Zwischen menschenmachendem Sein und menschengemachtem Sollen. Ein Workshop-Bericht aus Darmstadt

Krisen wie die Coronapandemie und der Klimawandel scheinen dem Menschen seine natürlichen Grenzen aufzuzeigen. Da jedoch beide Krisen mit kollektiv hervorgebrachten Umständen wie etwa einem globalisierten ausbeuterischen Wirtschaftssystem zusammenhängen, werden in ihnen nicht bloß die Notwendigkeiten der Natur, sondern ebenso die Kontingenzen der Kultur sichtbar. In dieser eminent natürlichen wie nicht-natürlichen Dimension werfen sie somit die Frage auf, in welchem System ‚der Mensch‘ leben will bzw. welches System für ‚den Menschen‘ am gedeihlichsten ist. Die politiktheoretische Anthropologie könnte darauf Antworten liefern. Schließlich beschäftigt sie sich mit philosophischen Annahmen über die Natur des Menschen im Hinblick auf die Ausgestaltung einer damit korrespondierenden politischen Ordnung. Aus dieser Doppelfrage – Was ist der Mensch und wie soll die politische Ordnung beschaffen sein? – ergibt sich allerdings eine Spannung zwischen dem (notwendigen) Sein der menschlichen Natur und dem (kontingenten) Sollen ordnungspolitischer Forderungen. Um die Auslotung wie potenzielle Überwindung dieser Spannung lassen sich daher auch einige Beiträge des Workshops Politische Anthropologie und kritische Gesellschaftstheorie gruppieren, der vom 22. bis zum 23. September an der TU Darmstadt stattgefunden hat (zum vollständigen Programm).

Auf dem Workshop lassen sich verschiedene Strategien zum Umgang mit der Sein/Sollen-Spannung ausmachen. In allen Fällen ist jedoch klar: Damit ein solcher Umgang konstruktiv gelingt und die Anthropologie in der Folge ein gesellschaftskritisches Potenzial entfaltet, muss sie zunächst auf die Kritik an ihr selbst reagieren. Tut sie dies nicht, „wird sie unkritisch und führt am Ende gar zu einer Dogmatik mit politischen Konsequenzen, die umso gefährlicher sind, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissenschaft auftritt“ – wie Habermas in seinem 1958 erschienen Lexikonartikel zur Anthropologie anmerkt, der als prominenter Warnhinweis direkt zu Beginn des Workshops zitiert wird. Um dem habermas‘schen Urteil zu entgehen, setzt sich Luca Hemmerich (Darmstadt) mit den ontologischen, normativen und epistemologischen Einwänden der Anthropologiekritik auseinander und stellt ihr den Entwurf einer kritischen Anthropologie entgegen.

Anthropologiekritik und kritische Anthropologie

Eine Abweisung der ontologischen und der normativen Kritik gelingt Hemmerich ohne Mühen. Ihm zufolge hält die ontologische Kritik die Fixierung einer konstanten universellen Natur gegenüber der Diversität und Pluralität des Menschen für inadäquat, während die normative Kritik der Anthropologie Ethnozentrismus vorwirft. Dabei ziele eine recht verstandene kritische Anthropologie gar nicht auf die Feststellung von Merkmalen, die jederzeit für alle Menschen gelten sollen, sondern begnüge sich mit der Aufdeckung dispositionaler Grundstrukturen, die sich im Laufe der Geschichte in unterschiedlichen Kulturen verschiedenartig verwirklichen. Zudem sei sie in der Reflexion ihrer ethnozentrischen Färbung sowie den damit korrespondierenden Machtverhältnissen bereits über diese Färbung hinaus und auf dem Weg zu einer objektiven Untersuchung der menschlichen Natur.

Bei der epistemologischen Kritik verhält es sich ungleich kniffliger, da sich in ihr ein Kernproblem der Anthropologie selbst spiegelt. Laut Hemmerich bezweifelt die Kritik die Möglichkeit, erkenntnisfördernde, nicht-triviale Aussagen über die menschliche Natur erlangen zu können. Hiermit beruhe sie auf der Annahme einer strikten Unüberwindbarkeit der Dichotomie zwischen Sein und Sollen, um der Anthropologie jeweils einen Fehlschluss von der einen auf die andere Seite vorzuwerfen. Um den naturalistischen bzw. rationalistischen Fehlschluss zu vermeiden, müsse eine kritische Anthropologie daher die Dichotomie aufheben, ohne den einen Pol bloß auf den anderen zu reduzieren.

