Natan Sznaiders Fluchtpunkte der Erinnerung und eine Ethik des Gedenkens

Die gegenwärtigen Erinnerungsdebatten sind oft zersplittert und unübersichtlich. Ausstellungen, Namensgebungen, Statuen – Diskussionen über Themen der Erinnerung gehen oft über Wochen und Monate durch die Medien. Durch eine multidimensionale Ethik des Gedenkens könnten diese Debatten in eine bessere Ordnung gebracht werden. Zu diesem Resümee kann man kommen nach der Vorstellung von Natan Sznaiders sehr lesenswertem Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung“ im Literaturhaus in Stuttgart am 22. Juli 2022. Es war eine bemerkenswerte Veranstaltung, moderiert von Matthias Bornuth, als Teil der Serie Schreiben in Entzauberten Zeiten, die seit Herbst 2020 läuft.

Im Gespräch erzählte Sznaider wesentliche Aspekte seiner Lebensgeschichte in einer Weise, die den Blick in und auf das Buch bereichern können. Der Inhalt des Buches, erschienen beim Hanser Verlag im Januar 2022, könnte relevanter nicht sein, mit den Debatten um das Humboldtforum und die Dokumenta. Es geht um die „Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“. Sznaider, der an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv lehrt, betrachtet die Frage anhand wesentlicher Leitfiguren und markanter Leitlinien der Debatten über die letzten Jahrzehnte, mit denen er den Hintergrund der gegenwärtigen „tektonischen Verschiebungen“ aufschlüsselt.

Im ersten Teil des Buches – „Leben in und mit der Unmöglichkeit“ – bietet Sznaider spannende Skizzen prominenter Denkerinnen und Denker der Debatte, unter anderem Karl Mannheim („Ungar, Jude, Deutscher“), Hannah Arendt („Jüdin, Deutsche, Amerikanerin“), Claude Lanzmann und Frantz Fanon („Zwei Franzosen, ein Jude, ein Schwarzer“) bis hin zu Edward Said („Christ, Araber, Amerikaner“). Die Kapitel sind gedacht als „Bilder […] einer Ausstellung, die Besucher betrachten, um sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild zu machen.“ Die Denkerinnen und Denker sollen die Besucher*innen bei diesem Gang begleiten, damit man den Gegensatz zwischen Partikularismus und Universalismus inspizieren kann. Als Beispiel für diese Gegenüberstellung kontrastiert Sznaider das „Nie wieder“ der universellen Menschenrechte mit dem „Nie wieder wir als Opfer“ als Grundgedanken mit dem der „Staat Israel […] zu einer partikularen Lösung eines partikularen Problems“ wird. Obwohl für Sznaider die Verortung der Ideen in ihrer Zeit Priorität hat, stellt er auch  Bezüge zur Gegenwart her.

Der zweite Teil des Buches – „Fluchtpunkte der Erinnerung“ – analysiert „parallele Linien der Erfahrung“ zwischen partikularen und universellen Perspektiven, mit Kapiteln zu Israel, zur Rolle von Holocaust und Völkermord in Deutschland, und dem „doppelten Bewußtsein“ – eine Position, die Sznaider Georg Simmel, W.E.B. Du Bois, Karl Mannheim, Hannah Arendt und auch Paul Gilroy zuordnet. Es ist ein Plädoyer für einen produktiven Dissens unterschiedlicher Ansätze, ergänzt durch den Gegenpunkt postkolonialer Literatur. Das Buch wurde zurecht für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 nominiert.

 

Parallelen zwischen Buch und Biographie

Die Diskussion in Stuttgart begann Bornuth, der in Oldenburg lehrt, dann mit der Frage nach der Jugendzeit des Autors in Süddeutschland. Nicht ohne Ironie schilderte Sznaider, geboren im Jahr 1954, seine Jugend in der Neckarvorstadt in Mannheim als Kind einer bildungsfernen Familie von Displaced Persons aus Polen; die Fußballjugend im SV Waldhof Mannheim als rechter Verteidiger, eine Rolle, in der er sich in anderen Zusammenhängen immer wieder finde; wie 1968 „alle vergammelt in die Schule kamen“, die Viet Cong Flagge in der Mannheimer Schule gehisst wurde und die anbrechende Zeit des „netten Universalismus, zu dem ich gerne dazugehörte“; dann das Schlüsselerlebnis der Geiselnahme bei der Münchner Olympiade 1972, die von trotzkistischen Kameraden gerechtfertigt wurde, während man in der Synagoge um das Leben der israelischen Sportler betete. So sei es zum Bruch mit seinem bisherigen linken Umfeld gekommen: „Wieso nennen die mich reaktionär, weil ich mich mit denen solidarisiere, zu denen ich gehöre?“

