Lefort-Schwerpunkt: Was sind demokratische Institutionen? Eine radikaldemokratische Antwort mit Claude Lefort

Wer von „demokratischen Institutionen“ spricht, scheint eine contradictio in adiecto zu begehen. Jedenfalls sind Antidemokrat:innen seit Platon dieser Auffassung: Während Institutionen Ordnung schaffen, steht Demokratie für Unordnung. Noch der (früh)moderne Republikanismus teilt diese Sichtweise: Montesquieu, James Madison oder Benjamin Constant warnen in ihren Plädoyers für die Mischverfassung vor der Institutionenfeindlichkeit des demokratischen Moments. Ausgehend von der platonischen Karikatur der Demokratie als Quasi-Anarchie, die permanent Gefahr läuft, sich selbst abzuschaffen, ist die Geschichte der demokratischen Idee auch eine Geschichte ihrer institutionellen Widerspenstigkeit. Während viele aktuelle Demokratietheorien versuchen, diese Spannung aufzulösen, plädiert der Jubilar Claude Lefort, dem dieser Schwerpunkt gewidmet ist, dafür, sie anzuerkennen und produktiv zu wenden. Die Friktion zwischen Demokratie und Institution erscheint in seinen Schriften nicht als Widerspruch oder als zu überwindendes Hindernis, sondern als eine produktive Aporie – eine Aporie, die nicht nur Kennzeichen einer radikaldemokratischen Perspektive ist, sondern, so unsere These, in jeder Theorie demokratischer Institutionen reflektiert werden muss.  

Aktuelle Demokratietheorien lassen sich dahingehend unterscheiden, wie sie auf die demokratieskeptische Provokation eines vermeintlich kontradiktorischen Verhältnisses von Demokratie und Institutionen antworten. Empirische Demokratietheorien verstehen, mit den Termini der klassischen Rhetorik gesprochen, den Ausdruck „demokratische Institutionen“ nicht als contradictio, sondern als neutrale definitio: Demokratische Institutionen sind bloß ein spezifischer Typus von Institutionen neben anderen. Demgegenüber setzen normative Demokratietheorien, insbesondere solche kantischer Prägung, auf eine pleonastische Lesart: Demokratische Institutionen sind so gesehen die einzigen Institutionen, die – im Gegensatz zu den willkürlichen Setzungen der Autokratie und den Gewaltstreichen der Tyrannei – dem kategorischen Anspruch universaler Gesetzmäßigkeit, der den Begriff der Institution charakterisiert, gerecht werden. In beiden Fällen wird die problematische Spannung zwischen Demokratie und Institution aufgelöst. Radikaldemokratische Theorien zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass sie diese Spannung reformulieren: Zwischen Demokratie und Institutionen besteht aus dieser Warte kein kontradiktorisches, sondern ein aporetisches Verhältnis: Institutionelle Formgebung ist notwendig, um Demokratie zu realisieren, aber zugleich steht der demokratische Anspruch für die Möglichkeit, jede gegebene Form zu befragen und erneut zur Disposition zu stellen. Demokratie bezeugt sich sowohl in einer bestimmten institutionellen Ordnung als auch in der kritischen Reaktivierung der Volkssouveränität, die das Bestehende als prinzipiell veränderlich versteht. 

 Lefort als Kompatibilist 

Davon ausgehend lassen sich zwei Stränge radikaldemokratischen Institutionendenkens unterscheiden. Inkompatibilistische Ansätze stehen der Verstetigung skeptisch gegenüber. Sie ziehen aus der Einsicht in die Spannung von Demokratie und Institution die Konsequenz, dass Demokratie sich nicht innerhalb von Institutionen, sondern nur in der Reibung am bestehenden institutionellen Gefüge artikuliert. Ein Beispiel dafür ist die Demokratietheorie Jacques Rancières, der damit allerdings Gefahr läuft, der kontradiktorischen Lesart demokratischer Institutionen auf den Leim zu gehen. Das Pathos des Unvernehmens verliert das generative Moment der Aporie aus dem Blick, das die Vertiefung, Erweiterung und Radikalisierung demokratischer Institutionen zu einer ständigen Aufgabe demokratischer Praxis macht. Die kompatibilistische Variante radikaler Demokratie entkommt einem solchen Anti-Institutionalismus. Sie geht davon aus, dass der Widerstreit von Demokratie und Institution in die Funktionsweise demokratischer Institutionen eingeschrieben werden muss. Institutionen und Verfahren sind demokratisch, wenn ihr Design die Aporie von Demokratie und Institution zum Ausdruck bringt. Die kompatibilistische Spielart radikaler Demokratietheorie erkennt die Schwierigkeit des Verhältnisses von Demokratie und Institution an und trägt der institutionellen Widerspenstigkeit des Demokratischen Rechnung, ohne daraus zu schließen, dass Demokratie nur Moment und nie Form sein kann. 

