Zum Verhältnis von Politischer Theorie und Migration. Ein Tagungsbericht zur ersten Dresdener DVPW Theoriesektions-Tagung 2021

Ob bzw. inwiefern gegenwärtige Migrationsbewegungen Konzepte der politischen Theorie in Frage stellen, welche Blindstellen in der politischen Theorie in Hinblick auf Migration, Zugehörigkeit und Rassismus bestehen, aber auch wie politische Theorie und Migrationsforschung einander befruchten können – diese Fragen standen am 09. und 10. März zur Debatte. Virtuell wurde damit die Theoriesektionstagung nachgeholt, die ursprünglich im Frühling 2020 in Dresden stattfinden sollte. Organisiert und geleitet von Hans Vorländer, Andreas Niederberger und Oliviero Angeli wurde in acht Panels das Verhältnis von politischer Theorie und Migrationsforschung diskutiert

Kartierung des Feldes

Entgegen früherer Theoriedebatten zu Migration, die sich vor allem um das Verhältnis zwischen dem Recht auf Ausschluss und dem Recht auf Einwanderung drehen, geht es bei dieser Sektionstagung – wie Andreas Niederberger in seinem Eröffnungsvortrag stark macht – schwerpunktmäßig um andere Spannungsfelder: Zwar haben die klassischen Debatten und Positionen zwischen Carens und Miller im abschließenden Panel und den Vorträgen von Therese Herrmann und Jonathan Holst auch ihren Platz, doch die Schwerpunkte bilden andere Debatten.
So werden etwa die Ereignisse an den europäischen Außengrenzen, die Reaktionen in den Aufnahmegesellschaften und die rechtlichen Kämpfe und Neuaushandlungen von Bürgerschaft durch Neuankömmlinge in den Blick genommen. Niederberger sieht dabei zwei Richtungen, in denen die politische Theorie Migration als Thema für politische Gemeinschaften verhandelt: Erstens, im Rahmen einer kritischen Migrationsforschung, mit dem Blick auf Migration als Autonomie. Hier werden neue politische Subjekte und Mobilität als neue Normalität verhandelt, aus der sich eine Neuanordnung des Politischen, politischer Systeme und der politischen Subjekte ergibt. Zweitens fokussiere die politische Theorie auf Geflüchtete und rechtliche Systeme wie das Dublinsystem, in denen Schutz- und Verteilungsfragen verhandelt werden. Niederberger bemängelt an der kritischen Migrationsforschung, dass sie zu ontologisch argumentiere, wolle sie politische (Neu-)Ordnung grundsätzlich anhand von Migrationsbewegungen und der Migrantin als Subjekt erklären. Die (rechtliche) Diskussion um Geflüchtete sei wiederum zu tagespolitisch und kaum theoretisch untermauert. Eine Theoretisierung des Forschungsfeldes vonseiten der politischen Theorie fordert auch Hannes Schamann in seinem Beitrag zu begrifflicher Arbeit im Feld der Migrationsforschung. Migration beschreibt er als multidimensional und multikausal; ihre Reduktion auf und Klassifizierung in Kategorien wie Flucht oder Arbeitsmigration verliere die Realität von mixed migrations oft aus dem Blick. Migrationsforscher*innen seien mit Fragen der Bezeichnungen und Gruppenkonstruktionen konfrontiert und sollten normative Kämpfe um Begriffe daher viel stärker in empirische Forschung einbeziehen.

Mobilität, Immobilität und Zugehörigkeit(en)

Oliviero Angeli sowie Coretta Ehrenfeld widmen sich in ihren Vorträgen dem Verhältnis von Mobilität und Immobilität und werfen die konzeptionelle Frage auf, ob und wie die Weltgesellschaft als Migrationsgesellschaft zu fassen sei. Während Angeli sich auf die Sesshaften konzentriert, entwirft Ehrenfeld die Idee einer Sozietät in Bewegung. Dabei lehnt sie sich an den Nomadologie-Begriff von Deleuze und Guattari an und leuchtet das Verhältnis zwischen Sesshaftigkeit, Immobilität, Mobilität und Normalität aus. Sie schließt mit der Forderung Dichotomien zwischen den Mobilen, Immobilen und trans-Identitäten aufzubrechen und ruft dazu auf, Mischformen als Normalität theoretisch mitzudenken. Angeli weist dagegen darauf hin, dass die Migrationsforschung rund 97% der Weltbevölkerung, die immobil sind, systematisch übersieht. Es tue sich, so Angeli, eine Lücke in der normativen Theorie auf, wenn Verstöße gegen die Bewegungsfreiheit nicht mit Verstößen gegen das Recht zu Bleiben zusammengedacht würden. Unterbeleuchtet bleibe sodann auch die Erforschung der sogenannten stayers – ihrer Handlungsmotivationen und ihrer politischen Ausrichtung.
In anderen Vorträgen werden diese Gedanken auch durch praktische Überlegungen ergänzt, auf welcher Ebene migrationsbedingte Vielfalt in Aushandlungen über Zugehörigkeit umgesetzt werden soll. Anna Meine bringt Mehrebenenansätze in Bezug auf Bürgerschaften ein, während Hannes Schamann die Bedeutung von städtischer Politik unterhalb der staatlichen Ebene im europäischen Migrationsregime thematisiert. Er sieht eine mögliche Stärkung des Nexus zwischen Migrationsforschung und politischer Theorie in den Konzepten des urban citizenship, die das Theoriefeld um Zugehörigkeits- und Bürgerschaftsdiskussionen beleben könnten. Meines Beitrag nimmt das Konzept der Bürgerschaft als ein zentrales Bezugssystem des Denkens über politische Ordnung (in Europa) in den Fokus. Sie lotet Konzepte der Mehrfachbürgerschaften aus und thematisiert die Existenz von nicht-ansässigen Bürger*innen und ansässigen nicht-Bürger*innen. Sie zeigt Wege auf, wie überlappende Bürgerschaften zu neuen Modellen der Entscheidungsfindung führen können, etwa in Form von globalen Migrationsregimen, transnationalen Öffentlichkeiten oder auch der Beteiligung von nicht-Bürgerinnen an innerstaatlichen Entscheidungen.

Recht und Migration

Die Frage der rechtlichen Rahmung von Migrationspolitik wird auch von Jan Christoph Suntrup aufgeworfen. Er agiert mit seiner Analyse der „Rechtsbruchthese“ von 2015 als Stichwortgeber für eine Reihe von Panelist*innen und Diskussionen. Laut Suntrup handle es sich bei den viel diskutierten Regierungsentscheidungen, etwa Dublin III temporär auszusetzen, nicht um einen Bruch geltenden Rechts der deutschen Regierung, wie die Rechtsbruchthese suggeriert, sondern um legitime Entscheidung in einer Ausnahmesituation. Die Rechtsbruchthese, wie auch die sogenannte „Herrschaft des Unrechts“ funktioniere unterdessen als Anklage durch rechte Akteur*innen, die bis weit in die bürgerliche Kreise hinein reproduziert wurde. Das wurde sodann auch im abendlichen Gespräch mit Thomas de Maiziere deutlich, der selbst auf dieses Narrativ rekurrierte.
Die Aushöhlung geltenden Rechts mit der Begründung eines vermeintlichen Ausnahmezustandes ist das zentrale Thema in Anna Lübbes Vortrag. Sie macht deutlich, dass seit 2015 die Relevanz von Recht mit Blick auf die europäischen Grenzen und Asylanträge geschwächt wurde. Dabei entziehen sich europäische Institutionen mit einer Praxis des Unterlassens statt aktiven rechtswidrigen Handels der menschenrechtlichen Angreifbarkeit. Gleichzeitig sei eine klare Aussetzung geltenden Rechts zu beobachten: Temporäre völlige Grenzschließungen, illegale pushbacks, unzumutbare Aufnahmebedingung (vor allem in den Hotspots), Boote, die am Anlegen gehindert werden – all das ist zur herrschenden Praxis in Europa geworden.

Kritische Migrationsforschung

Die kritische Beforschung von Migration und Grenzen findet sich auch in den Vorträgen von Jeanette Ehrmann und Mareike Gebhardt wieder, allerdings mit einem Fokus auf Begriffsarbeit. Ehrmann untersucht das von ihr als Schwarz bezeichnete Mittelmeer als Ort des Todes und der Rassifizierung von migrantischen Körpern. Grenzpolitik würde damit zur Nekropolitik. Sie fordert von der politischen Theorie eine Debatte über die rassistischen Wurzeln und das Fortwirken rassifizierender Wissensbestände und Migrationspolitiken.
Gebhardt interessiert sich aus radikaldemokratischer Perspektive für die ambivalenten Prozesse der Entsolidarisierung zwischen den Mitgliedstaaten der EU und gleichzeitigen Solidarisierungen zwischen Akteur*innen unterhalb der staatlichen Ebene. Laut Gebhardt sind in die Systeme der sogenannten Lastenverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten strukturelle Asymmetrien eingeschrieben. Alternativen böten Prozesse der Solidarisierung unter Migrant*innen und migrantisierten Gruppen in der Art ihrer Vereinigung und der Raumnahme aus einer peripheren Position heraus.

Reaktionen auf Migration in den Aufnahmegesellschaften

Einige der Vorträge bewegen sich von den Grenzen hinein in die Aufnahmegesellschaft. Außer Ehrmann und Lübbe, die sich bordering Strategien bzw. Rechtsprechung ansehen, fokussieren die weiteren Panelist*innen auf die Prozesse in den Aufnahmegesellschaften. Floris Biskamp sowie Katja Freistein und Christine Unrau widmen sich der Betrachtung rechter Abwehrreaktionen gegen Einwanderungsphänomene. Biskamp zeichnet das Feld zwischen Jurisgenerativität und Jurispathos nach: Während jurisgenerative Prozesse Normen neu verhandeln und dabei zu mehr Inklusivität und Liberalisierung führen, werden in jurispathischen Prozessen neu angemeldete Ansprüche ignoriert und alte Normen fixiert. Jurispathos beschreibt so die populistische Antwort, etwa der AfD, auf die Migrationsbewegungen um 2015/16. Biskamp rekurriert auf Benhabibs Konzept der demokratischen Iteration als mögliche Lösung, bei der Gründe für den Ausschluss von Personen geliefert werden und im iterativen Prozess beantwortet werden müssten.
Freistein und Unrau analysieren Bilder rechter Kampagnen gegen Einwanderung. Sie machen deutlich, dass sich nationalistische Bilder gegen Einwanderung auf einige wiederkehrende Topoi stützen, etwa auf die Stadt, das Land und insbesondere die Hausmetapher: Europa bzw. das nationale Territorium müsse, wie das Eigenheim, gegen Eindringlinge verteidigt werden. In Freisteins und Unraus Analyse kommt zugleich die Dimension des Geschlechts zur Sprache. Damit bilden sie bei dieser Tagung die Ausnahme: Außer in Verweisen und einzelnen Diskussionsbeiträgen fehlen Perspektiven auf genderspezifische Migrationsbewegungen etwa in den Bereich der Care-Arbeit in privaten Haushalten.

Laura Gorriahn und Lea Ypi untersuchen derweil, wie die politische Linke in den Aufnahmegesellschaften auf Migrationsphänomene reagieren. Gorriahn untersucht die Gleichzeitigkeit von Willkommenskultur als öffentlich wirksame Antwort auf den langen Sommer der Migration 2015 und die folgenden Verschärfungen im Asylrecht. Das Narrativ der humanitären Hilfe, das von vielen Akteur*innen im Kontext der Willkommenskultur bemüht wurde, beansprucht für sich eine explizit unpolitische Ausrichtung mit dem Ziel defizitäres Leben zu beheben, nicht aber einen gemeinsamen politischen Kampf mit den Geflüchteten. Damit forcieren diese eine Unterscheidung von Migrant*innen und Migrationsursachen, die einen Diskurs um deservingness und selectiveness in der Migrationspolitik reproduzieren.
Ypi wiederum nimmt in ihrer Keynote eine Perspektive ein, die ansonsten auf der Tagung nicht vertreten ist: In einer materialistischen Analyse von Gruppenorganisation diskutiert sie das Dilemma der Progressiven, die Migration zwar grundsätzlich positiv gegenüber eingestellt seien, aber auch einen starken Wohlfahrtsstaat und den Schutz der Marginalisierten im Aufnahmeland befürworten. Um das Dilemma aufzulösen, solle das Verhältnis von Solidarität, Migration und Klasse neu – und zwar transnational – gedacht werden. Marginalisierte müssten sich, so Ypi, international als gemeinsame Klasse organisieren und aus dieser Position heraus die Gemeinsamkeiten von Ausbeutung und Ungleichheitsverhältnissen angreifen.

In der Breite der Beiträge fehlte bei der Tagung eben diese materialistische Betrachtung von  Migration als zentraler Bestandteil einer globalen Arbeitsteilung. Dadurch kommen auch die theoretischen Überlegungen zu zirkulärer und temporärer Migration als Regelfall zu kurz. Was der Blick auf die Bevölkerung als eine sich Bewegende und Mehrfachzugehörige für die Begriffe Nation, Freiheit, Identitätsbildung und staatlicher Grenzen bedeutet, wird kaum angerissen. Eben diese zentralen Begriffe in der politischen Theorie, gewissermaßen Grundpfeiler politischer Ordnung, werden durch die Anwesenheit von Migrant*innen als politische Subjekte hinterfragt. Die Tagung konnte mit einem regionalen Fokus auf gegenwärtige Migrationsbewegungen nach Europa und Prozesse in den hiesigen Aufnahmegesellschaften einige Gedanken zu diesen Spannungsfeldern vorantreiben, bleibt bei anderen gedanklichen Baustellen aber weiterhin vage und stellenweise auch zu stark in einer fachlichen Enge verhaftet, die durch Arbeiten aus den race und postcolonial studies, feministischer Theorie und dem historischen Materialismus befruchtet werden könnten.

Francesca Barp ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration und Grenzen, urbane Politik, migrantische Selbstorganisation und Bildung in (post)migrantischen Gesellschaften.

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