Die Entscheidung nach Israel zu gehen, bestärkt durch den Yom-Kippur-Krieg des Jahres 1973, sei eine bewusste Entscheidung für den Partikularismus gewesen, so Sznaider, womit sich sein Leben in den Themen des Buches spiegelt. Im Text werden diese biographischen Parallelen selten deutlich. Ein zusätzliches Kapitel wäre hier vielleicht ein Gewinn gewesen. Nach Kibbutz und Armee habe er mit der Soziologie ein Fach studiert, das in Israel typischerweise progressiv orientiert sei.

 

Agnes Heller und Hannah Arendt

Die ungarische Dissidentin Agnes Heller beschrieb Sznaider im Gespräch als die herausragende Inspiration aus der Zeit seiner Promotion an der Columbia University. In ihrem Kreis in New York – osteuropäisches Exilmilieu, meist Juden, „man trank Rotwein, rauchte, und sprach bis in die Morgenstunden“ – habe man diskutiert und gestritten, oft mit wüsten Auseinandersetzungen, insbesondere über Georg Lukács. Heller habe bei Lukács studiert, andere hätten ihn wegen seiner Berührungspunkte mit dem Stalinismus über Bord werfen wollen. „They called you an idiot. How can you talk to these people again?”, habe er Heller nach so einem Streit einmal gefragt. “We share the same world, and if you share the same world, you can talk until eternity,” so die Antwort von Heller. Diese Idee – bei allen Differenzen müsse man sich die Welt teilen – sei ein wesentlicher Impuls für das vorliegende Buch.

Heller habe einmal zu ihm gesagt: „You know why we like Hannah Arendt?“ Ihre eigene Antwort: „Because she has a theory of revolution that isn’t Marxist.” In diesem Umfeld – desillusioniert vom Marxismus und „links in einer Form, wie ich das nie gesehen hatte“ – sei er neugierig auf Arendt geworden, und habe in der Bibliothek die Strecke ihrer Werke von links nach rechts durchgelesen.

Arendt ist denn auch der rote Faden des Buches, von den ersten Seiten bis zum Schlusszitat. Mit ihr warnt Sznaider vor „einhelligen Meinungen“, denn, so Arendt, „massenhafte Übereinstimmung ist nicht das Ergebnis einer Übereinkunft, sondern ein Ausdruck von Fanatismus und Hysterie.“ Somit rät Sznaider gerade beim Umgang mit der Vergangenheit zur Vorsicht mit Dichotomien, die selber „Teil des Problems [werden], das wir untersuchen.“ Eine erweiterte Betrachtung solle Kolonialismus und Holocaust einschließen und diese nicht als gegensätzliche Schwerpunkte begreifen.  Arendt sei ein Beispiel dafür, dass man Universalismus und Partikularismus gemeinsam denken und reflektieren könne.

 

Das Nicht-Aufhörende Gespräch über die Wahrheit

Sznaider residiert diesen Sommer in München, als Fellow am dortigen Center for Advanced Study. Der Besuch einer öffentlichen Vorstellung des Buches empfiehlt sich, weil Sznaider dem Publikum reflektiert antwortet. So erwiderte er auf die Frage der Germanistin Tina Hartmann (Universität Bayreuth), ob man bei der Reflektion über den Umgang miteinander nicht auch von der Aufklärung vor Immanuel Kant lernen könne? „Auf jeden Fall“, waren sich Sznaider und Bornuth einig und bezogen sich auf Gottholm Ephraim Lessing und dessen Plädoyer für das nicht-aufhörende Gespräch über die Wahrheit – wiederum ein Ansatz, den Arendt in ihrer berühmten Lessing-Rede (1959) würdigend hervorgehoben hatte.