Was Hemmerich vorschlägt, klingt zwar schlüssig, ist jedoch nicht leicht umzusetzen. Schließlich liegt dem Menschen seine Natur gedoppelt vor: Einmal als objektive Fremdbestimmung und einmal als darauf bezogene, subjektive Selbstbestimmung, das heißt als Ausdeutung und Verwirklichung dieser Objektivität. Die Ausdeutung vollzieht sich wiederum nicht im Nirgendwo, sondern stets innerhalb der konkreten Verfasstheit einer Gesellschaft. Eine unreflektierte Reduktion des nicht-natürlichen Sollens dieser Verfasstheit auf das vermeintlich natürliche Sein des Menschen führt geradewegs in die „Dogmatik mit politischen Konsequenzen“ vor der Habermas so eindringlich warnt. Die nicht-reduktionistische Aufhebung der Dichotomie von Sein und Sollen bildet somit eine notwendige Bedingung der kritischen Anthropologie.

Fest und Flüssig

An einer solchen Aufhebung arbeitet sich konsequenterweise auch Christoph Henning (Erfurt) ab – und problematisiert dabei die umgekehrte Variante der Reduktion in Gestalt einer Leugnung fixer natürlicher Bestimmungen zugunsten flexibler, historisch und kulturell relativer Selbstbestimmungen. In Reaktion auf die konservativ anmutende Feststellung einer objektiven Natur des Menschen sei die Tendenz zu einer subjektiven Verflüssigung derselben zu beobachten: Du bist, was du aus dir machst. Der Marketingcharakter dieser Aussage zeigt schon die grundsätzliche Vereinbarkeit der Verflüssigungstendenz mit dem an, was Nancy Fraser progressiven Neoliberalismus nenne – womit sie die unheilvolle, teils unbewusste Allianz zwischen Neuen Sozialen Bewegungen und dem unternehmerischen Zeitgeist eines Silicon Valley beschreibt. Hier kippe die progressive Verflüssigung wieder in die konservative Verfestigung zurück. Dabei halte diese zwanghafte Gegenüberstellung einer genaueren Prüfung nicht stand. Selbst Hobbes changiere zwischen beiden Polen, wenn er den Menschen im Naturzustand zwar als Wolf, unter bestimmten institutionellen Bedingungen – wenn schon nicht als Engel – so zumindest als Menschen begreift. Die Möglichkeit der institutionellen Umprägung stelle das unveränderliche Feste der Natur infrage.

Objektive Verfestigung und subjektive Verflüssigung sollten daher nicht als Münzen radikal unterschiedlicher Prägung, sondern als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden. Das zeige unter anderem Marx, wenn er von Anlagen der menschlichen Natur schreibt, die in Abhängigkeit zur jeweiligen historischen und kulturellen Position verschiedenartig modifiziert werden. Solcherlei Anlagen könnten einen Maßstab für die kritische Bewertung der Angemessenheit verschiedener politischer Ordnungsmodelle darstellen. Wenn der Mensch von Natur aus zur Maximierung seiner Entfaltungsmöglichkeiten drängt, letztere aber durch die Vermögensungleichheit in einer kapitalistischen Marktwirtschaft neoliberaler Spielart strukturell eingeschränkt werden, sind wohl Korrekturen angebracht.

Am Ende des Vortrags bleibt jedoch unklar, wie genau sich der epistemische Zugriff auf diese natürlichen Ordnungsbemessungskriterien gestaltet. Denn aus welcher epistemischen Position lässt sich zwischen notwendigen Anlagen auf der einen und kontingenten Modifikationen auf der anderen Seite klar unterscheiden? Da die Anlage immer schon in historisch modifizierter Form in Erscheinung tritt, scheint es schwierig, diese Modifikation von der eigenen, bereist historisch modifizierten Warte aus abzustreifen, um auf die Anlage in ihrer Reinform zu stoßen. Die Trennung zwischen Anlagen und Modifikationen droht sich als eine bloße Variation der nur schwerlich überwindbaren Trennung zwischen feststehendem Sein und formbarem Sollen zu entpuppen.

Erste und zweite Natur

Eine weitere Variante dieser Trennung liefert Bernd Ladwig (Berlin) mit seiner Konzeption von Menschenwürde. Dieser liege ein doppelseitiges Menschenbild zugrunde: Der Mensch sei einerseits von bestimmten Empfindungen und Bestrebungen affiziert (erste Natur) und könne andererseits diese Affektionen mit Gründen reflektieren (zweite Natur). Ausgehend davon bilde Würde ein Recht „auf realistische Betrachtung und Behandlung unter dem leitenden Gesichtspunkt der Fähigkeiten zur Selbstkontrolle und Selbsttranszendenz“. Selbstkontrolle bedeute die Fähigkeit, sich in der Bezugnahme auf die eigenen Empfindungen und Bestrebungen von guten Gründen leiten zu lassen, während Selbsttranszendenz die Möglichkeit zur Selbstkorrektur vor dem Hintergrund überzeugender Gegengründe meine. Das Realistische dieser Würdekonzeption liege unter anderem in der Anerkennung der grundsätzlichen Endlichkeit des Menschen: seine erste Natur oktroyiere ihm bestimmte Begrenzungen auf, wie etwa leidensfähig oder bindungsbedürftig zu sein, die seine zweite Natur nicht vollends zu entgrenzen vermag.

In Ladwigs Trennung zwischen unvernünftiger erster und vernünftiger zweiter Natur scheint sich der Konflikt zwischen Sein und Sollen zuzuspitzen. Dabei kann die Überwindung dieses Konflikts als das Ziel nicht nur der kritischen Anthropologie im Allgemeinen, sondern einer Konzeption von Würde im Besonderen betrachtet werden. Schließlich vereint die Menschenwürde sowohl eine deskriptive als auch eine normative Dimension auf sich. Will man alle Menschen qua ihres Menschseins im Würdebegriff inkludieren und gleichzeitig einen normativen Gehalt daraus generieren, sollte eine unumgehbare Brücke zwischen erster und zweiter Natur gebaut werden. Ansonsten droht der Ausschluss aller vermeintlich Unvernünftigen. Ob Ladwig eine solche Überbrückung gelingt, bleibt in Anbetracht der Zweiteilung seines Menschenbildes fraglich.

Fraglich bleibt auch, wie ein solches anthropologisches Brückenbauen überhaupt möglich ist. Zwar versucht die politiktheoretische Anthropologie normative Aussagen über die politische Ordnung aus der Deskription der menschlichen Natur abzuleiten und so die Sein/Sollen-Trennung aufzuheben. Doch indem sie sich im Erkenntnisprozess mit vernünftigen Gründen und aus freien Stücken auf ihren Gegenstand (die Menschennatur) als ein ihr Äußerliches bezieht – das heißt als von dieser subjektiven Bezugnahme unabhängiges Objekt – scheint sie die Trennung stetig wieder zu installieren. Versucht sie diese im Anschluss zu überwinden, drohen die genannten Reduktionismen.

Die Überwindung der Dichotomie?

Eine letztgültige Antwort auf dieses Problem ist auch am Ende des Workshops nicht gefunden. Eines ist dafür umso deutlicher geworden: Die politiktheoretische Anthropologie kann ihr gesellschaftskritisches Potenzial nur dann erfüllen, wenn sie die Kritik an ihr selbst reflektiert, Reduktionismen möglichst scheut und so der Gefahr der Dogmatik entgeht. Eine solche undogmatische Anthropologie ist in Bezug auf die derzeitigen Krisen in ihrer natürlichen wie auch nicht-natürlichen Doppelform durchaus von Nutzen. Schließlich bemisst sie die bestehende Ordnung anhand dessen, was für den Menschen natürlicherweise förderlich ist – eine natürliche Grundlage, die zurzeit gefährdet ist. Diskursen rund um Postwachstum kann die Anthropologie beispielsweise wichtige Impulse liefern. Zugleich kann sie das, was für den Menschen natürlicherweise förderlich ist, in Rekurs auf eine alternative Ordnung reflektieren, die dieser Natürlichkeit gerecht wird. Eines der Kernprobleme der Anthropologie – die Überwindung der Dichotomie von menschenmachendem Sein und menschengemachtem Sollen – bildet somit ihren stärksten Trumpf, wie ihn erneut Habermas formuliert: „[I]ndem [ihre Aussagen] zeigen, was ist, zeigen sie unvermeidlich auch etwas von dem, was sein kann“ – oder besser, was sein sollte.

David Winterhagen studiert Philosophie, Politologie und Soziologie an der Universität Bonn. Er beschäftigt sich insbesondere mit politiktheoretischen Freiheitskonzeptionen sowie mit Ideologie- und Filmkritik.

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