Krisen: Depolitisierung und ihre Anfechtung

Den zweiten Beitrag zum Forum „Krise und Normkontestation“ steuert Christian Kreuder-Sonnen bei.

Akute, existentielle Bedrohungen, die unter Zeitdruck politische Antworten erfordern, lassen wenig Raum für argumentative Auseinandersetzung. Die in solchen Krisen eingesetzten politischen Mittel und Maßnahmen entziehen sich daher zumindest kurzfristig oft tiefgehender Anfechtung (Kontestation). Wie ich in diesem Beitrag argumentiere, stellen Krisen jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht auch Treiber von spezifischen Praktiken der Normkontestation dar. Zum einen können notstandspolitische Maßnahmen selbst eine verhaltensbezogene Form der Normkontestation darstellen, indem sie in der Praxis mit gewissen Normen brechen und andere Normen implementieren. Zum anderen führt die diskursive Depolitisierung der akuten Krisensituation – gekoppelt mit weitreichenden krisenpolitischen Maßnahmen – mittelfristig zu einer repolitisierenden Gegenreaktion, bei der Normen und politische Institutionen insgesamt mit besonderer Intensität angefochten werden.

Krise: Das Schweigen der Lemmata 

Im Folgenden verwende ich den Krisenbegriff in seiner klassischen Definition. Er beschreibt den Moment der Wahrnehmung einer akuten, existentiellen Bedrohung, welche unter Bedingungen der Unsicherheit schnellste Reaktionen erfordert. Dabei zeichnen sich moderne Krisen vermehrt durch unklare Anfangs- und Endpunkte aus. Probleme und Risiken köcheln oft langsam vor sich hin, ehe sie (wenn überhaupt) zu einem veritablen Krisenausbruch führen. Der Klimawandel ist ein Beispiel für derlei schleichende Prozesse.   

Entscheidend ist dabei nicht, ob eine materielle Problemlage ‚objektiv‘ existenzbedrohend ist, sondern ob ein Thema in der Öffentlichkeit entsprechend wahrgenommen wird. Ohne Krisenwahrnehmung keine Krise. Dieser Umstand verweist auf die Wichtigkeit gesellschaftlicher Diskurse und Praktiken, in denen Problemkonzeptionen verhandelt und Bedrohungspotentiale (de-)konstruiert werden. Welche Folgen sind für die Kontestation von Normen zu erwarten, wenn sich die Krisenwahrnehmung einmal bahnbricht?   

Nicht zuletzt die kritische Sicherheitsforschung der Kopenhagener Schule hat herausgearbeitet, wie die Wahrnehmung existentieller Bedrohungen den normalen politischen Diskurs aushebelt und mit der Logik des Krieges ersetzt. Wenn das Überleben einer Gemeinschaft, einer Ordnung oder eines Systems auf dem Spiel steht, müssen sich alle anderen politischen Motive und normativen Bestrebungen dem überragenden Ziel der existentiellen Sicherheit unterordnen. Politischer Widerspruch wird in dieser Wahrnehmung zu einer unnatürlichen, weil letztlich existenzgefährdenden Handlung.  

Die Anfechtung von Autorität und die Auseinandersetzung über Inhalt, Anwendung und Vorrang von Normen hat in diesem radikal beschränkten Diskursraum keinen Platz. Natürlich sind auch akute Krisen kein Moment der totalen politischen ‚Stille‘, doch in der Tendenz gibt es zunächst (!) große Zurückhaltung und oftmals sogar den Ruf nach dem autoritären Durchgreifen der Exekutive – das Leitmotiv im neo-Schmittianischen Denken.  

Um die Bedrohung einzuhegen, müssen schließlich alle Maßnahmen recht sein, die notwendig sind. Das Primat der Notwendigkeit impliziert politische und normative Alternativlosigkeit und lässt damit eine argumentative Auseinandersetzung als sinnlos oder gefährlich erscheinen. Aus dieser Perspektive scheint die Krise depolitisierend zu wirken und Normkontestation allgemein zu unterbinden.

Notstandspolitik als Normkontestation ‚von oben‘ 

Doch schon in der akuten Krise selbst greift diese Diagnose zu kurz. Zwar ist diskursive, gesellschaftliche Kontestation weitgehend ausgeschaltet, doch erlauben Krisen durchaus Normkontestation ‚von oben‘. Diese muss nicht in herkömmlich diskursiver Form erfolgen. Anette Stimmer und Lea Wisken haben aufschlussreich argumentiert, dass Kontestation sowohl discursive als auch behavioral sein, d.h. dass die Anfechtung einer Norm auch durch entsprechendes Verhalten von Akteuren verursacht werden kann.  

So lässt sich die häufig in Krisen von Exekutiven betriebene Notstandspolitik selbst als verhaltensbezogene Normkontestation interpretieren. Ob verfassungsrechtlich normiert oder faktisch ausgeübt, folgt Notstandspolitik einem wiederkehrenden Skript: Entscheidungsträger:innen rechtfertigen in Krisen ihre Maßnahmen zwar unpolitisch als notwendig und alternativlos, jedoch nutzen sie die neu gewonnenen Spielräume, um – geschützt durch das Primat der Notwendigkeit – bestimmte Normen oder breiter gefasste normative Projekte voranzubringen. Fast immer bedeutet dies eine implizite Anfechtung anderer, bestehender Normen.  

Im Bereich der internationalen Institutionen lässt sich dies gut am Beispiel der Europäischen Union (EU) illustrieren. In der Eurokrise etwa wurde von den nördlichen Mitgliedstaaten sowie der Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB) eine wirtschaftspolitische Agenda verfolgt, die auf Haushaltskonsolidierung durch Sparmaßnahmen im Sozialbereich der in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Länder abzielte. Eine Praxis, die als alternativlos deklariert wurde, freilich aber einer (neo-)liberalen Werteentscheidung entsprach.  

Auch und vor allem konfligierte sie mit bestehenden Normen etwa des europäischen und internationalen Arbeits- und Sozialrechts sowie verschiedenen Grundrechten. Allgemeiner gesehen focht die europäische Notstandspolitik das normative Projekt einer fiskalischen Integration und einer investitions- und wachstumsbasierten europäischen Volkswirtschaft nachhaltig an. 

Auf nationaler Ebene hält die COVID-19-Pandemie etliche weitere Beispiele für eine solche Kontestation ‚von oben‘ bereit. So kann etwa die konkrete Ausgestaltung der frühen Lockdown-Maßnahmen in Deutschland – Schließung von Kitas und Schulen, Kann-Regelung für Homeoffice in Unternehmen – als implizite Anfechtung von Normen zur Gender-Gerechtigkeit und Care-Arbeitsteilung gesehen werden.

Von Depolitisierung zu Repolitisierung und Radikalisierung  

Darüber hinaus birgt die Depolitisierung und Unterdrückung gesellschaftlicher Kontestation nach dem Ende der akuten Krise, der sog. fast-burning crisis, großes Potential für verzögerte Gegenreaktionen. Anders ausgedrückt: Die Durchsetzung von Maßnahmenpolitik und damit einhergehende Diskursbehinderung werden in der Krise kurzfristig akzeptiert, führen aber mittelfristig häufig zu einer Gegenreaktion bzw. einem backlash. Normkontestation ‚von unten‘ kommt also oft mit verstärkter Kraft zurück. 

Ein Mechanismus ist dabei, dass mit der Zeit die Verteilungskonsequenzen der Krisenmaßnahmen offensichtlicher werden und die ‚Verlierer‘ bei abnehmender Bedrohungslage ihre Missstände mit wachsendem Nachdruck benennen. So hat sich etwa auf die Durchsetzung der harschen Austeritätsmaßnahmen in Griechenland eine landesweite Protestbewegung gegründet, die letztlich eine linkspopulistische Partei an die Regierung brachte, mit dem Anspruch, die Norm des sozialen Sparzwangs zu bekämpfen. Und noch während der COVID-19-Pandemie, nach Beendigung der ersten Lockdowns, wurden vermehrt Stimmen laut, die auf eine ungerechte Lastenverteilung hinwiesen und eine Neujustierung in der Hierarchie zwischen Wirtschafts- und Sozialnormen forderten.  

Ein zweiter, damit eng verbundener Mechanismus besteht darin, dass die Krisen und ihre Bearbeitung schwelende Normkonflikte häufig erst sichtbar machen und aktivieren. Wie der Beitrag von Anna Holzscheiter et al. in dieser Reihe tiefergehend analysiert, legen Krisen oft die Sollbruchstellen in Normsystemen frei und führen im Nachgang zu tiefergehenden Auseinandersetzungen über den Vorrang konfligierender Normen.  

Nicht zuletzt ist drittens zu beobachten, dass sich im Nachgang der krisenbedingten Depolitisierung und der Durchsetzung von notstandspolitischen Maßnahmen Kontestation in gewisser Weise radikalisiert. Sie bezieht sich nicht mehr nur auf den normativen Kern bestimmter politischer Entscheidungen (policies), sondern zunehmend auf die politische Ordnung insgesamt (polity). Dies lässt sich mit dem bekannten Theorem von Peter Mair erklären, dass eine mangelnde Bestreitbarkeit politischer Entscheidungen (wie in Krisen üblich) zu Frustration mit dem politischen System an sich führt und sich politische Anfechtung folglich vermehrt an dieses System richtet. Vertrauensverlust in die politischen Institutionen führt zu Fundamentalopposition.  

Anzeichen hierfür gibt es etwa im Nachgang der Eurokrise europaweit in der wachsenden Bedeutung euroskeptischer, rechtspopulistischer Parteien. So haben die ersten Europawahlen nach der Eurokrise beispielsweise zu einem rasanten Anstieg der Stimmenanteile euroskeptischer Parteien geführt (auf über 25%) und in vielen Mitgliedstaaten wurden rechtspopulistische Parteien stärkste Kraft oder errangen eine Regierungsbeteiligung.  

Und auch das Beispiel der COVID-19-Pandemie zeigt eindrücklich, wie Notstandspolitik zu massenhaften Protesten geführt hat, die – getragen von Verschwörungstheorien und tieferliegenden Ressentiments – eine vermeintlich undemokratische politische Ordnung anprangerten.

Das Verhältnis von Krise und Normkontestation ist aus meiner Sicht also geprägt von einer Sequenzierung und gewissen Dialektik. Zunächst stellen Krisenbedingungen ein vorläufiges Ende von Kontestation und politischer Bestreitbarkeit dar. Zugleich ebnen sie jedoch auch den Weg für eine – verdeckte – Normkontestation ‚von oben‘. Sowohl die kriseninduzierte Beschränkung des Diskursraums als auch die notstandspolitische Krisenbearbeitung führen mittelfristig wiederum häufig zu einer intensiven Gegenreaktion in Form neuer Normkontestation sowie radikalisierter System-Kontestation.  

 

Christian Kreuder-Sonnen ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationale Organisationen und Ko-Direktor des Masterstudiengangs “International Organizations and Crisis Management (IOCM)” an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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