Was die Politische Theorie von der Politischen Bildung lernen kann

Der jüngste Schwerpunkt des Theorieblogs war nicht nur deshalb erfreulich, weil er zur Veröffentlichung von vier sehr anregenden Beiträgen führte, sondern auch, weil er in der Ankündigung die Frage stellte, was Politische Theorie und Politische Bildung voneinander lernen können. Diese Frage und die in den Beiträgen gegebenen Antworten verweisen auf ein Problem: Die gegenseitige Lernfähigkeit wird aktuell sehr einseitig gefasst und die „Brücke zwischen Politischer Theorie und Politischer Bildung“ (Gloe und Oeftering 2017, S. 10) bzw. Politischer Theorie und Pädagogik wird vor allem in eine Richtung begangen (Sörensen 2020, S. 17): Pädagog*innen untersuchen Werke der Politischen Theorie und Philosophie auf ihre bildungstheoretischen und -praktischen Implikationen und die Politikdidaktik blickt für eine „fundierte Begründung der Ziele politischer Bildung“ (Oberle 2017, S. 24; vgl. auch Pohl 2019) auf die Politische Theorie. Für die philosophischen und theoretischen Implikationen aus Pädagogik und Schule interessieren sich politische Theoretiker*innen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, hingegen eher wenig (solche Ausnahmen sind international z.B. Amy Gutmann oder Benjamin Barber, in Deutschland z.B. Manon Westphal, Paul Sörensen und zuletzt natürlich auch der Beitrag von Katharina Liesenberg – die einzige Schwerpunktbeitragende, in deren Stellenbeschreibung nicht „Bildung“, „Didaktik“ oder „Erziehungswissenschaft“ vorkommt).

Dabei könnte die Politische Theorie durchaus auch selbst von einer Auseinandersetzung mit Politikdidaktik und Pädagogik profitieren, wenn sie diese nicht nur als Verwerter*in von politiktheoretischen Erkenntnissen betrachtet. Einige Aspekte, die eine solche Auseinandersetzung in den Blick nehmen sollte, möchte ich im Folgenden skizzieren. Ausgehen möchte ich dabei von der Feststellung, dass die für die pädagogische Anthropologie konstitutive Annahme der Lernfähigkeit des Menschen auch für die Politische Theorie grundlegend ist – auch wenn sie hier in der Regel eher implizit als explizit eine Rolle spielt, wenn etwa erwartet wird, dass Menschen etwas (z.B. den Wert der Repräsentation, die Notwendigkeit eines starken Souveräns etc.) lernen sollten. Selbst Hobbes’ pessimistische Anthropologie kann letztlich nicht über seine in Hinblick auf die Bildsamkeit und Bildungsfähigkeit des Menschen optimistische Perspektive hinwegtäuschen.

Politiktheoretische Lehre als politische Bildung

Theoretiker*innen lassen Klausuren schreiben, korrigieren Hausarbeiten und bewerten Referate und drücken damit ganz praktisch den Glauben an die Lernfähigkeit der Menschen aus. Sie sind in dieser Hinsicht auch politische Bildner*innen. Die Politikdidaktik ist also schon deshalb eine Bezugsdisziplin für die Politische Theorie, weil sie beispielsweise zur Beantwortung von Fragen danach beitragen kann, inwiefern auch in der Hochschullehre Werte vermittelt werden und vermittelt werden sollen, wie die Politische Theorie mit Neutralitätserwartungen von Seiten der Studierenden und politischen Kräften umgehen soll, oder auch schlichtweg, wie die Hochschullehre am besten zur Bildung der Studierenden beitragen kann. Gerade für die Praxis an der Universität, die als Organisation sowie in der Lehre selbst von Autoritätsbeziehungen und Macht-Asymmetrien gekennzeichnet ist, und wohl den in den gelehrten Theorien vertretenen Demokratieidealen nur selten nahe kommt, erscheint mir zudem eine Selbstbefragung in Hinblick auf die eigene (hochschul-)politische Praxis und demokratische Gestaltung von Universität und Lehre unter Einbeziehung der Diskussion um Demokratiepädagogik und Demokratisierung an Schulen gewinnbringend (vgl. z.B. Loick 2012).

Eine besondere Bedeutung kommt hier Lehramtsstudierenden zu. Diese sind nicht nur in Bezug auf den Erhalt des Fachs strategisch wichtig, weil sie an vielen Standorten hohe Studierendenzahlen sichern, sondern auch, weil sie wichtige Multiplikator*innen politischer Theorien sind. Dass politikwissenschaftliche Lehramtsstudierende schon alleine aufgrund der Tatsache, dass sie häufig mindestens zwei Fächer studieren, über Expertise verfügen, die der akademischen Disziplin Politische Theorie möglicherweise fehlt, sollte schließlich dazu führen, sie nicht nur als Verbreiter*innen politischer Theorien sondern auch als Dialogpartner*innen stärker einzubinden (vgl. auch Weiß und Welniak 2022). Die Politische Theorie kann und sollte sich diesbezüglich auch als Bezugsdisziplin für Lehramtsstudierende aller Fächer positionieren, weil sie einen Beitrag zur Reflexion der politischen Bedeutung von Schule und Lehramt in der Demokratie leisten kann. Dass die Kultusministerkonferenz die Auseinandersetzung mit demokratischen Werten und Normen explizit fordert, kann dieses Plädoyer für eine stärkere institutionelle Einbindung der Politischen Theorie und die damit notwendige bessere Ausstattung unterstützen.

Politische Bildung als Gegenstand Politischer Theorie

Die Expertise von Lehramtsstudierenden kann darüber hinaus auch in Hinblick auf Bildungspläne und Bildungspolitik hilfreich sein. Die Schule als diejenige staatliche Institution, mit der fast alle Bürger*innen früh in ihrem Leben intensiven Kontakt haben, kann so zum Gegenstand politiktheoretischen Nachdenkens werden. Einerseits kann das bedeuten, sich „Politik im Klassenzimmer“ (Demirović 2021) anzuschauen und so politiktheoretische Konzepte an der Auseinandersetzung auf der Mikro-Ebene zu schärfen. Andererseits erscheint mir auch die Analyse von Schulbüchern, Lehrplänen und ähnlichen bildungspolitischen Dokumenten mit einem politiktheoretischen Methodenarsenal gewinnbringend. Aus diesen Dokumenten, die selbst das Produkt umfangreicher politischer Auseinandersetzungen und Prozesse sind, lässt sich schließlich etwas über das Selbstverständnis zeitgenössischer Demokratien erfahren. Der „in Dokumente geronnen[e] Common sense“ (Hopmann 1998, S. 179) kann somit zu wichtigem Material für eine sozialwissenschaftlich orientierte Politische Theorie werden, die sich für die Gedanken und Einstellungen der Menschen innerhalb ihrer jeweiligen politischen Gemeinschaft interessiert (Miller 2012).

Politisch Theoretisieren als politische Bildung

Die Annahme lernfähiger oder sogar lernwilliger Menschen ist aber nicht nur für die politiktheoretische Lehrpraxis bedeutsam, sondern auch für das Theoretisieren an sich. Damit meine ich nicht, dass jede Theorie auf Seiten der Leser*innen in der Regel ein gewisses Bildungsniveau voraussetzt, da sie prinzipiell verstanden werden will, sondern vor allem, dass sich insbesondere normative Theorie selbst als ein Beitrag zu Bildungsprozessen der Rezipient*innen versteht. Wenn Theoretiker*innen davon ausgehen, dass bestimmte Maßnahmen erstrebenswert sind, kommen sie schließlich nicht umhin, einen Mechanismus für deren Implementierung vorzuschlagen. Michael Walzer (1981) identifiziert zwei Modelle für einen solchen Theorie-Praxis-Transfer. Einerseits bestünde die Möglichkeit, Eliten zur Umsetzung der politiktheoretisch gewonnenen Erkenntnisse zu bewegen oder sich als Philosophenkönig*in schlichtweg selbst zur Elite zu machen. Zwar verspricht das durchaus schnelle Erfolge, es erscheint aber in Hinblick auf die Eliten voraussetzungsvoll und demokratisch nicht legitimierbar. Es bleibt also für Theoretiker*innen andererseits nur noch der Ausweg, als „engaged philosopher, that is, a sophist, critic, publicist, or intellectual” in den öffentlichen Meinungsstreit zu intervenieren, auch wenn das mitunter unbefriedigend sein kann, weil er dort auch unterliegen kann und möglicherweise auf philosophisch erstrebenswerte aber diskursiv nicht anschlussfähige Universalisierungen verzichten muss.

Walzers Verweis auf die Sophisten legt aber noch einen weiteren Modus der Theorievermittlung nahe: Theorie als Beitrag zur Bildung des Menschen und die Veränderung der Gesellschaft durch die Veränderung der Menschen. In einer solchen Perspektive erscheint dann das Verhältnis zwischen (normativen) Theoretiker*innen und Bürger*innen als pädagogisches Verhältnis, das sich sowohl unmittelbar (die Theorie selbst stellt einen Beitrag zur Bildung dar) als auch mittelbar (die Menschen sollen im Sinne der Theorie von pädagogischen Professionellen gebildet werden) manifestiert. Eine solche Beschreibung ruft möglicherweise Widerstände hervor, weil sie doch Assoziationen zum Philosophenkönigtum und zum Paternalismus hervorruft. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, sich diesem Unbehagen gerade unter Bezug auf die Diskussion in der Pädagogik (Drerup 2020) zu stellen, weil Paternalismus – wie der Blick in die Ideengeschichte zeigt – zumindest potentiell eine Gefahr für jegliche politische Theorie darstellt.

Die Abgrenzung des Theoretisierens als Bildung ist aber auch zur anderen Seite, zu Vorstellungen des Theoretisierens als Überzeugungsarbeit, interessant. Ein solches von Walzer idealisiertes Bild des Überzeugens der Mitbürger*innen erscheint schließlich schon deshalb attraktiv, weil es ungleich geringere Legitimierungsanforderungen als etwa die pädagogische Vermittlung von Werten stellt. Es sei hier allerdings darauf verweisen, dass auch innerhalb der Pädagogik und Politikdidaktik keineswegs die doktrinäre Vermittlung von Werten und Haltungen den Bildungsbegriff ausmachen und dass sich Pädagogik und Politikdidaktik heute keineswegs ausschließlich mit Kindern beschäftigen. Es erscheint mir deshalb sinnvoll, nicht auf die strikte Trennung zwischen Bildung einerseits und Überzeugen andererseits zu bestehen, sondern gerade das pädagogische Paradox der Erziehung zur Mündigkeit auch in metatheoretische Diskussionen über das Verhältnis von Theorie und Praxis oder Theoretiker*innen und Bürger*innen einzubeziehen und dadurch auch neue Zugänge zu Fragen nach Neutralität oder Indoktrination zu erhalten.

Nehmen wir eine pädagogische Meta-Perspektive auf das politische Theoretisieren ein, bietet uns das also mindestens die Möglichkeit, produktive Fragen zu stellen und die eigene Disziplin besser zu verstehen. So können wir, wie Paul Sörensen das überzeugend am Beispiel radikaler Demokratietheorien gezeigt hat, etwa danach fragen, welche Subjekte bestimmte politische Theorien voraussetzen oder welche Subjekte sie als erstrebenswert sehen bzw., politikdidaktisch gesprochen, welche Bürger*innenleitbilder sie vertreten. Einerseits kann die Pädagogik schließlich die politische Theorie auch vor einem zu großen Optimismus bewahren, der gesellschaftliche Probleme ausschließlich durch „mehr“ oder „bessere/sozial-ökologische/kommunistische/radikaldemokratische/deliberative/etc.“ Bildung lösen will. Andererseits kann sie z.B. mit dem Verweis auf die vielfältigen theoretischen und praktischen Bemühungen und Auseinandersetzungen um eine demokratische Bildung daran erinnern, dass sie der Politischen Theorie nicht nur Probleme und Fragen, sondern auch möglicherweise Lösungsansätze zu bieten hat. Die angesprochene Skepsis gegenüber einer vereinfachenden Inanspruchnahme der Bildung für politische Zwecke ist ja auch in der Pädagogik nicht gleichzusetzen mit einem Pessimismus gegenüber gesellschaftlichem Wandel schlechthin, sondern verweist auf die Notwendigkeit, die zu Bildenden als Subjekte und Bildung als gemeinsamen und offenen Prozess ernst zu nehmen. Für Politische Theoretiker*innen, die sich zu denen, über die und für die sie schreiben, so in Beziehung setzen und die selbst bereit bleiben zu lernen, sind dann auch Lehrer*innen nicht mehr nur Vermittler*innen von Theorien, sondern auch Vorbild.

 

Matthias Heil ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Heidelberg, wo er zum Thema „Schule und Revolution“ promoviert. Einige hier vorgestellte Gedanken basieren auf seinem Beitrag zum Sammelband „Gesellschaftliche Transformation und politische Bildung“, der 2023 hrsg. von Felix Prehm, Oliver Emde und Charlotte Keuler im Wochenschau-Verlag erscheint.

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