Lefort ist einer der wirkmächtigsten Vertreter:innen der kompatibilistischen Traditionslinie. Einerseits lässt er keinen Zweifel daran, dass Demokratie nie gänzlich in einer bestimmten Ordnungsform aufgehen kann. Man denke an die berühmte Rede von der „Leerstelle“ am Ort der Macht oder an die Wendung, dass Demokratie eine „Gesellschaft [ist], in der sich die Grundlagen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung stets entziehen“ (Lefort 1990, 296). Andererseits zeichnet sich Demokratie für Lefort dadurch aus, eben jene Grundlosigkeit zu institutionalisieren. Im Kampf gegen den Totalitarismus, ein Kernanliegen Leforts, reicht es nicht, die Leerstelle moderner Gesellschaften anzuerkennen, die der Rückzug von Gott und König hinterlassen hat. Das würde Tür und Tor für den Versuch öffnen, das Machtvakuum mit einer substanziellen Idee des Volkes zu füllen. Stattdessen spricht sich Lefort für die „Institutionalisierung des Konflikts“ (Lefort 1990, 293) aus. Damit trägt er der Spannung zwischen Demokratie und Institution Rechnung, denn ihre Verbindung bedarf immer einer konkreten, konflikthaften Artikulation. Gleichzeitig vermeidet er den inkompatibilistischen Kurzschluss, dass aus der institutionellen Widerspenstigkeit ein rigoroser Anti-Institutionalismus folgt. 

 Leforts Provokation 

Leforts wohl eingängigstes Beispiel dafür ist das allgemeine Wahlrecht. In dem Moment, in dem sich der Demos als Souverän inszeniert, erkennt er mit der periodischen Wiederholung des Wahlaktes zugleich an, dass der Ort der Macht nur vorläufig besetzt werden kann. Damit wird die Infragestellung der Ordnung in die Institution, die ihr Form gibt, eingeschrieben. Analog argumentiert Lefort in Bezug auf das Verhältnis von Demokratie und Menschenrechten. Anstatt die Menschenrechte marxistisch als individualistisches Dispositiv zur Verschleierung von Klassenunterschieden abzukanzeln, versteht er sie als „generative Prinzipien von Demokratie“, die die Funktion haben, Institutionen zu „animieren“ (Lefort 1986, 260, Übersetzung d. A.). Neben ihrem Ordnungsanspruch weisen Menschenrechte über ihre konkrete rechtliche Gestalt hinaus, denn ihr Anspruch auf Universalität bleibt konstitutiv unabgegolten. Nach Lefort produzieren Menschenrechte einen normativen Überschuss, der sich gerade daran zeigt, dass ihre abschließende institutionelle Realisierung unweigerlich scheitert. Insofern sind sie einerseits Ermöglichungsbedingungen demokratischer Institutionen; sie liefern den Rahmen und definieren die Grammatik des Konfliktaustrags (vgl. Cohen 2013; Di Pierro 2023, 223–25). Andererseits bezeugen sie, nicht anders als die Wahl, dass eine ultimative Grundlegung demokratischer Ordnung unmöglich ist. Demokratische Institutionen zeichnen sich durch die Friktion zwischen ihren aktivierenden und sedimentierenden Impulsen aus.

Diese und andere Versuche Leforts, die Spannung zwischen Demokratie und Institution produktiv zu wenden, sind zu kanonischen Referenzpunkten der Demokratietheorie geworden. Allerdings haben sie Lefort auch aus verschiedenen Richtungen Kritik eingebracht. So wird seine Fokussierung auf bestehende Institutionen immer wieder als Anzeichen eines uneingestandenen Liberalismus gelesen. Aus Sicht der Inkompatibilist:innen, für die Demokratie nur in Ereignissen widerständiger Störung aufflackert, schreckt Lefort letztlich vor einer grundsätzlichen Infragestellung der hegemonialen Ordnung zurück. Zugleich findet sich in der Rezeption der entgegengesetzte Vorwurf, wenn das Motiv der Spaltung der Gesellschaft und die Warnung vor einem übergriffigen bürokratischen Staat als Symptome einer libertär-anarchistischen Staatsskepsis interpretiert werden (vgl. Accetti 2015; Braeckman 2015; Rosenblum 2016; Hofmann und Jörke 2022). 

