sind oder die das 2003 formulierte „Unbehagen an der Demokratietheorie“ zumindest noch nicht explizit auf dem Schirm hatte. Die Rede ist hier von dem inzwischen äußerst breiten, diversen Spektrum an sogenannten „radikalen Demokratietheorien“, die in ihrer theoretischen wie politischen Stoßrichtung ziemlich exakt das Gegenteil von dem markieren, was Buchstein und Jörke einst kritisierten und/oder befürchteten. Jenes Spektrum umfasst nicht nur die meisten Ansätze, die bereits vorhin als Gegenfolie zur rationalen Output-Demokratie dienten (d.h. Barber, Connolly, Derrida, Dryzek, Mouffe, Wolin, Young), sondern auch viele neuere (z. B. Miguel Abensour, Giorgio Agamben, Wendy Brown, Judith Butler, Bonnie Honig, Jean-Luc Nancy, James Tully) oder von Buchstein/Jörke nicht erwähnte Autor*innen (z. B. Alain Badiou, Etienne Balibar, Cornelius Castoriadis, Gilles Deleuze, Marcel Gauchet, Michael Hardt/Antonio Negri, Ernesto Laclau, Claude Lefort, Ingeborg Maus, Jacques Rancière, Richard Rorty, Slavoj Žižek) sowie schließlich eine auffällige radikaldemokratische Umetikettierung der deliberativen Demokratie von Jürgen Habermas. 

Radikale Ansätze der Gegenwart 

Einen gelungenen Überblick über die Bandbreite an Perspektiven und Argumente, die sich unter dem Konzept der radikalen Demokratietheorie subsumieren lassen, haben 2019 Dagmar Comtesse, Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen und Martin Nonhoff bei Suhrkamp vorgelegt. In ihrem Handbuch identifiziert diese Editor*innengruppe dabei die drei Kategorien Selbstregierung, Kritik und Kontingenz als gemeinsame Merkmale aller radikalen Demokratieansätze. Es ließe sich jedoch ebenso zeigen, dass radikale Demokratietheorien in der Lesart von Comtesse et al. den von Buchstein/Jörke diagnostizierten hegemonialen Rationalitätsvorbehalt gegenüber partizipatorischen Momenten der demokratischen Lebensform in der Zwischenzeit (wieder) aufgekündigt haben. 

Die Frage ist nun, wie weit dieser theoretische Trend zur radikalen Demokratie tatsächlich geht und ob womöglich schon eine analoge, nur spiegelbildlich verkehrte Schieflage in den Gewichtungen der gegenüberstehenden Argumente zu konstatieren ist. Bevor ich zu dieser Frage Stellung beziehe, möchte ich zunächst meine eigene große Sympathie für radikale Demokratieansätze und die von mir geteilte Kritik an neoliberal-postdemokratischen Verengungen des Demokratiebegriffs nicht verhehlen. Auch einer (neuerlichen) Überschätzung der Rationalität der Ergebnisse demokratischer Entscheidungsverfahren will ich an dieser Stelle keinesfalls das Wort reden. Jedoch sehe ich nichtsdestoweniger das Risiko, dass wenigstens ein Großteil der als radikal etikettierten Demokratietheorien derzeit ähnlich sorglos etwas sehr Zentrales aus dem Demokratiekonzept verabschieden will, wie es zuvor die outputzentrierten Demokratietheorien mit dem Selbstzweck der demokratischen Partizipation getan haben. Gemeint ist die Vorstellung, dass zur Selbstwirksamkeit (self-efficacy) der Demokratie nicht nur ihre ungehinderte Entfaltung, sondern zugleich auch ihre Selbstbegrenzung und -beschränkung gehört, ganz wie es insbesondere Alexis de Tocqueville in der Démocratie en Amérique unmissverständlich unterstrich. 

Paradoxien der Demokratie zwischen Liberalismus und Radikalismus 

Deswegen ging auch die Kritik an der semantischen Transformation im Liberalismus, der zufolge die Demokratie als Ordnung zu betrachten sei, „die durch ,checks and balances‘ komplettiert werden muss, damit die negative Freiheit – der Schutz des Individuums vor Beschlüssen der Mehrheit – gesichert bleibt“, eine Kritik, die Buchstein und Jörke (2003: 474) von Bernard Manin (1997) als Kernlogik der repräsentativen Regierung übernahmen, bei näherem Hinsehen zu weit. Vielmehr gilt es m. E. zu registrieren, dass radikale Demokratietheorien, die wie etwa Chantal Mouffe in The democratic paradox (2000) einen fundamentalen Gegensatz zwischen der ,demokratischen‘ Idee der unbegrenzten (!) Volkssouveränität und der ,liberalen‘ Idee der rechtsstaatlich eingehegten, repräsentativen Herrschaft hervorheben, das Missverständnis Isaiah Berlins (1996) zu wiederholen drohen, wenn sie auf die angeblich vollkommen unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Logiken des Liberalen und des Demokratischen pochen. Anstatt zu bemerken, dass es sich hier um einen immanenten Widerspruch, ein double bind (Derrida 2006: 63) der antinomischen Demokratie selbst handelt, welches in der demokratischen Praxis nach einem Trade-off verlangt (Hidalgo 2019), läuft Mouffe genauso wie zuvor Berlin (letzterer entlang der behaupteten Unvereinbarkeit von negativ-liberaler und positiv-demokratischer Freiheit) Gefahr, Liberalismus und Demokratie als strikte Antipoden zu behandeln. Und so wie Berlins einseitige Verteidigung der negativen Freiheit am Ende als Angriff auf die Demokratie zu bewerten ist, wäre ein (illiberales) Eintreten für die positive Gestaltungsfreiheit bei simultaner Ausklammerung rechtsstaatlicher Prinzipien wie Grundrechte und Gewaltenteilung aus dem Korpus der Demokratie dazu geeignet, die Demokratie gegen den Liberalismus auszuspielen. Eben dies aber bezeichnet nichts anderes als die Grundtendenz der meisten radikalen Demokratietheorien, die in ihrem legitimen Bemühen um eine Stärkung der demokratischen Verfügungsgewalt und einer möglichst umfassenden politischen Partizipation der Bürger*innen die Grundidee des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats außerhalb der Demokratie verorten. Damit würde dieser Rechtsstaat seinerseits bestenfalls als Mittel zum Zweck der Demokratie degradiert. 

Demokratische Balancen 

Die von den radikalen Demokratietheorien angestrebte Entfesselung des Politischen, so wünschenswert diese unter den Bedingungen einer postdemokratischen Realität auch sein mag, sollte insofern unter dem kontinuierlichen Vorbehalt stehen, die liberale(n) Seite(n) der modernen Demokratie nicht zu verleugnen. Ansätze wie Charles Taylors Kritik an einem politisch und soziokulturell indifferenten Verständnis der negativen Freiheit, Habermas’ Vorstellung von der Gleichursprünglichkeit zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten oder auch Iris Marion Youngs inklusives Verständnis der Repräsentation demonstrieren nämlich, wie sich die moderne Demokratie zwar gegen eine einseitige, isolierte Inkorporation liberaler Prinzipen sowie insbesondere des negativen Freiheitsbegriffs wendet, dass die Idee individueller Grundrechte aber gleichwohl als integraler Bestandteil der Demokratie zu lesen ist. Um dies weiter zu belegen und/oder zu begründen, ist ein Rückgang bis hin zu Kant möglich, der in der Metaphysik der Sitten nicht nur die Balance zwischen negativer und positiver Freiheit wahrt, sondern dort sogar bis zu einem gewissen Grad die generelle Aporie des Rechts in der Demokratie im Sinne von Derridas ,mystischer‘ Autorität der Gesetzeskraft antizipiert (Hidalgo 2013). Aus dem Befund Derridas (1991), dass es kein theoretisch sauberes Entrinnen aus der Aporie gibt, die das Recht für die Demokratie stets bedeutet, weil der Ursprung des Rechts nicht (immer) intersubjektiv nachvollziehbar an demokratische Verfahren und Diskurse gekoppelt ist, ist dabei offenbar gerade nicht zu folgern, die Demokratie könne das Recht als absolut freie Verfügungsmasse behandeln. Stattdessen wurde der nötige Spagat zwischen der politisch entfesselten, radikalen Demokratie und dem politisch begrenzten freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat auch jenseits von Derrida innerhalb des Spektrums radikaler Theorien erkannt. Dies impliziert etwa der universale Horizont der Menschenrechte bei Ernesto Laclau (2007), der die Demokratie folgerichtig an den ,unvernähten‘ Zwischenräumen von Universalität und Partikularität ansiedelt. Des Weiteren verortet Jacques Rancières Begriff der Demokratie im Sinne einer Unterbrechung der ,Polizei‘ die Volksherrschaft zwar durchaus jenseits des Rechts, lässt aber zumindest an der Notwendigkeit/Unvermeidlichkeit der polizeilichen Ordnung inklusive der sie strukturierenden Hierarchien und rechtlichen Institutionen (und somit an einer praktischen Grenze radikaler Gleichheit) keinen ernsten Zweifel. Zudem wird die Aporie des Rechts in der Demokratie bei Rancière dadurch relativiert, indem die Demokratie bei ihm ähnlich wie bei Derrida gar keine verbindliche Subjektivität besitzt, um als exklusive Autorin des Rechts in Betracht zu kommen. Bei Claude Lefort (1990) sind zwar wiederum Macht, Recht und Wissen in der Demokratie unvermeidlich voneinander gelöst und verschaffen ihr entsprechend ein leeres Zentrum, das sich nicht symbolisch repräsentieren lässt; jedoch wird hier eben auch keine der ehedem zusammenhängenden Sphären absorbiert, sodass gerade ihre Gegensätzlichkeit für die Demokratie konstitutiv wirkt. 

