Philosophie für das Silicon Valley: Longtermism

Wenn es in der Philosophie so etwas wie populäre Trends gibt, dann gehört der Longtermism gegenwärtig sicher zu den einflussreichsten. Longtermism beschäftigt die Frage nach der moralischen Verantwortung auf lange Sicht. Es ist ein Trend der weniger in Academia als in Podcasts, populären Büchern und privaten Stiftungen stattfindet. Im Silicon Valley erfreut er sich großer Popularität. Zuletzt ist ihm größere Aufmerksamkeit zugekommen, weil einer seiner prominentesten Förderer, der inzwischen bankrotte Krypto-Unternehmer Sam Bankman-Fried, sich als Betrüger herausgestellt hat. Einer der wichtigsten theoretischen Vertreter des Longtermism ist der Shooting Star William MacAskill, junger Assistenzprofessor für Philosophie in Oxford, zeitweise jüngster Philosophieprofessor weltweit. In seinem neuen Buch „What We Owe the Future“ möchte er die zentralen Thesen des Longtermism einer breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Elon Musk sieht das Buch nah an seiner eigenen Philosophie. Bill Gates nennt MacAskill einen „Data nerd after my own heart”.

Die Grundlagen des Longtermism liegen in einer bestimmten Prägung des Utilitarismus, welche sich an Peter Singer und Derek Parfit orientiert. Laut dem Utilitarismus ist für moralische Handlungen das größte Glück der größten Zahl ausschlaggebend. Einige Spielarten dieser Theorie sind oft für ihre fragwürdigen Schlussfolgerungen kritisiert worden. Das wiederholt sich auch bei MacAskill, wenn er bedauert, dass Coronaimpfstoffe aus moralischen Gründen nicht durch absichtliche Virus-Infizierung freiwilliger Probanden getestet worden sind. Bisher hat MacAskill die Theorie jedoch in erster Linie im Sinne des „effektiven Altruismus“ angewandt: Demnach ist die ethisch beste Art sein Leben zu leben, möglichst viel Geld zu verdienen und möglichst viel davon möglichst effektiv zu spenden. MacAskill hat deswegen verschiedene Stiftungen gegründet, welche diesen Lebensstil propagieren und unterstützen.

Apokalyptische Geschichtsphilosophie

Longtermism wendet diese Theorie auf die Zukunft an: Das Leben zukünftiger Generationen zähle ebenso sehr wie das der gegenwärtigen. Weil die Anzahl der zukünftigen Leben aber potenziell um ein Vielfaches höher ist als die der Gegenwart, hat es moralisch höchste Priorität zu verhindern, dass die Menschheit ausgelöscht wird. Ziel muss es sein, die Wahrscheinlichkeit existenzieller Risiken – wie etwa die eines Atomkriegs oder einer Klimakatastrophe – zu minimieren. Einen großen Raum nimmt dabei die Befürchtung ein, eine künstliche Intelligenz könnte die Menschheit vernichten.

Derartige Gedankenexperimente darüber, wie die Zukunft aussehen könnte oder wie anders die Geschichte hätte verlaufen können, machen einen Großteil von MacAskills Buch aus. Mit solchen hochspekulativen Szenarien lässt es sich sehr einfach machen, weil sie sich leicht auf die eigenen Präferenzen hin formulieren und plausibilisieren lassen und nicht widerlegbar sind. MacAskill geht dabei von bestimmten geschichtsphilosophischen Prämissen aus. Zum einen die Kontingenz von Werten: Welche moralischen Werte sich wann etablieren, hänge nicht von Technologie ab, sondern sei hauptsächlich eine Sache des Zufalls. Als Beleg für diese gewagte These wird auf das Buch „Moral Capital“ des Historikers Christopher Leslie Brown verwiesen. Ihm gemäß war die Abschaffung der Sklaverei nicht Ergebnis ökonomischer Entwicklungen, sondern Produkt des militanten Aktivismus einer kleinen Gruppe fanatisch-religiöser Aktivisten. Diese Fanatiker sind MacAskills großes Vorbild. Die zweite Prämisse ist das Prinzip des Werte-lock-ins: In bestimmten Zeiträumen der Geschichte bestehe eine hohe Volatilität, welche Werte sich etablieren, bis sie sich dann immer stärker festsetzen und schließlich kaum mehr ändern lassen.