Dass Lefort als Radikaldemokrat, als Liberaler und sogar als Libertärer gelesen wird, verweist aus unserer Sicht nicht auf mangelnde Prägnanz und Produktivität seines Denkens. Im Gegenteil ist der Streit um Leforts Erbe symptomatisch für das Aporetische demokratischer Institutionen. Leforts Denken verweigert sich jedem Versuch, die Spannung zwischen Demokratie und Institution einseitig aufzulösen, d.h. entweder zu verdrängen oder absolut zu setzen. Leforts Verdienst – und seine anhaltende Provokation – ist sein Insistieren auf der Notwendigkeit, das spannungsreiche Verhältnis von Demokratie und Institution auszuhalten und rigoros durchzuarbeiten. 

 Institutionendefizit? Wessen Defizit?  

Damit lässt sich auch der Vorwurf zerstreuen, dass radikaldemokratische Ansätze ein „Institutionendefizit“ aufweisen (Buchstein 2016; 2020; Wallaschek 2017; Kautz 2023), d.h. daran scheitern, konstruktive Vorschläge für alternative Institutionen oder normative Kriterien zur Beurteilung bestehender Institutionen vorzulegen. Dieser Vorwurf impliziert nicht nur, dass es ein allgemeines Anforderungsprofil gibt, sozusagen eine Checkliste, die jede Demokratietheorie erfüllen muss, was an sich schon eine voraussetzungsreiche metatheoretische Behauptung darstellt. Entscheidender ist, dass die Kritik am „Institutionendefizit“ den Sinn der radikaldemokratischen Verschiebung missversteht. Dieser besteht in der Überzeugung, dass Demokratietheorie – gerade auch als Theorie demokratischer Institutionen – die Spannung von Demokratie und Institution aushalten, problematisieren und produktiv reformulieren muss. Entsprechend lässt sich dem Vorwurf des Institutionendefizits nicht nur begegnen, indem man zeigt, dass die Radikaldemokratie in der Lage ist, eine eigenständige Auskunft über Formen und Kriterien demokratischer Institutionalisierung zu geben (Herrmann und Flatscher 2020; Marchart 2020; Westphal 2021; Gebh und Seitz 2024). Vielmehr kann die Radikale Demokratietheorie offensiver vorgehen und den Defizitvorwurf zurückgeben: Wer demokratische Institutionen verstehen will, ohne das Verhältnis von Demokratie und Institution als Problem zu durchdenken, handelt sich ein demokratie- und institutionentheoretisches Reflexionsdefizit ein. Wenn demokratische Institutionen schlicht von bestimmten normativen Grundsätzen abgeleitet werden bzw. als Verkörperung apolitisch bestimmter Gerechtigkeitsprinzipien erscheinen, dann gerät die Aporie von Demokratie und Institution in Vergessenheit. Die Bringschuld, das Defizit zu beseitigen, liegt umso mehr bei jenen, die das Entwerfen von Institutionendesigns als ihr Kerngeschäft ansehen, ohne auf das produktive aporetische Spannungsverhältnis von Demokratie und Institution zu reflektieren.

Kurz: Jede Theorie demokratischer Institutionen muss den Widerstreit von Demokratie und Institution berücksichtigen. Wenn das zutrifft, dann haben radikaldemokratische Theorieansätze gegenüber anderen Zugangsweisen gerade kein Defizit, sondern einen Vorsprung, weil sie von ihrer ganzen Grundausrichtung her mit der Spannung von Demokratie und Institution vertraut sind. Das Verhältnis von Demokratie und Institution vorschnell zu entproblematisieren ist ebenso unproduktiv wie die entgegengesetzte Geste, aus dem Erkennen des Problems die Unmöglichkeit seiner Bearbeitung abzuleiten. Nicht zuletzt darin sehen wir die entscheidende Lehre Leforts. 

Danksagung: Wir danken Viktoria Huegel, Gerald Posselt und Anna Wieder für hilfreiche Hinweise und Rückfragen.  

Sara Gebh forscht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Bereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte und leitet das Subprojekt Archive. Refiguring Forgotten Institutions im Rahmen des ERC-Projekts Prefiguring Democratic Futures. Sergej Seitz forscht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien im Bereich der Politischen Theorie und Philosophie und leitet das Subprojekt Theory. Conceptualizing Democratic Imagination im Rahmen des ERC-Projekts Prefiguring Democratic Futures. Vor Kurzem ist ihr gemeinsames Buch Postfundamentalismus bei utb in der Reihe Profile erschienen.

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