Zeitlichkeit und Wirtschaftswachstum

Heute veröffentlichen wir in unserer Blogpost-Reihe zum Thema Zeit einen Text von David Bockelt, in dem das Verhältnis von Zeitlichkeit und wirtschaftlichem Handeln beleuchtet wird.

Der Beitrag richtet seinen Blick auf den Zusammenhang zwischen den temporalen Dispositionen und dem wirtschaftlichen Handeln der Menschen. Anhand von vergangenen Geschichtsbildern und Zukunftsvorstellungen lässt sich nachzeichnen, wie sich auch die ökonomische Reflexion und Praxis wandelte. Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte können demnach als sinnvolle Kategorien der Reflexion über ökonomische Ideengeschichte etabliert werden.

Geschichtsbilder im Wandel der Zeit 

Das antike Geschichtsbild speiste sich aus einem spezifischen Wirklichkeitsbegriff, der auf Anschauung, Evidenz und Gegenwart fußt. Die antiken Griechen fragten nicht nach einem telos der Geschichte, sondern nach ihrem logos. Im Rückgriff auf den eben erwähnten Wirklichkeitsbegriff besteht dieser logos in der periodischen Wiederkehr des immer Gleichen: Die Geschichte durchläuft zyklische Stadien von Aufstieg und Verfall, was zwar für Variationen in der konkreten Ausprägung der Ereignisse sorgt, es ist jedoch nicht vorstellbar, dass sich Gegebenheiten durch den Zeitverlauf hindurch fundamental verändern. Die Zukunft hält nichts Neues bereit. Dies zeigt sich in den kaum explizierten Zukunftserwartungen dieser Zeit: Ein individuelles Gefühl des Überlebt-Werdens kann sich aufgrund der Vorstellung der geschichtlichen Quasi-Statik nicht einstellen. Ein systematischer Wachstumsgedanke lässt sich nicht in Einklang bringen mit dem antiken Geschichts- und Zeitbild (Koselleck; Hölscher).

Ab dem Neuen Testament und mit Augustinus bis ins Mittelalter hinein werden apokalyptische und eschatologische Geschichtsvorstellungen mit (mal mehr oder weniger explizierten) Anfangs- und Endpunkten virulent. Apokalyptische und eschatologische Geschichtsentwürfe haben den Vorteil, dass sie Enttäuschungserwartungen – die Welt wird nach dem individuellen Ableben andauern und womöglich sogar mehr bereithalten – durch die Re-integration individueller Lebenszeit und einer apokalyptisch-eschatologisch gewendeten, nun-nicht-mehr-unendlichen Weltzeit, lindern. Durch die Apokalypse oder das Jüngste Gericht, welche vor allem im Frühchristentum jederzeit in die eigene Lebenszeit fallen können, ist man sich gewiss, dass einen die Welt selbst nicht überlebt – und wenn doch, hielte sie nichts fundamental Neues oder Besseres bereit. Mit dem eigenen Ende endet gleichzeitig alles Andere, was eine tröstliche Wirkung entfaltet. Allerdings würde dieser Trost nicht ausreichen, wäre er nicht mit der Hoffnung auf ein besseres „Danach“ gekoppelt. Dennoch lässt sich diesseitiges systematisches Wirtschaftswachstum innerhalb dieses heilsgeschichtlichen Entwurfs, der den Fokus auf ein himmlisch-transzendentes Jenseits richtet, schwerlich begründen. Die theologische Geschichte als Interimszeit vernachlässigt die profane Geschichte, die angesichts des zu erwartenden Heils als nichtig anzusehen ist. In ihr geht es vorrangig darum, sich auf das Jüngste Gericht vorzubereiten, sodass man sich nicht in Verdammnis, sondern in Erlösung findet. Erst die Reformation löst eine produktive Verquickung von profanem Wachstums- und theologischem Heilsstreben aus 

