Wiedergelesen anlässlich des Todes von Hanna F. Pitkin: The Concept of Representation

Am 6. Mai 2023 ist Hanna Fenichel Pitkin, Autorin des politikwissenschaftlichen Klassikers The Concept of Representation (1967), im Alter von 91 Jahren verstorben. Das Buch gilt bis heute als das „Schlüsselwerk“ zum Repräsentationsbegriff (Buchstein 2007), bei der Beschäftigung mit Fragen der Repräsentation führt daran kein Weg vorbei. Jenseits der anerkannten Bedeutung von The Concept of Representation aber endet der Konsens. Dies ist sowohl eine Folge der dort bereits angelegten Ambiguität als auch eine Konsequenz vereindeutigender Lesarten. Anlässlich des Todes von Hanna Pitkin wirft dieser Beitrag einen Blick zurück auf das Buch und seine Rezeptionsgeschichte. Ich möchte zeigen, dass es sich lohnt, die Ambiguität von The Concept of Representation in neuen Lektüren zu erhalten, damit es weiterhin Quelle der Inspiration für die politikwissenschaftliche Repräsentationstheorie sein kann.

Pitkin hat mit ihrem ersten, auf ihrer Dissertation basierenden Buch ein polyvalentes Anliegen verfolgt. The Concept of Representation soll weder nur eine normative Theorie politischer Repräsentation noch nur „an exercise in language philosophy“ oder gar nur „a study in the history of political thought“ (S. 7) sein, sondern entschieden dies alles (S. 6f., 9f.). Dieser weit gefächerte Anspruch lädt einerseits zur Kritik ein, dass Pitkin ihm nicht gerecht wird. Andererseits dürfte dieser Anspruch auch zu immer wieder neu entfachten Vorwürfen allzu selektiver Rezeption des Buchs geführt haben. Meines Erachtens gehen mit diesen selektiven oft auch einseitige Lesarten einher, die The Concept of Representation auf einen bestimmten Aspekt festlegen wollen. Die folgenden vier Thesen sollen verdeutlichen, welche Vereindeutigungen es zu vermeiden gilt und warum es produktiv ist, die Ambiguität von Pitkins Erstling anzuerkennen.

1) The Concept of Representation bietet keine für die Politikwissenschaft unmittelbar verwendbaren Definitionen. Das mag angesichts der allgegenwärtigen Rede von deskriptiver, symbolischer und substantieller Repräsentation überraschen. Die Forschung kann sich für Definitionen dieser Begriffe nicht direkt auf Pitkin berufen, weil sie zunächst nur die mannigfaltigen Verwendungsweisen des Repräsentationsbegriffs aufzeigt und ihre Implikationen für einen politischen Begriff der Repräsentation bewertet. Zugleich unterscheidet Pitkin aber deskriptive und symbolische Repräsentation als Darstellung bzw. ‘standing for’ und Vertretung bzw. ‘acting for’ (S. 59). Hiermit hat sie der Repräsentationsforschung ein Angebot einer begrifflichen Systematik gemacht, die sich praktisch uneingeschränkt durchgesetzt hat. Trotz ihrer Verkomplizierung durch die vielen möglichen Verwendungen von Repräsentation lässt sich auch dadurch mit Verweis auf das Buch ein Stück weit klären, was mit deskriptiver, symbolischer oder substantieller Repräsentation gemeint ist. Über mögliche Verwendungen und ihr Angebot der Systematisierung hinaus braucht es aber noch die Zuspitzung auf operationalisierbare Definitionen als weiteren Schritt, den Pitkin nicht geht. Deshalb kann Pitkin jenseits der durch sie forcierten Prägung dieser Dimensionen des Repräsentationsbegriffs dennoch nicht für die geläufigen politikwissenschaftlichen Verwendungsweisen von deskriptiver, symbolischer und substantieller Repräsentation als Autorität in Anspruch genommen werden. Insgesamt bietet The Concept of Representation meines Erachtens daher vielmehr beständig Anregung, einzelne Dimensionen des Repräsentationsbegriffs neu auszuleuchten (so zuletzt etwa Celis/Erzeel 2020). Gerade das lässt sich Pitkins Buch in dieser Hinsicht zugutehalten.