Ein neues Unbehagen 

Jene Beispiele mögen genügen, um dafür zu argumentieren, dass sogar auf dem Boden der radikalen Demokratietheorien nicht zwangsläufig von einem grundsätzlichen bzw. unvereinbaren Gegensatz zwischen den Prinzipien des liberalen Rechtsstaats und der Demokratie ausgegangen werden muss. Dennoch besteht bei diversen Ansätzen des radikalen Spektrums – insbesondere in den agonalen Theorien von Chantal Mouffe oder Bonnie Honig – de facto die Tendenz, rechtsstaatliche Prinzipien allenfalls als etwas Äußeres, die Demokratie extern qualifizierendes, theoretisch nicht weiter hintergehbares Element zuzulassen und nicht als etwas, was der paradoxen Idee der modernen Volksherrschaft inhärent wäre. Zwar betont gerade Honig (2009: 26) in diesem Zusammenhang, dass das Recht in erster Linie deswegen einen „Fremdkörper“ im Rahmen der heutigen konstitutionellen Demokratien darstelle, da es eben kein Ausdruck einer gelebten Volkssouveränität sei und die Bürger*innen weder an der Verfassungsgebung noch an der einfachen Rechtsetzung signifikant beteiligt wären; sie akzeptiert dabei jedoch das unvermeidliche Paradox des Politischen, dass Menschen Urheber des Rechts und diesem zugleich unterworfen sind (ebd.: 3, 14), ohne dies m. E. innerhalb ihrer Demokratietheorie im Anschluss überzeugend abzubilden. Deswegen wird bei Honig die Verfassung daran bemessen, dass sie durch demokratische Prozesse stets anfechtbar und veränderbar bleibt, wie allerdings umgekehrt das Recht in der Demokratie die Volkssouveränität begrenzen könnte, bleibt im Dunkeln. Mithin sind wenigstens hier die inversen Parallelen zur skizzierten Diagnose von Buchstein/Jörke, dass outputlastige Demokratietheorien die Partizipation als lediglich instrumentelle Komponente oder gar Fremdkörper ihrer selbst einstufen, kaum verkennbar.  

Die Risiken und Grenzen der radikalen Demokratietheorie, wie sie sich vor allem bei Chantal Mouffe und Ernesto Laclau offerieren, werden insofern nicht zufällig in ihrem Verhältnis zum Populismus evident. Hier mag Mouffe (2018) angesichts der postdemokratischen Situation von ihrer eigenen politischen Warte aus plausibel für einen linken Populismus plädieren, aus ihrer schmittianischen, antiliberalen Grundperspektive heraus verwundert es indes nicht, dass sie zuvor genauso für den Rechtspopulismus einiges Verständnis aufbringen musste und diesen zumindest implizit legitimierte (Mouffe 2020: Kap. 4). Laclaus On populist reason (2005) versteht den Populismus hingegen anders als etwa Margaret Canovan (1999) nicht als ein zweites Gesicht einer im Ganzen ambivalenten Demokratie, sondern setzt den Populismus – egal ob rechter oder linker Provenienz – aufgrund seines Potenzials, Unzufriedenheiten und politisch bislang vernachlässigte Positionen in der Bevölkerung aufzugreifen und zur Hegemonie zu verhelfen, mit der Kraft der demokratischen Logik praktisch gleich. Der bei Laclau eigentlich mitgedachte universale (liberale) Horizont des Rechtsstaats droht dadurch am Ende zu einem Fluchtpunkt zu verkommen, der nicht selbst aus der Demokratie zu entspringen vermag. 

Fazit 

Radikale Demokratietheorien bedeuten eine äußerst wichtige Korrektur zu zuvor stattgefundenen und teilweise immer noch anhaltenden neoliberalen Entwicklungen im Bereich der Politischen Theorie und Demokratieforschung. Gleichzeitig provozieren sie ein alternatives Unbehagen, weil die einschlägigen Ansätze ihrerseits einige gravierende blinde Flecken und Vereinseitigungen aufweisen. In der Theorie mögen diese als im Detail zu verschmerzende, eher nachrangige Unzulänglichkeiten erscheinen, in der Praxis avancieren jene Lücken jedoch schnell zu einem Spiel mit dem Feuer, wie nicht zuletzt die wenigstens partielle Rehabilitation des Dezisionismus von Carl Schmitt durch Chantal Mouffe suggeriert. 

Wie wichtig es demgegenüber sein könnte, radikale und liberale Demokratieansätze nicht strikt auseinanderdividieren zu wollen, sondern vielmehr auf ihre mögliche Kompatibilität hin abzuklopfen, legt zum Schluss ein Gedanke von Jacques Derrida nahe. In einer Schlüsselpassage der Schurken betont Derrida (2019: 119ff.) einerseits, wie erheblich seine Konturen der kommenden Demokratie von einer regulativen Idee im Sinne Kants divergieren, um gleichwohl vorauszuschicken, womöglich auf eben eine solche regulative Idee zum Zwecke der normativen Orientierung trotz allem nicht verzichten zu können. Solche und andere Schwächen in der eigenen Theorie einzuräumen, besitzt nicht nur intellektuelle Größe: für die Demokratie könnten sie sich als lebensnotwendig erweisen. 

Oliver Hidalgo ist Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie an der Universität Passau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Politische Ideengeschichte der Moderne und Gegenwart, Demokratietheorien sowie das Verhältnis von Politik & Religion.  

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