„Nutze den Tag!“ – Zeitempfinden und Arbeitsdisziplin im Kapitalismus

In dieser Woche setzen wir unsere Blogpost-Reihe zum Thema Zeit fort und starten mit einem Beitrag von Vanessa Ossino. Sie diskutiert die Zeitlogik des Kapitalismus und argumentiert für das politische Potenzial von Passivität.

Wir alle wissen: Zeit ist Geld. In einer Kultur, in der Zeit als Wert und Ware gehandelt wird, wiederholt sich jenes Motto als Mantra in unzähligen Köpfen von fleißigen und effektiven Menschen oder wird zum Zukunftshorizont für diejenigen Personen, die es allererst werden wollen. Dass Zeit Geld ist, wusste schon derjenige Mann, dessen Gesicht heute den 100 Dollarschein schmückt: Benjamin Franklin. Im Glanze der puritanischen Disziplin bürgerlicher Zeiteffektivität kritisierte der amerikanische Staatsmann, der sich zeit seines Lebens für Uhren interessierte und mit dem Erfinder der Kontrolluhr befreundet war, diejenigen Personen, die ihre Zeit „sorglos vertändeln“, da sie „in Wahrheit Geldverschwender“ seien. Die Verbreitung dieses Mantras ist ein historisch spannender Effekt puritanischer Arbeitsdisziplin, die sich als ein wesentliches Element der industriellen Revolution und dem daraus resultierenden Industriekapitalismus auszeichnet. Schon Karl Marx wusste, dass Arbeitskampf immer auch Kampf um Zeit und die Verfügung über Zeit eine wesentliche Modalität der ursprünglichen Akkumulation ist. Die lineare Zeit der kapitalistischen Produktionsweise hat einen erheblichen Beitrag dazu geleistet, so Marx, dass sich eine Arbeiterklasse entwickelt hat, „die aus Erziehung, Tradition [und] Gewohnheit die Anforderungen der Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt“. Es gilt also danach zu fragen, welche Denkfiguren und Praktiken Räume eröffnen können, die eine Potentialität für ein Jenseits kapitalistischer Zeitlogiken bereithalten.

Die Rolle der Uhr in der industriellen Revolution  

Der Übergang zur Industriegesellschaft brachte entscheidende Umstrukturierungen von Arbeitsgewohnheiten mit sich, die sich entlang präziser Zeiteinteilungen und weiträumiger Synchronisierungen von Arbeitspraktiken entwickelten. Die zunehmende Verbreitung und wirtschaftliche Erschwinglichkeit von Uhren, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum, stellte dabei ebenso eine technologische Bedingtheit des gesellschaftlichen Wandels als auch ein zunehmendes Mittel zur Ausbeutung von Arbeiter*innen dar. Nicht die Aufgabe selbst, sondern der monetäre Wert von Zeit wurde nun zur entscheidenden Instanz der Bemessung von Arbeitsleistung. Essentielle Merkmale industrieller Produktionslogik entwickelten sich also bevorzugt in Wechselwirkung mit der Verbreitung von Uhren – die zunehmend länger und verlässlicher schlugen. Arbeiter*in, Arbeitszeit und Arbeitsprozess synchronisierten sich entlang des Takts der Maschinen und dem Schlag des Uhrzeigers. 

Das Zeitregime maschineller Arbeitsprozesse und die Flucht der Arbeiter*in in den Müßiggang 

Maschinen brachten dabei eine Disziplinierung mit sich, die insbesondere seitens Moralisten und Merkantilisten begrüßt wurde. Eine strikte Arbeitswoche, die lange Arbeitstage mit sich bringt, hatte zur erfreulichen Konsequenz, dass die arbeitende Bevölkerung keinen moralisch verwerflichen Tätigkeiten nachging, wie etwa Trinken oder Faulenzen. Freizeit wurde zum Problem für eine vom Rhythmus der Maschinen getriebene Gesellschaft. Der britische Kirchenmann Josiah Tucker sprach etwa davon, dass das Volk und speziell die „untere Volksschicht“ trunken vom Kelch der Freiheit sei. So zeichnen sich in einem Pamphlet mit dem Titel Friendly Advice to the Poor, geschrieben und veröffentlicht im Auftrag der Stadt Manchester, etwa die Ansprüche der Bourgeoisie an Arbeiter*innen in kondensierter Form ab, wenn beispielsweise postuliert wird, dass derjenige Arbeiter nur Armut als Lohn erwarten kann, der „seine Hand in der Tasche versteckt, anstatt sie zur Arbeit zu gebrauchen; wenn er seine Zeit mit Bummeln zubringt, seinen Körper durch Faulheit schwächt und seinen Geist durch Trägheit abstumpft“ (Thompson 1980, 52).  Festtage und gesellschaftliche Zusammenkünfte wurden als „widerwärtige Vertilger von Zeit und Geld“ angeprangert, dem die Disziplinierung zum zeitigen Schlafen und Frühaufstehen gegenübergestellt wurde, da sie nicht zuletzt eine „wundervolle Ordnung in [die] Wirtschaft“ bringt (Thompson 1980, 53). In ähnlichem Ton verlangte man vornehmlich verarmte Kinder „im Alter von 4 Jahren in die Arbeitshäuser zu schicken, wo sie Fabrikarbeit leisten und zwei Stunden am Tag Schulunterricht erhalten sollten.“ (Thompson 1980, 53) um sie so zu sozialisieren, dass „Arbeit und Anstrengung zur Gewohnheit, wenn nicht zur zweiten Natur werden“. Es kann also mit Recht behauptet werden: Marx’ Arbeiterklasse wurde maßgeblich durch zeitlogische Disziplinierungen geschaffen. 

Ein Recht auf Faulheit 

Demgegenüber stand die Realität der Arbeiter*innen, die dem „Überdruss und Ekel“ der sich mechanisch wiederholenden und ermüdenden Arbeit durch Müßiggang entkommen wollten, bevor sie wieder zu ihrem „Brechmittel“ zurückkehren mussten (Thompson 1980, 48). Schon Friedrich Nietzsche beschrieb die Last der Arbeit und Ausflucht in Ruhephasen, indem er die beschleunigte Zeitlogik des Kapitalismus durch ihre Konsequenz der Müdigkeit betrachtete. In Stunden erlaubter Redlichkeit sei „man müde und möchte sich nicht nur ‚gehen lassen‘, sondern lang und breit und plump sich hinstrecken“ (Nietzsche 2015, 557). 

Der ermüdete Mensch, der sich der beschleunigten Logik des Kapitalismus ausgesetzt sieht, kann nicht anders als sich an einem vermeintlich erreichbaren Möglichkeitshorizont auszurichten, der vielleicht niemals verwirklicht werden kann oder aber immer schon verwirklicht ist – in welchem Fall, mit Gilles Deleuze, vielmehr von einem erschöpften Menschen zu sprechen wäre. In einem erschöpften Zustand erreicht der Mensch nicht mehr, was möglich ist, weil sich die Möglichkeiten selbst erschöpft haben. Arbeitskampf, der seit jeher immer auch ein Kampf um Zeit ist, versucht letztlich auch eine ermüdete Gesellschaft vor ihrer Erschöpfung zu bewahren.  

Seitdem das Messen der Arbeitszeit für die Beschäftigten also eine klare Scheidung zwischen ‚eigener Zeit‘ und ‚Zeit der Arbeitgebenden‘ mit sich brachte, wurde um jeden Takt der eigenen Zeit gekämpft. So schreibt Thompson etwa, dass der ersten Generation Fabrikarbeiter die Bedeutung der Zeit von ihren Vorgesetzten eingebläut wurde, die zweite Generation in den Komitees der Zehn-Stunden-Bewegung für eine kürzere Arbeitszeit kämpfte und die dritte schließlich für einen Überstundenzuschlag einstand. „Sie hatten die Kategorien ihrer Arbeitgeber akzeptiert und gelernt, innerhalb dieser Kategorien zurückzuschlagen. Sie hatten ihre Lektion – Zeit ist Geld – nur zu gut begriffen“ (Thompson 1980, 55). 

Doch wie kämpft man gegen etwas an, dessen Logik man bereits internalisiert hat? Paul Lafargue wagte 1883 einen neuartigen Versuch, indem er sich gegen die Primärtugenden von einer Effizienz getriebenen Gesellschaft wandte, in der aus einem Recht auf Arbeit eine Pflicht zur Arbeit wurde. In seiner Schrift Das Recht auf Faulheit fordert er nicht nur ein Recht auf Müßiggang, sondern stellt zusätzlich die Frage, wem in einer Gesellschaft überhaupt vergönnt ist, die eigene Zeit zu vertrödeln und den Mehrwert von getaner Arbeit zu genießen. Welchen gesellschaftlichen Schichten wird zugestanden, ihre Zeit mit Festen, üppigen Speisen, Spaziergängen und Reisen zu vertrödeln? Ab wann haben Menschen es ‚verdient‘ sich auszuruhen? Überlegungen dieser Art sind auch heute noch mit der Frage verbunden, welche Vorstellung von Disziplin und Disziplinierung in einer Kultur vorherrscht und entlang welcher Parameter sich die ‚zeitliche Sozialisierung‘ von Personen ausrichtet. Gleichzeitig kann danach gefragt werden, ob die zirkuläre Abwechslung von Arbeit und Ruhephasen sowie von Arbeit und Konsum der Produktionslogik kapitalistischer Akkumulation nicht bereits inhärent ist. Denn wenn dem so ist – wonach es doch scheint – gilt es zu fragen, welche Konsequenz das für eine gegenwärtige Forderung auf ein ‚Recht auf Faulheit‘ haben könnte. Wenn nämlich Faulheit und Müßiggang der heutigen Produktionslogik und Zeitlichkeit inhärent sind, dann stellt sich die Aufgabe zu erforschen, welche Elemente der menschlichen Passivität sich dem Sog eines ‚kapitalistischen Zeitregimes‘ noch entziehen können. 

Potentia Passiva 

Dass das Motiv der Passivität sich im Arbeitskontext einer zunehmenden Aufmerksamkeit erfreut, zeigt sich nicht zuletzt an Debatten zu Schlagwörtern wie dem „Quiet Quitting“ oder einer 35-Stunden-Woche. Solche Anstöße sind wesentlich als Gegenbewegungen zu einem beschleunigten und Zeit-konsumierenden Leben im Neoliberalismus zu verstehen. Die seit den späten 1970er Jahren bevorzugt praktizierte neoliberale Regierungsweise, die auf eine Selbstaktivierung des „unternehmerischen Selbst“ abzielt, scheint in einer ermüdeten Gesellschaft und „überforderten Subjekten“ ihre Grenze zu finden. Doch reicht eine solche Passivität aus, die sich lediglich vereinzelten Elementen des kapitalistischen Zeitregimes entzieht, letztlich aber in dessen Logik verhaftet bleibt? Debatten wie jene um den Begriff des „Unworking“ verweisen auf ein radikaleres Konzept der Passivität, das nicht nur eine politische, sondern auch eine ästhetische Praxis umfasst und auf das Unverfügbare im Menschen Rückbezug nimmt. Kathrin Busch hat etwa einer solchen Ur-Passivität umfassend nachgespürt, die sich dem Zirkel aus Ansprüchen der Selbstverbesserung und Kompetenzsteigerung eines stets produktiven und effektiven Menschen entziehen. Auch populär philosophische Schriften wie Jenny Ordells’ Nichts Tun versuchen sich an einer ästhetischen sowie politischen Theoretisierung einer Praxis der Passivität, die dem Pathos des Selbst einen Raum zugesteht, in dem es nicht aktiviert oder vereinnahmt wird. Wenn Freizeit und Ruhephasen heute produktionsimmanente Elemente kapitalistischer Akkumulation sind, reicht der Ruf nach einem ‚Recht auf Faulheit‘ nicht mehr aus, um tatsächlich neue Räume zu schaffen, die jenseits dieser Akkumulationslogik liegen. Letztlich, so das Argument – und die Hoffnung –, gilt es eine Potentialität in der Passivität (wieder)zu entdecken, welche die potentia einer Unverfügbarkeit aufrechterhält, die unserer Gesellschaft radikal alternierende Möglichkeitshorizonte offenhalten kann. Möglichkeitshorizonte, in denen sich unsere Kräfte nicht erschöpfen.

Vanessa Ossino promoviert an der Universität zu Köln und der Universität Fribourg zu dem Thema der „Medialität von Erfahrung in ihrer sozialen Situation“. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Phänomenologie, Sozialphilosophie und post-marxistischen Theorie. 

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