Beide dieser geschichtsphilosophischen Voraussetzungen laufen darauf hinaus, die Bedeutung des Longtermism in der Gegenwart zu steigern: Weil die Entwicklung künstlicher Intelligenz möglicherweise kurz bevorsteht, ist die Gegenwart hochgradig Werte-volatil und es hat höchste Priorität, zu verhindern, dass dadurch ein absoluter Werte-lock-in stattfindet, bei dem sich die falschen Werte für immer festsetzen. Eine kleine Gruppe militanter Aktivisten, die – wie die Quäker bei der Sklaverei – ihrer Zeit mit dem richtigen moralischen Wissen voraus sind, hat, so die Vorstellung, in der Gegenwart die Möglichkeit, die Zukunft entscheidend zu gestalten. Ihr Einsatz kann verhindern, dass die Menschheit von künstlicher Intelligenz ausgelöscht wird oder sich die falschen Werte für immer festsetzen; ein klassisches apokalyptisches Szenario nach der Devise: „Das Ende steht kurz bevor und hier ist die Lösung“.

Die Zukunft retten ohne Politik

MacAskill beschreibt bewundernd und eindrücklich den Aktivismus der Abolitionisten, wie sie die mächtigen Sklavenhalter unbeirrbar, allen Widerständen zum Trotz, anklagen und mit ihren Verbrechen konfrontieren. Für die Gegenwart zieht er hingegen andere Strategien vor: Eine befreundete Tierschutzaktivistin hat deswegen Erfolg, weil sie auf Dialog und Kooperation statt Verurteilung und Konfrontation setzt. MacAskills Politikverständnis neigt zur Konfliktscheu: Er nennt keine auch nur potenziellen Gegner und beschränkt sich auf technokratische Empfehlungen für ein nicht weiter eingegrenztes „Wir“. Man spricht sich dagegen aus, im Kampf gegen den Klimawandel auf individuelle Konsumentscheidungen zu setzen. Stattdessen müsse dafür gesorgt werden, dass Firmen wie Shell ihr Geschäftsmodell verlieren. Erzielen lasse sich diese Art von weitreichendem politischem Wandel durch Spenden an effektive Non-profit-Organisationen.

Darüber hinaus gibt es drei weitere Möglichkeiten, die in Frage kommen: Gute Ideen verbreiten, Kinder bekommen oder Aktivismus. Die einzigen Formen von Aktivismus, die behandelt werden, bestehen darin, wählen zu gehen oder allenfalls eine Wahlkampagne zu unterstützen – beide gemäß MacAskill in den meisten Umständen ineffizient. Entscheidender sei es, eine Karriere mit möglichst hohem Impact zu wählen, zum Beispiel bei einer NGO. Die Diskussion dieses Themas nimmt im entsprechenden letzten Kapitel sehr viel mehr Raum ein als die vorherigen drei.

Bei der Frage, welche politischen und ökonomischen Systeme es in der Zukunft geben sollte, bleibt der Autor agnostisch. Anhaltendes ökonomisches Wachstum hält er für langfristig untragbar, kurzfristig jedoch absolut notwendig und Stagnation für eines der größten Risiken. Er schlägt vor, man solle auf pluralistische Experimente in freien Städten, „charter cities“, setzen, um dann „empirisch“ festzustellen, welches System menschlichem Gedeihen am besten dient. Es wird zugestanden, dass „charter cities“ in erster Linie von Wirtschaftsliberalen propagiert werden, gleichzeitig jedoch negiert, dass in dieser Hinsicht ein notwendiger Zusammenhang besteht: Es könne auch marxistische oder öko-anarchistische „charter cities“ geben. Man wundert sich, ob dieser Vorschlag ernst gemeint ist oder nicht eher in erster Linie dazu dient, der Frage auszuweichen. Nach eigener Angabe hat ein großes Forscherteam MacAskill bei der Recherche für sein Buch unterstützt. Offenbar konnte kein einziger ihm sagen, dass Städte in der Regel in ein größeres Wirtschafts- und Ökosystem eingebettet sind.

Kapitalismus als Werte-lock-in

Die mit MacAskill befreundete Philosophin Amia Srinivasan hatte in ihrer Rezension zu dessen vorherigem Buch über effektiven Altruismus angemerkt, es müsse aus dieser Perspektive eigentlich das Konsequenteste sein, alles zu tun, um eine antikapitalistische Revolution zu fördern. In Bezug auf Longtermism dürfte dies in noch stärkerem Maße zutreffen, es sei denn man hält es für realistisch, dass die Menschheit die nächsten Jahrtausende und Jahrmillionen in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem floriert. Das würde heißen, dass sich an einem seit höchstens ein paar Jahrhunderten existierenden Gesellschaftssystem in diesem langen Zeitraum nichts Grundsätzliches ändern würde und der Gipfel der Menschheit darin erreicht ist.

Womöglich hat der gravierendste Werte-lock-in, vor dem die Longtermisten sich derart fürchten, bereits stattgefunden: Derjenige in dem sich der Tauschwert der Ware festgesetzt hat. Wenn es ein historisches Phänomen gibt, welches sich als „Werte-lock-in“ mit einer gewissen Selbstständigkeit jenseits menschlicher Intervention beschreiben lässt, dann ist das der Kapitalismus. Wer mit dem geschichtsphilosophischen Konzept des Werte-lock-ins arbeiten will, müsste befürchten, selbst darin gefangen zu sein. Sogar der radikalste und ernsthafteste Moralismus würde sich dann auf eine Art und Weise äußern, die diesem festgesetzten Wert nicht widerspricht.

MacAskills Beschränktheit in Sachen Politik und Ökonomie, die sich an diesen kritischen Punkten äußert, liegt nicht in einer persönlichen Verfehlung begründet. Sie steckt in den materiellen Verhältnissen, in denen er sich befindet und ist Ausdruck seiner gesellschaftlichen Position: Seine NGOs sind von reichen privaten Geldgebern abhängig. Würde es ihm einfallen, etwas zu äußern, das diesen großzügigen Philanthropen, die seine Arbeit und seinen Aktivismus fördern, zu sehr missfällt, weil es ihren Interessen zuwiderläuft, könnte er seine Finanzierung riskieren. Würden sie enteignet oder auch nur gezwungen höhere Steuern zu zahlen, könnten sie ihr Geld weniger „effizient“ in die wichtige Arbeit des Longtermism investieren. Wer die Zukunft retten will, muss sich auch solche Verhältnisse anschauen.

Die Pleite von Sam Bankman-Frieds Unternehmen FTX, mit dem MacAskill eng assoziiert war und aus dessen Profiten riesige Summen an Fördergeldern für einen „Future Fund“ versprochen wurden, trifft die Longtermism-Community hart. In einem Interview hat der ehemalige CEO zugegeben, nicht wirklich an die Theorien von effektivem Altruismus und Longtermism zu glauben. Seine Förderung dieser Anliegen war nicht mehr als eine PR-Strategie um einen Betrug zu decken, der unzähligen Kunden ihre Ersparnisse gekostet hat und zu dessen Mittäter MacAskill sich unfreiwillig gemacht hat. Keine gute Bilanz für einen Ethiker.

Maurice Weller studiert Philosophie und Medienwissenschaft in Basel. Er ist auf Twitter zu finden unter @Weller_Maurice.

2 Kommentare zu “Philosophie für das Silicon Valley: Longtermism

  1. Drei Fragen:
    1. Ist „Longtermism“ eine Neuauflage des Vorsorgeprinzips?
    2. Geht es nur um Wahrscheinlichkeiten für Zukunftsszenarien oder auch um Interessen?
    3. Praktizieren die Klimaaktivist:innen, die sich auf Straßen festkleben, eine Form von Longtermism?

  2. Unter der sehr gewagten Annahme, dass die Menschheit noch Millionen von Jahren existieren wird, lässt sich trefflich schwadronieren. Wir erinnern uns aber an Schätzungen aus dem anthropologischen und aus dem astrophysikalischen Lager. Diese gewähren der technischen Zivilisation eine Lebensdauer von so um die 100.ooo Jahre. Kann aber auch mehr sein. Nur in anderer Form. Es scheint, als ob mit dem Longtermism eine tüchtige Portion Science fiction in die Praktische Philosophie reingeschwappt ist.

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