2) The Concept of Representation geht nicht im sogenannten ‚standard account‘ politischer Repräsentation auf, auch wenn Pitkin im letzten Kapitel des Buches Repräsentation mit legitimer und demokratischer Repräsentation identifiziert (Rehfeld 2006). Als ‚standard account‘ wird in der neueren repräsentationstheoretischen Debatte die Abstraktion eines weiterhin in der Politikwissenschaft als auch im öffentlichen Raum vorherrschenden Verständnisses politischer Repräsentation bezeichnet. Repräsentation wird so als eine auf Wahlen in geographisch definierten Wahlkreisen basierende Prinzipal-Agent-Beziehung verstanden. Die politische Gleichheit des Prinzipals, der Wählerschaft, gilt als durch das Wahlrecht garantiert. Die Rollen der Repräsentant:innen als Agenten lassen sich in erster Linie anhand ihrer (verfassungs-)rechtlichen Formalisierung verstehen. Periodisch wiederkehrende Wahlen sollen das Handeln der Repräsentant:innen durch Ab- oder Wiederwahl sanktionieren und so zu verantwortungsvollem Handeln führen (Castiglione/Warren 2019). In Pitkins Begriffen formuliert, fokussiert der ‚standard account‘ damit auf Autorisierung und accountability durch Wahlen. Auch wenn Pitkins Theorie Wahlen und einen formell autorisierten Status von Repräsentant:innen sicherlich voraussetzt, so hat sie doch das damit einhergehende Repräsentationsverständnis explizit als zu eng und formalistisch kritisiert (S. 58). Im Unterschied zu Pitkin interessiert sich der ‚standard account‘ also zu wenig für das eigentliche Handeln der Repräsentant:innen. Daher kann er nicht mit Pitkins Position gleichgesetzt werden. Wie aber fasst Pitkin das Handeln der Repräsentant:innen?

3) The Concept of Representation lässt sich in normativer Hinsicht zunächst nicht darauf reduzieren, dass repräsentatives Handeln am Standard der Responsivität zu messen ist. Das Buch wurde auch in dieser Hinsicht oft verkürzt rezipiert, „Pitkin’s nuanced discussion“ zu einem „sound bite“ gemacht „that reinforced the dominant view of representation as direct correspondence between public opinion and government policy“ (Brown 2018). Auf den ersten Blick scheint die wohl meistzitierte Stelle des Werks genau dies nahezulegen: „representing here means acting in the interest of the represented, in a manner responsive to them.“ (S. 209) Jedoch drückt der Satz in komprimierter Form gleichermaßen das Spannungsfeld ebenso wie die Bandbreite repräsentativen Handelns aus (Kap. 7). Was im Interesse der Repräsentierten ist, stellt Pitkin zunächst dem Urteil der Repräsentant:innen anheim. Potentiell sollen Repräsentant:innen aber auch responsiv auf die subjektiven ‚Wünsche‘ der Repräsentierten eingehen, sofern Wünsche artikuliert werden. Fallen Wünsche und Interesse auseinander, entsteht ein Reflexions- und Rechtfertigungserfordernis auf Seiten der Repräsentant:innen. Substantielle Repräsentation ist für Pitkin nur möglich, wenn sich solche Konflikte mit der Zeit mit guten Gründen auflösen lassen (S. 213). Das heißt aber auch: Die Repräsentierten müssen sich ein unabhängiges Urteil über das repräsentative Handeln in ihrem Interesse bilden.

4) In The Concept of Representation ist insofern ein dialogisches Verständnis politischer Repräsentation angelegt. Hier knüpfen Theorien jüngeren Datums an, die den Schwerpunkt auf eine über die Wahlbeziehung hinausgehende Interaktion zwischen Repräsentierten und Repräsentanten legen. Über diese allgemeine Feststellung hinaus drohen Versuche, The Concept of Representation als Vorläufer neuerer Repräsentationstheorien zu stilisieren, jedoch unvermeidlich zu scheitern. Denn mit dem zeitlichen Abstand, der zwischen dem Buch und der neueren Diskussion liegt,  geht auch ein theoretischer Abstand einher. Nur genannt werden können an dieser Stelle die deliberative Demokratietheorie und die Aneignung poststrukturalistischer Ideen durch politische Theorien. Wer The Concept of Representation zum Beispiel als eine konstruktivistische Theorie politischer Repräsentation avant la lettre lesen will, muss auf die eine oder andere Weise über Pitkins Fundamentalkritik symbolischer Repräsentation hinweggehen oder ihr die Vorwegnahme nachträglicher Theorieentwicklungen zuschreiben. Dass Versuche, The Concept of Representation für die eigene Theorieentwicklung zu vereinnahmen, scheitern, könnte aber auch daran liegen, dass sich das Buch oft nicht auf eine Aussage festlegen lässt. Am Ende von The Concept of Representation reformuliert Pitkin ihren normativen Standard mit einem Blick über die Beziehung zwischen einzelnen Repräsentant:innen und Repräsentierten hinaus. Hiermit wird, in meinen Augen relativ unvermittelt und überraschend, die Ebene eines „representative system“ (S. 224) eingeführt. Auf dieser systemischen Ebene kommt es für Pitkin weniger darauf an, dass Repräsentant:innen tatsächlich auf die Anliegen der Repräsentierten eingehen bzw. ihr Abweichen von diesen Anliegen begründen oder die Repräsentierten sich tatsächlich ihr eigenes Urteil zu politischen Fragen bilden. „Representation may emerge from a political system in which many individuals, both voters and legislators, are pursuing quite other goals.“ (S. 224) Vielmehr müssten Institutionen dafür sorgen, dass die Möglichkeit der Responsivität durch das repräsentative System aufrechterhalten wird. Wer heute an dieses systemische Verständnis politischer Repräsentation anknüpfen will, läuft Gefahr, Pitkins letztlich unreflektierte Parallelisierung von handlungstheoretischer Grundierung, reflexiver Urteilsbildung und rechtfertigbarer Repräsentation einerseits und systemischer Abstraktion, institutioneller Kapazitäten und emergenter Repräsentation andererseits zu reproduzieren. Insbesondere systemische Repräsentationstheorien, die sich sowohl auf The Concept of Representation als auch auf den ‘systemic turn’ der deliberativen Demokratietheorie berufen, adressieren diese Herausforderung bislang unzureichend (etwa Rey 2020).

The Concept of Representation lädt durch die Ambiguität, die dieses Standardwerk auszeichnet, zu Verkürzungen und Vereinseitigungen der Rezeption ein. Die Politikwissenschaft hat diese Einladung zu oft dankend angenommen. ‚To give Pitkin her due‘ (Castiglione 2012) bedeutet meines Erachtens demgegenüber, die Vorteile der Ambiguität des Buchs zu würdigen und zu nutzen. Die Rezeption dieses Buchs als ein Standardwerk, das sich autoritativ für bestimmte Aussagen vereinnahmen lässt, weist damit enge Grenzen auf. Pitkins Leistung in The Concept of Representation liegt vielmehr darin, wichtige und weiterhin anregende Fragen in einer Weise aufzuwerfen, die der politikwissenschaftlichen Repräsentationstheorie kontinuierlich neue Denkanstöße verspricht.

Manuel Kautz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Professur für Politische Theorie der Universität Erfurt. In seinem Dissertationsprojekt forscht er zu historischen und zeitgenössischen Theorien politischer Repräsentation und zu den Herausforderungen ihrer Systematisierung.

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