Trotz der 252 Seiten bezeichnet Sznainder seinen Text als Essay im wahrsten Sinne, d.h. als Versuch, der nicht immer gelungen sei. Das mag daran liegen, dass Sznaider versucht, „aktuelle Debatten historisch und soziologisch [zu] begreifen“. Letztlich handelt es sich bei der Angemessenheit des Gedenkens um eine ethische Frage, wie Sznaider erst auf den letzten Seiten betont. „Das Erinnern muss sich aber auch mit der unangenehmen Frage seiner eigenen Grenzen auseinandersetzen.“

 

Grenzen des Erinnerns und Ethik des Gedenkens

Bei der Auslotung von Grenzen des Erinnerns lohnt der Rückgriff auf Michael Walzer, den Sznaider im Kontext seiner Debatte mit Edward Said zitiert. Walzer kommt immerhin der Verdienst zu, an eine Tradition der multidimensionalen Ethik erinnert zu haben, mit der man abwägen kann, ob man Zwang anwenden darf und welche Zurückhaltung uns dabei ansteht. Parallel zu Walzer, bzw. zur Theorie des Rechtfertigbaren Krieges, könnte man eine Ethik des politischen Gedenkens entwerfen, die zur multidimensionalen Prüfung kritischer Erinnerungsfragen dienen kann. Nicht zuletzt aus dieser Perspektive hat die postkoloniale Kritik an Israel durchaus einen Grund, eine causa iusta, wie auch Sznaider einräumt. Gleichzeitig ist es legitim, die recta intentio zu bezweifeln, wenn die Existenz des israelischen Staates und damit die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger in Frage gestellt wird.

In ein solches Ius ad Memoriam, entworfen anhand des Ius ad Bellum von Thomas von Aquin, würde auch die Antwort passen, die Sznaider auf Michael Rothbergs Multidirectional Memory bot. Obwohl er Rothberg viel abgewinnen könne, blieben Bedenken. Er glaube nicht an Versöhnung – jüdische Israelis, die zerstörte arabische Dörfer besuchen; Araber, die nach Auschwitz reisen – sondern eher an Anerkennung. Letztlich spiegelt sich darin die Frage nach realistischer Aussicht auf Erfolg oder zumindest Verbesserung, einem wesentlichen Kriterium des Ius ad Bellum, das man für Versuche historischer Begründung plausibel anpassen könnte.

Zu den Dimensionen einer solchen Ethik des politischen Gedenkens gehört weiterhin die Untersuchung legitimer Autorität zwischen Diaspora und nationaler Souveränität, ebenfalls ein Thema in dem Buch. Mehr Systematik könnte helfen, zahlreiche Gedenkdebatten zu entskandalisieren, weil man mehrere Dimensionen abwägen und bestenfalls integrieren kann. Derzeit ist der Zustand meist inchoate, wie Isaiah Berlin ungeordnete oder prä-paradigmatische Situationen beschrieb.

 

Eine gelungene Vorstellung

Ein solches neues Paradigma ist allerdings nicht Sznaiders Ziel. Zum Abschluss der Veranstaltung in Stuttgart beschreibt er eine andere Vision, in Abwandlung von den in der Einleitung des Buches imaginierten Bildern einer Ausstellung. Als Student in New York, so Sznaider, habe er wenig Geld gehabt, und deswegen sei man immer erst in das dritte Set der Jazzkonzerte gegangen. Ab Mitternacht sei der Eintritt umsonst gewesen und die Musiker hätten das eingeübte Programm hinter sich gelassen und improvisiert. Es sei sein Traum, einmal seine Ideen so wie diesen Jazz darzustellen. Dies ist Sznaider gelungen, mit der Vorstellung und mit dem Buch. Keine Standards, sondern eine schwungvolle Kombination, der man gerne folgt: wesentliche Figuren und Themen neu entdeckt, Solo und Begleitung, Punkt und Kontrapunkt, gut eingetaktet und mit überzeugendem Ensemble.

 

Dr. Hans Gutbrod ist Associate Professor an der Ilia Staatsuniversität in Tiflis, Georgien und Senior Fellow am Center for Peace and Conflict Studies, Seton Hall University. Er ist auf Twitter unter @HansGutbrod.

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