Neuzeitlich-moderne Entwicklungen wie Säkularisierung, Aufklärung und die seinerzeit neuen Geschichtsphilosophien, öffnen erstmalig die Zukunft als progressiv beherrschbaren Raum. Ein starker Fortschrittsoptimismus hält Einzug in Theorie und Praxis. Die Geschichte erhält erstmals eine positiv konnotierte Bewegungsrichtung – nach vorne. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen die objektive Weltzeit in jede Richtung, sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft, auf schier unendliche Spannen anwachsen. Die individuelle Lebenszeit erscheint angesichts dieser Totalität der Zeit beinahe grotesk kurz. Die erhöhte Bewegungsgeschwindigkeit der Zeit (Koselleck; Rosa) und die damit einhergehenden erhöhten Veränderungsraten von ehemals stabil geglaubten Verhältnissen evozieren in einer säkularen Welt mit offener Zukunft und mannigfaltigen Optionen der Weltaneignung Enttäuschungserwartungen. Die anthropologische Grenze der eigenen Existenz wird so erstmals in der Geschichte als absolute Grenze erfahren, hinter der sich aber noch unendlich viel Neues und Erfahrenswertes verbirgt. Die sich in diesem Sinne verknappende Zeit ruft zu einem neuen, schnelleren, intensiveren und extensiveren Modus der Weltausschöpfung auf.  

Utilitarismus und Wachstum  

In diese Zeit fallen die ersten ökonomischen Theorien, in denen sich die Zukunftsorientierung, Fortschritt und vor allem Wachstum niederschlagen. Die aufkommende Lehre des Utilitarismus wird sukzessive ethische Grundlage der Ökonomie und Ökonomik. Die damals aufklärerische Idee des Utilitarismus ist die Emanzipation der Ethik aus dem metaphysisch-theologischen Gehäuse der Moralphilosophie – der Mutterdisziplin der Ökonomik – um angeblich naturalistische Fehlschlüsse in rationale (d.h. unter Zuhilfenahme der menschlichen, nicht der göttlichen Vernunft) Normenbegründung zu überführen. Dies geschieht durch die pragmatische Orientierung am Nutzen einer Handlung. Durch die Summenbildung aller aus Handlungen entspringender Nutzen gelangt man schließlich zum Endzweck des Utilitarismus: das größte Glück der größten Zahl. Die teleologische Ausrichtung des Utilitarismus (Nutzenmaximierung) bietet eine ethische Legitimation für den teleologischen Gedanken des „kaufmännischen Kalküls“ (Gewinnmaximierung). Durch Adam Smiths prästabilierte Harmonielehre mit der „invisible hand“ trägt dieses individuelle Streben nach Gewinn zum Wohle aller bei. Es entsteht das ökonomische Pendant für das utilitaristische größte Glück der größten Zahl: die Gesamtwohlfahrt. Hier wird der inhärente Wachstums- bzw. Maximierungscharakter der klassischen Ökonomie erstmals ersichtlich.  

Die geöffnete Zukunft, welche vermehrt als Chance interpretiert wurde, der Schulterschluss von Utilitarismus und Ökonomik sowie zunehmende Rationalisierungs- und Fortschrittstendenzen ergaben in der Folge ein schlüssiges Gesellschaftsmodell unter der Prämisse des unerschöpflichen Wachstums, d.h. es kommt historisch erstmalig zu einer wahrgenommenen Kongruenz von individuellen Lebensansprüchen und externalen Ermöglichungs- und Verwirklichungsstrukturen. Die Vorstellungen und Narrationen vom guten Leben treffen auf Institutionen, gesellschaftliche Strukturen, kulturelle Praktiken, ökonomische und politische Voraussetzungen, die eine Erfüllung dahingehend zusehends ermöglich(t)en. 

Obwohl bereits klassische Autoren wie John Stuart Mill und später einige Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Schumpeter oder John Maynard Keynes ein stationäres Wirtschaftsmodell als wünschenswert oder als zumindest nicht undenkbar beschreiben, bleibt die auf Wachstum gründende Konzeption dominant. Erst durch die angedeutete Katastrophe in den „Grenzen des Wachstums“ wird das Wachstumsparadigma einer profunden und breiten Kritik geöffnet.

Offene oder geschlossene Zukunft

Es scheint so: Die traditionale temporale Ordnung spiegelte eine geschlossene Zukunft in Form einer ewigen Gegenwart wider, welche durch göttliche Allmacht und natürliche Prozesse gestützt wurde. Wirtschaftswachstum spielte bei dieser Ausgangslage keine Rolle. Die oben beschriebenen aufklärerischen Prozesse brachen diesen geschlossenen Zeithorizont auf und ermöglichten die Durchsetzung von Wachstumsbestrebungen. Der Fortschrittsglaube und der empirisch belegbare Wohlstandszugewinn legitimierten lange Zeit diese positiv konnotierte Ausrichtung an einer offenen Zukunft. Erst als die damals nicht zu antizipierenden Negativauswirkungen eines ungebremsten Wachstums ersichtlich wurden – als sich sozusagen die Zukunft ob vielfach drohender Katastrophenszenarien wieder zu schließen anschickte – wurden Wachstumskritiken wieder ernsthaft diskutiert.

Diese Einsicht legitimiert die Frage danach, ob sich die zeitliche Disposition innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte von einer tendenziell offenen zu einer sich rasch verschließenden Zukunft gewandelt hat. Dabei verschließt sich die Zukunft womöglich auf zweierlei Art. Zum einen gibt es einen gefühlten Verlust der Agency von Einzelpersonen – aber auch von komplexeren gesellschaftlichen Akteuren – auf die Gestaltung der Zukunft. Die Beeinflussung und Lenkung der Geschicke auf Mikro- und Makroebene, im Nah- und Fernbereich, scheinen sich zusehends zu erschweren und präsentieren sich immer willkürlicher. Zum anderen verengt sich der Options- und Möglichkeitsraum drastisch, wenn die Reaktion ex-post die Aktion ex-ante als Modus Operandi der Gestaltung ersetzt: Während bei einer antizipativen Aktion noch viele unterschiedliche Handlungsvarianten gedanklich zugänglich und realisierbar erscheinen – viele Türen sind geöffnet –, verhält es sich bei reaktiven Handlungen anders. Die bereits eingetretenen Ereignisse und Sachverhalte nötigen zu ganz bestimmten Handlungen: viele Türen sind bereits geschlossen. Sachzwänge verdrängen dann sukzessive langfristige Perspektiven und Handlungsalternativen.  

Die Szenarien müssen dabei nicht einmal in apokalyptische Endzeitvorstellungen kippen, um manifeste Auswirkungen zu zeitigen. Der oftmals kolportierte Untergang der gesamten Menschheit ist keine Grundvoraussetzung, damit sich die prognostizierte Zukunft als eher geschlossen, denn als offen darstellt. Es reicht die Ahnung des Verlusts der Zukunft als melioristischer Raum.

Nimmt man die fundamentalen Auswirkungen eines veränderten Zeitbewusstseins auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders ernst, lässt sich daran anknüpfend auch die Frage stellen, ob eine Neuausrichtung der temporalen Ordnung mit einem emphatischen Blick auf das Ende der Zukunft eine ebenso neu ausgerichtete Wirtschaftsordnung nach sich zieht. Verkehren sich Chancen zu Risiken, Hoffnungen zu Ängsten und Optimismus zu Pessimismus gegenüber der Zukunft, so sind sehr reale Einflüsse auf das ökonomische System zu erwarten. Die neue gefühlte (Nicht-)Zukunft zieht auch neue Praktiken, Handlungs- und Denkmuster nach sich, die vom Wachstumsparadigma abweichen. Auf theoretischer Seite lässt sich ein verstärkter Diskurs über Plurale Ökonomik verzeichnen. Ideen wie die der Postwachstumsökonomie oder des De-Growth (u.a. Paech; Daly; Jackson; Herrmann) werden akademisch und öffentlich diskutiert. Auf praktischer Seite versucht beispielsweise die EU Taxonomie Geldströme und Berichtspflichten von Unternehmen sukzessive auf nachhaltigkeitsrelevante Bereiche zu lenken. Dabei spielen Überlegungen wie Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung zentrale Rollen. Dass künftig das gesetzlich verankerte Berichten und Erfüllen von nicht-finanziellen Kenngrößen und Impacts einer Unternehmung a pari mit dem Finanzbericht stehen soll, folgt einer erheblich veränderten Tonalität, als noch die Friedman-Doktrin von 1970. Dies lässt sich eben auch auf ein verändertes Zeit- und Geschichtsbewusstsein zurückführen.

Abschließend kann also gefragt werden, ob ein neues Zeit- und Geschichtsempfinden produktiv zur Transformation der Wirtschaft und der Gesellschaft beitragen kann. Kann ein einsetzendes Endlichkeitsbewusstsein, nicht fatalistisch-apokalyptisch, sondern positiv gewendet werden, um somit Anstoß zum Umbau der ökonomischen Theorie und Praxis zu liefern?

David Bockelt promoviert im DFG-Projekt „Politik und Ethik der Endlichkeit“ an der Universität Kiel und befasst sich mit der Ideengeschichte des Wirtschaftswachstums.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert