Forum „Krise und Normkontestation“ – Auftaktbeitrag

Die Begriffe „Krise“ und „Kontestation“ haben derzeit Hochkonjunktur in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Doch wie verhalten sie sich zueinander? Geht die Krise der Kontestation von Normen voraus oder umgekehrt? Hilft der eine Begriff, Dynamiken des jeweils anderen auszuleuchten? Oder sprechen Kontestations- und Krisenforscher:innen gar über gleiche Phänomene mit unterschiedlichem konzeptionellen Vokabular? Dieses Forum widmet sich diesen Fragen und den theoretischen Dimensionen des Verhältnisses von Krise und Kontestation.

Internationale Organisationen (IOs) und andere politische Institutionen, so scheint es, kommen bei der Suche nach wirksamen Gegenmaßnahmen und Vorsorgestrategien gegen Krisen kaum noch hinterher. Die Wahrnehmung gleichzeitig auftretender Krisen, einer „Polykrise“, hat den globalen Diskurs und das Handeln von IOs paradigmatisch verändert. Gleichzeitig ist die Kontestation von Normen in unterschiedlichen politischen Räumen zu beobachten. Es verwundert daher wenig, dass Krisenforscher:innen und Kontestationsforscher:innen der jeweils andere Begriff nicht unbekannt ist. Wo „Krise“ ist, scheint „Normkontestation“ nicht weit zu sein. Je nach analytischer Blickrichtung entsteht der Eindruck, dass Normkontestation erst in Krisen sicht- und analysierbar wird oder umgekehrt eine Situation nur dann als Krise bezeichnet wird, wenn bestimmte Normen angefochten werden. Darüber hinaus bleibt die analytische Beziehung zwischen beiden Begriffen und den dahinterliegenden konzeptionellen Debatten jedoch oft vage.

Normkontestation, Krise und Internationale Politische Theorie

Diese Feststellung gilt für empirisch-angewandte Forschung in den Internationalen Beziehungen (IB) und gleichermaßen für politiktheoretische Reflexionen globaler Ordnungen. Die Begriffe Krise und Kontestation schwingen in den intensiven Debatten um Konsens, Streit oder Kompromiss in der Demokratie (und darüber hinaus), (Post-)Souveränität  als konstituierendes Element globaler Ordnungen oder auch globale Gerechtigkeit  stets mit. Wenngleich es sich bei den Konzepten in vielerlei Hinsicht um „essentially contested concepts“ handelt, zeigen die obigen Überlegungen, dass nur eine vertiefte Untersuchung des Verhältnisses der beiden Konzepte eine Annäherung an sie ermöglicht und somit verhindert, sich hinter ihrer Umstrittenheit zu verstecken.

In diesem Einleitungsbeitrag möchten wir unterschiedliche Dimensionen dieser Konversation vorstellen, die wir aus der bisherigen, empirisch fokussierten Nutzung des Krisenbegriffs und der konzeptionellen Debatten um Kontestation in den IB ableiten. Diese beziehen sich auf die ontologischen und epistemologischen Grundlagen von Krise und Kontestation, eine normativ-reflexive Theoretisierung des Krisen-/ Kontestationsverhältnisses, sowie eine subjektbezogene Auseinandersetzung mit Akteurshandeln im Zusammenspiel der Konzepte. Wenngleich sich diese Dimensionen nur schwer trennscharf voneinander abgrenzen lassen und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, dienen sie uns zur Strukturierung einer vielstimmigen Debatte.  Das Anliegen dieses Forums ist es, den wissenschaftlichen Diskurs über das Verhältnis von Krise und Normkontestation als zwei innerhalb der Internationalen Beziehungen (IB), der (Internationalen) Politischen Theorie, wie auch der Sozialwissenschaften insgesamt, omnipräsenten Konzepten anzuregen und den Mehrwert einer politisch-theoretisch informierten Debatte deutlich zu machen.

Inhaltliche Dimension: Ist Krise etwas anderes als Normkontestation?

Den bisherigen Überlegungen folgend sind Krise und Kontestation zwei unterschiedliche Phänomene. Was aber, wenn Krise und Normkontestation eigentlich die gleiche Situation beschreiben? Damit wäre die Wahl eines der beiden Konzepte lediglich ein Ergebnis der Forschungstradition, in der sich ein:e Wissenschaftler:in verortet. Sie könnte aber auch eine Funktion der angefochtenen Norm, der Dringlichkeit oder der geographischen Verortung einer Situation sein. Was an einem Ort als politisch erwünschte Kontestation wahrgenommen wird, mag sich anderswo bzw. für andere Akteure als bedrohliche Krise darstellen.

Unter einem anderen Blickwinkel scheinen sich die Konzepte hingegen diametral entgegenzustehen. Die Umstrittenheit einer Norm geht zumeist mit Unsicherheit über das angemessene Verhalten in einer bestimmten Situation einher. Durch diese Unsicherheit wird Handeln verlangsamt und der normative Ermessensspielraum für angemessenes Handeln wird unklarer. In der Krise hingegen liegt eine existenzielle Strukturbedrohung vor, die schnelles und entschiedenes Handeln erfordert. Bestimmte Praktiken werden als notwendige Reaktion auf Krisen legitimiert, wodurch bestehende Normen möglicherweise in der Praxis unterminiert werden. Anstatt als Normkontestation wahrgenommen zu werden, wird diese Politik aber als Notwendigkeit in der Krise präsentiert. Anstelle eines inklusiven Raums für Normkontestation, tritt hier autoritatives Handeln, das seinerseits als Kontestation zu verstehen ist.

Hinsichtlich der epistemologischen Bestimmung der Begriffe rühren schon diese oberflächlichen Überlegungen an Auseinandersetzungen über die diskurstheoretischen und praxeologischen Grundlagen internationalen Handelns, die insbesondere in der deutschen IB-Debatte immer noch eng an einer deliberativen Demokratietheorie orientiert  sind. Dabei werden aktuelle Erkenntnisse zur Bedeutung von Streit und Dissens, die die Politische Theorie zu bieten hat, bisher nur selektiv für die Herausforderungen multipler Krisen erschlossen.

Normative Dimension: Gute Kontestation, schlechte Krise?

Ist Normkontestation positiv oder negativ? Panke und Petersohn gehen davon aus, dass ihre Anfechtung sogar den „Tod“ einer Norm zur Folge haben kann. Aufbauend auf Wiener argumentieren demgegenüber zahlreiche Wissenschaftler:innen, dass Normkontestation die Inklusivität einer normativen Ordnung dauerhaft sicher stellt und gerade marginalisierten Akteuren Gehör verschafft. In diesem Sinne argumentiert auch Rainer Forst für einen universellen und individuellen Anspruch auf die Rechtfertigung autoritativen Handelns. Während erstere Position als eine unkritische Verteidigungsstrategie eines westlich-liberalen Ordnungsmodells kritisiert wird, sieht sich zweitere mit dem Vorwurf einer romantisierenden Perspektive konfrontiert.

Dagegen wird „Krise“ umgangssprachlich häufig als „catch-all“ Begriff benutzt. In diesem alltagssprachlichen Verständnis hat sie gewöhnlich eine negative Konnotation. Wissenschaftlich ist der Krisenbegriff aber umstritten, wie sich u.a. in dem Versuch verschiedene Typen von Krisen zu unterscheiden, zeigt. Eine zentrale Bruchlinie ist dabei, ob Krise als ein objektives Phänomen verstanden wird, oder als eine soziale Konstruktion (und damit wiederum als Praxis). Letzteres verweist sowohl auf normative Fragen als auch die Akteure, welche Krisen (möglicherweise strategisch) konstruieren. Auch wenn Krise als intersubjektive Konstruktion verstanden wird, ist sie in der Regel negativ konnotiert: Eine Krise ist eine existentielle Bedrohung. Umgekehrt ermöglichen Krisen oder genauer deren Antizipation die Entstehung von Normen. Wenn es aber insbesondere der Krise zu verdanken ist, dass Normen für die Kontrolle zukünftiger Rüstungstechnologie entstehen können, ist Krise dann nicht doch etwas Gutes? Der Ruf nach der Reflexion von (eigener) Positionalität und inhärenter Normativität ist in der Internationalen Politischen Theorie zuletzt immer deutlicher geworden und wird auch in den IB inzwischen vermehrt diskutiert. Die Kontingenzen des Krisen- und Kontestationsbegriffs untermauern die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung einmal mehr.

Akteursdimension: Wer macht Krise und Normkontestation?

Sind Krisen soziale Konstruktionen, rücken die Akteure, die Krisen konstruieren (können) in den Vordergrund. Krisen könnten Normkontestation strategisch ermöglichen oder verhindern, oder Möglichkeiten der Ermächtigung für bestimmte Akteure bieten. Ganz im Sinne des Akteur-Struktur Dilemmas wirken Krisen als Struktur formativ auf Akteure. Sie unterscheiden in Verursacher:innen und (potentiell) die Krise lösende Akteure. Umgekehrt stellt sich die Frage, inwiefern Akteure das Auftreten von Krisen selbst beeinflussen können. Gibt es Akteure, die die Souveränität haben, über das Auftreten einer Krise zu entscheiden? Indem in Krisen Attribute wie Schuld, Verletzlichkeit oder Führung diskursiv mobilisiert werden, können durch sie außerdem Akteursrollen und damit einhergehende Marginalisierungen („Othering“) eingeschrieben und reproduziert werden.

Die Forschung zur Normkontestation hebt außerdem hervor, dass sich Kontestation im Gegenspiel von Normunterstützer:innen und Anfechter:innen entwickelt und dabei möglicherweise radikalisiert. Gerade wenn der Konflikt über eine Norm autoritativ geschlossen wird, ist mit einer radikalen Reaktion zu rechnen. Löst gerade die radikale Kontestation von Fundamentalnormen eine Krise erst aus? Die Kontestation der normativen Grundpfeiler einer Ordnung stellt nicht nur eine bestimmte Norm infrage, sondern die gesamte normative und institutionelle Ordnung und kommt dem Alltagsverständnis von „Krise“ sehr nahe.

Diese Beobachtungen machen die Notwendigkeit eines subjekt- beziehungsweise akteurszentrierten Blicks auf Krisen und Kontestation deutlich, der in der (Internationalen) Politischen Theorie aus verschiedensten Blickwinkeln vorgenommen wird. Werden durch Krisen hegemoniale Strukturen oder ausschließende Praktiken  geschaffen, reifiziert oder legitimiert? Ein subjektfokussierter und machtkritischer Blick auf Krisen wäre geeignet, die beteiligten Akteure und ihre Praktiken zu benennen.

Gegenseitiges Lernpotential

Abschließend bleibt die Frage nach dem Mehrwert der von diesem Forum angestoßenen Überlegungen. Braucht es eine Beziehungsarbeit zwischen den Begriffen und Diskursen um Krise und Normkontestation oder läuft diese Gefahr, sich in disziplinären Strohmanndebatten zu verlieren?

Wie wir mit Blick auf drei sich ergänzende theoretische Dimensionen verdeutlicht haben, ergibt sich tatsächlich das Potenzial, jenseits eines konzeptionellen „Schaulaufens“ das Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken zu verbessern. Mit dem reichen heuristischen Fundus der Normkontestationsforschung können Krisen differenzierter analysiert werden. Für die Normenforschung wiederum knüpft der Krisenbegriff an die Debatte um die normative Erwünschtheit, die Bedingungen und Folgen von Kontestation an. Auch die zeitliche Dimension von Normdynamiken wird durch den disruptiven Charakter von Krisen in den Mittelpunkt gerückt. Angesichts der Aktualität und Vitalität der Forschung zu Krisen und Normkontestation ist die Notwendigkeit und das Potential eines solchen Dialogs umso deutlicher. Für diese Konversation sind Impulse aus der (Internationalen) Politischen Theorie unerlässlich.

Diese Einleitung hatte zum Ziel, unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine Diskussion der Konzepte aufzuzeigen, ohne dabei eine detailliertere Auseinandersetzung mit einzelnen Forschungsrichtungen vornehmen zu können. Das Forum nähert sich den Konzepten und ihrer Beziehung unter verschiedenen wissenschaftlichen Blickwinkeln, indem sie Kolleg:innen aus unterschiedlichen Feldern der IB zusammenbringt. Die fünf Beiträge dieses Forums von Laura von Allwörden, Nicole Deitelhoff, Anna Holzscheiter, Sassan Gholiagha und Andrea Liese, Christian Kreuder-Sonnen sowie Berenike Prem vertiefen das Verständnis von Krise und Kontestation aus den konzeptionellen und empirischen Perspektiven der Forschung der Autor:innen. Damit möchten wir einen Grundstein für diese aktuelle Debatte legen, der im Gegenzug auch die Bedeutung einer Internationalen Politischen Theorie einmal mehr untermauert.

 

Nils Stockmann ist PostDoc im Projekt „Climate Finance Society“ an der Universität Osnabrück. Johanna Speyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Bereich Internationale Politik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Den Ausgangspunkt für diese Blogserie bildet ihre Analyse des Potentials der kritischen Normenforschung für das Verstehen von Krisen der Europäischen Union, welche 2023 als Research Note im Journal of Common Market Studies erschienen ist, sowie eine Podiumsdiskussion mit den Autor:innen dieser Blogserie auf der Sektionstagung der Sektion Internationale Beziehungen der DVPW in Friedrichshafen am 15. Juni 2023.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert