Die Vermeidung sozialer Kontakte ist das wirksamste Mittel, um die Ausbreitung der Corona-Epidemie einzudämmen. Das Beispiel China zeigt dies deutlich. Deutsche Politikerinnen und Politiker haben deshalb recht, wenn sie – wie letzten Donnerstag Angela Merkel – in klaren Worten fordern, „dass, wo immer es möglich ist, auf Sozialkontakte verzichtet werden soll“. Aber was bedeutet es eigentlich für eine Gesellschaft, wenn zwischenmenschliche Kontakte auf ein Minimum begrenzt werden? Was sind die Konsequenzen, wenn die Räume, in denen sich Menschen physisch begegnen können, geschlossen werden?
Soziale Kontakte haben offensichtlich große Bedeutung für das politische Leben. Ohne sie fehlt der Gesellschaft ein wichtiges Medium des Austauschs, durch das unterschiedliche Ansichten und Meinungen in Kontakt kommen. Schon die altgriechischen Philosophen gingen davon aus, dass der Mensch ein Herdenwesen, ein „zoon politikon“, ist. Ohne den Kontakt zu anderen war man für sie als Mensch gar kein Mensch mehr, sondern ein Tier – oder ein Gott.
In der Politikwissenschaft hat vor allem eine Denkerin die Bedeutung sozialer Kontakte ins Zentrum ihrer Theorie gestellt: Hannah Arendt. Für Arendt war der Verlust von öffentlichen Räumen des Zusammenseins ein wesentlicher Teil der Krise des 20. Jahrhunderts, die in den Totalitarismus mündete. Isolation und Verlassenheit machten die Menschen in einer Massengesellschaft instabil und verführbar. Hitler und andere totalitäre Herrscher nutzten geschickt diese Verlassenheit, um das Gegenbild einer Gesellschaft attraktiv zu machen, in dem der Mensch vollständig in der „Bewegung“ aufgehen würde. Arendt hat klar erkannt, dass das totalitäre Gesellschaftsbild auf einem falschen Versprechen beruht. Die sozialen Kontakte, die in totalitären Bewegungen die Menschen aneinanderbinden, basieren letztlich auf Terror und Angst. Soziale Kontakte finden im Totalitarismus nur unter der Prämisse des Misstrauens statt. Niemand kann mit Sicherheit wissen, ob der andere nicht in Wirklichkeit ein Spion oder eine Verräterin ist. Überall werden krankhafte Geschwüre und Feinde vermutet.
Aus der Perspektive Arendts ist die gegenwärtig notwendige Kontaktverzicht dennoch nicht nur Risiko, sondern auch Chance. Arendt ging nicht davon aus, dass wir als Menschen ständig mit anderen Menschen zusammen sein sollten. Als Zustand unterschied sie die isolierte Verlassenheit von einer sozial „reichen“ Einsamkeit. Die Studie „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“, die Arendt berühmt gemacht hat, endet mit einer Überlegung zu genau dieser Unterscheidung. Im Gegensatz zur Verlassenheit ist die Einsamkeit ein Zustand, den wir als Menschen dringend brauchen. Wenn wir in die Einsamkeit gehen, ziehen wir uns zwar auch aus dem Raum zwischenmenschlichen Zusammenseins zurück. Aber wir tun dies nicht aus Angst oder Notwendigkeit, sondern um uns selbst zu begegnen. Einsamkeit ist gewissermaßen ein Gespräch mit uns selbst.
Der Verzicht auf Sozialkontakte ist nicht an sich gefährlich oder problematisch. Zwar hat der nun gebotene Rückzug vordergründig viel mit Angst und Notwendigkeit zu tun. Schließlich geschieht er, um die Ausbreitung einer Pandemie einzudämmen. Aber im Kontaktverzicht schlummert auch das Potenzial der Befreiung. In Zeiten voller Terminkalender, langer To Do-Listen und beständigen Termindrucks ist sowieso wenig Raum für intensive soziale Begegnung. Durch den Verzicht kann so Raum für Momente der Ruhe und „reichen“ Einsamkeit – für das Zusammensein mit uns selbst – entstehen.
Für Arendt ist das größte Problem der Krise des 20. Jahrhunderts nicht eine staatlich verordnete Kontaktsperre, sondern die Beschleunigung von Arbeit und Konsum. In ihrer Analyse der Tätigkeitsformen, die in der Moderne vorherrschen („Vita activa oder Vom tätigen Leben“), kam Arendt zu dem Schluss, dass die moderne Zeit dem „animal laborans“, d.h. dem Arbeiten für den Konsum, die Priorität einräumt. Nicht das Zusammenhandeln, durch das wir uns als Individuen erfahren, sondern das „Produzieren um zu konsumieren“ ist die charakteristisch moderne Tätigkeitsform. Genau deshalb geraten zwischenmenschliche Kontakte, die nicht dem Diktat von Produktivität und Leistung entsprechen, in der modernen Massengesellschaft unter Druck.
Der nun gebotene Kontaktverzicht bietet die Chance, unsere Prioritäten zu überdenken. Arbeit und Konsum sind nötig, um den täglichen Lebensunterhalt zu sichern. Sie sollten die Lebensgrundlage aller Menschen sicherstellen. Aber sie sind kein Selbstzweck. Am Ende hängt unser Glück nicht von der Anzahl produzierter und konsumierter Güter oder Dienstleistungen ab, sondern von Momenten des bedeutungsvollen Zusammenseins mit anderen Menschen. In Zeiten des verordneten „Home Office“ sind Überstunden und ausgedehnte Shopping-Trips vielleicht einfach weniger attraktiv. So kann der Raum für eine „reiche“ Einsamkeit entstehen, die unsere von Termindruck und Produktivitätsmaximen arg gebeutelten sozialen Kontakte nicht stören, sondern im Gegenteil sogar beleben wird.
Sebastian Schindler ist Akademischer Rat auf Zeit am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München. Dort befasst er sich mit der Aufgabe von Kritik in Zeiten der post-faktischen Politik und hat kürzlich sein Buch Clausewitz zur Einführung abgeschlossen.
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