Ist es Zeit, Schluss mit der Befragung zu machen?
Die Idee, Institutionenordnungen demokratischer Rechtsstaaten einer befragenden Kritik zu unterwerfen, könnte im gegenwärtigen politischen Kontext geradezu aus der Zeit gefallen wirken. Demokratische Rechtsstaatlichkeit kann in der heutigen Welt leicht als eine zarte Pflanze erscheinen, die des Schutzes und der Stärkung bedarf – aber nicht einer politischen Philosophie, die sich eine befragende und infragestellende Kritik zur Aufgabe macht. Wenn Lefort daher Merleau-Pontys Forderung aus Le visible et l’invisible (Paris 2006), Philosophie als Befragung zu verstehen, folgt, und sein Projekt einer Wiederherstellung der Politischen Philosophie deshalb ins Zeichen von Ungewissheit und Befragung stellt, dann scheint dieses Vorhaben selbst heute in Frage gestellt zu sein. Im Anschluss an Merleau-Pontys These, dass die Philosophie Frage bleibe und als solche die Welt befragt – „elle interroge le monde“ heißt es in Le visible et l’invisible(S. 134) –, ließe sich dann umgekehrt auch davon sprechen, dass die Welt die Philosophie mit Fragen konfrontiert. Als dringlichste Frage für die Politische Philosophie könnte dann die Frage danach erscheinen, wie sich eine demokratische Institutionenordnung schützen und befestigen lässt – nicht, wie sie in Frage gestellt werden kann.
Die These, die ich im Nachfolgenden etwas ausführen und erhärten möchte, ist, dass solche Versuche einer Befestigung der Demokratie den grundlegend befragenden Charakter von Demokratie übersehen, den Lefort nachdrücklich herausgestellt hat und der bei der gegenwärtigen Suche nach Mitteln einer Verteidigung der Idee und der Praxis der Demokratie allzu leicht übersehen wird – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ich werde kurz auf drei Aspekte hinweisen. Zunächst erinnere ich an Leforts wissenschaftstheoretische Kritik an einer Politikwissenschaft, die sich, wie übrigens bis heute ein erheblicher Teil der empirischen Politikwissenschaft, als objektivistische Faktenanalyse versteht – und Lefort zufolge deshalb unfähig ist, das Politische zu denken (1.). Im Anschluss verweise ich kurz auf den Zusammenhang zwischen Politischem und Demokratie, die im Denken Leforts beide als Weisen der Befragung verstanden werden müssen (2.). Drittens unterstreiche ich abschließend, dass Demokratie für Lefort unweigerlich im Zeichen der Ungewissheit operiert und deshalb gar nicht aufhören kann, Frage zu sein. Aber sie kann durchaus aufhören zu sein – dann nämlich, wenn sie essentialistischen Versuchungen erliegt und in geschlossene Formen übergeht (3.). Gerade in diesem letzten Hinweis liegt ein wichtiges Erbe Leforts für das politische Denken der Gegenwart: Demokratie ist Befragung oder sie ist nicht.
- Wissenschaftstheoretische Perspektiven: Befragungen von Politikwissenschaft und Politischer Soziologie
Lefort konfrontiert bekanntlich, beispielsweise in Essais sur le politique (1986), die empirisch-analytische Politikwissenschaft und Politische Soziologie mit einem grundlegenden wissenschaftstheoretischen Einwand, der sich als eine kritische Befragung einer objektivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verstehen lässt. Lefort richtet sich dabei nicht gegen bestimmte einzelne Aspekte, sondern formuliert eine umfassende wissenschaftstheoretische Kritik, deren Kernthese darin besteht, dass sich das Politische überhaupt nicht denken lässt, wenn es in szientistischer Perspektive als Untersuchungsobjekt konstruiert wird. Wird das Politische auf objektivierbare Fakten reduziert, gerät nämlich gänzlich aus dem Blick, dass es sich gerade nicht um einen klar eingrenzbaren, mit objektivierten Eigenschaften definierbaren Gegenstand handelt, sondern um einen Modus der Konstitution von Gesellschaft. Politik und Politisches lassen sich deshalb nicht als Einzelfakten neben andere soziale Fakten wie das Ökonomische oder das Rechtliche stellen. Die in der jüngeren Theoriegeschichte intensiv diskutierte dynamische Beziehung zwischen einer institutionalisierten Ordnung der Politik und einem Politischem als Weise der Instituierung solcher Ordnungen, worunter auch die Kontestation und Transformation bestehender Ordnungen verstanden werden muss, beschreibt demnach keine Fakten, sondern umreißt einen Konstitutionsmodus gesellschaftlicher Ordnungen. Das Politische zu denken, impliziert darum immer auch eine kritische Befragung jener wissenschaftlichen Perspektiven, die Politik und Politisches nach einem szientistischen Erkenntnismodell als objektive Gegenstände zu identifizieren versuchen und sie Lefort zufolge gerade deshalb nicht zu durchdringen vermögen.
- Befragungen des Politischen und der Demokratie
Das Politische wird dann aber nicht nur befragt, sondern ihm eignet selbst eine kritisch-befragende Dimension: Es bezeichnet genau den Modus der Infragestellung bestehender Ordnungen. Das zeigt sich insbesondere in demokratischen Gesellschaften, deren institutionelle Ordnungen in besonders hohem Maße für eine kritische Befragung durch das Politische offen sind, weil sie sich für eine solche Selbsttransformation öffnen. Demokratisches Selbstregieren kann sich nämlich nicht nur auf Entscheidungsprozesse innerhalb bestehender Institutionengefüge beschränken, sondern es weitet sich, wie sich an der Geschichte demokratischer Gesellschaften zeigt, auch auf eine Um- und Neugestaltung von Institutionen aus. Demokratische Politik bewegt sich deshalb niemals nur in den institutionalisierten Bahnen der Ordnung der Politik, sondern sie greift in das Politische aus und geht über bestehende Institutionen hinaus. Schon Leforts Reflexion des Pariser Mai 1968 und die dort angestellten Überlegungen zum Schlagen einer Bresche in bestehende Ordnungen lassen sich im Rückblick als Hinweis auf die enge Beziehung zwischen demokratischer Politik und dem Politischen verstehen: Demokratie und Politisches sind immer auch kritische Befragungen und Infragestellungen gegebener Institutionen und Verfahren.
- Demokratietheoretische Perspektiven: Demokratische Ungewissheit
Demokratische Gesellschaften öffnen sich nicht ohne Grund den Befragungen durch das Politische. Sie müssen, wie Lefort in Le temps présent (S. 551ff.) herausarbeitet, als Gesellschaften begriffen werden, die sich durch eine Auflösung von Gewissheit auszeichnen. In der eingangs aufgeworfenen Frage, ob die Zeit der Befragung im Lichte der gegenwärtigen Herausforderungen demokratischer Gesellschaften durch autoritäre Politiken an ein Ende gelangt sei, drückt sich die Sorge aus, dass Ungewissheit und Befragung eben nicht nur Versprechen auf Emanzipationspolitiken darstellen, sondern demokratische Gesellschaften auch überfordern können. Adressiert man diese Frage an Lefort, zeigt sich rasch, dass sie für sein Denken keine Neuigkeit darstellt. Lefort hat im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Auflösung von Gewissheit von Anfang an darauf hingewiesen, dass sich damit massive Ambivalenzen verbinden. Lefort ist bekanntlich nicht nur ein Theoretiker der demokratischen Ungewissheit, sondern auch ein Denker der totalitären Ungewissheitsabwehr. Die autoritäre Versuchung, die Offenheit der demokratischen Befragung essentialistisch zu schließen, ist für ihn die stete Begleiterscheinung demokratischer Gesellschaften. Die gegenwärtigen autoritären Herausforderungen sind mit Lefort betrachtet deshalb kein neues und auch kein unerwartetes Phänomen. Lefort versteht Demokratie immer, wie ich in Plurale Kritik (2024), Kapitel 8, unterstrichen habe, als ein Abenteuer, das scheitern kann. Die Rede von der Demokratie als Abenteuer hat aber eine weitere Implikation, die ich abschließend als eine große Aufgabe herausstellen möchte, die sich uns im Anschluss an Lefort demokratietheoretisch und demokratisch stellt: Demokratie kann diesen Charakter des Abenteuers nämlich nicht einfach abstreifen, ohne aufzuhören zu existieren. Eine Demokratie ohne Unsicherheit und Ungewissheit wäre keine Demokratie mehr. Das ist eine Einsicht, die wir gerade angesichts der Herausforderungen unserer Zeit nicht aus dem Blick verlieren dürfen: Demokratie ist ohne ergebnisoffene Konflikte darüber, wie wir unsere Gesellschaft einrichten wollen, nicht zu haben. Sie kann nicht umhin, sich Befragungen und Infragestellungen auszusetzen. Würden wir mit der Ungewissheit und Offenheit Schluss machen, dann wäre Demokratie nicht gerettet, sondern bereits verloren. Daraus folgt aber keineswegs, dass alle Befragungen und Infragestellungen aus demokratietheoretischer Perspektive gleich zu bewerten sind. Insbesondere essentialistische Politiken der Schließung und des Ausschlusses, wie sie heute durch autoritäre populistische Parteien und Bewegungen vertreten werden, können deshalb gerade aus einer kritisch-befragenden Perspektive einer vehementen Kritik unterzogen werden. Denn das Ziel autoritärer Populist*innen bleibt auch dann, wenn sie demokratische Semantiken für sich reklamieren, eines der Beendigung des pluralistischen und offenen demokratischen Streits um die Einrichtung unserer Welt. Demokratie verliert ihre Offenheit keineswegs, wenn sie sich gegen autoritäre Versuche der Schließung und des Ausschlusses zur Wehr setzt. Von Lefort können wir lernen, dass Demokratie stets unsicher und ungewiss ist, aber sie muss nicht wehrlos sein.
Oliver Flügel-Martinsen ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seine Forschungsinteressen liegen u.a. auf der Ideengeschichte der Kritik, Demokratietheorie (insbesondere Theorien radikaler Demokratie) und der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Jüngst erschien sein Buch: Plurale Kritik. Postessentialistische Lektüren kritischer politischer Theorien in der Reihe Philosophie & Kritik im Campus-Verlag.