Zu Omri Boehms „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“

In der auch hierzulande zusehends hitzigen Debatte um Identitätspolitik unternimmt der Philosoph Omri Boehm den wichtigen Versuch, einerseits den Universalismus gegen den Verdacht zu verteidigen, lediglich eine Herrschaftsideologie des schon sprichwörtlichen alten, weißen Mannes zu sein, andererseits dem emanzipatorischen Gehalt der Identitätspolitik gerecht zu werden.

Boehms lesenswertes ideengeschichtlich fundiertes Plädoyer beinhaltet im Wesentlichen drei Argumentationslinien, denen im Folgenden auf den Zahn gefühlt wird.

Den wahren Universalismus freilegen

Erstens folgt Boehms Verteidigung des Universalismus unausgesprochen dem Grundgesetz des Kritischen Rationalismus: Demnach wäre der Ideologievorwurf widerlegt, wenn auch nur ein einziges historisches Beispiel präsentiert werden könnte, das über den Verdacht erhaben ist, letztlich nur die Interessen der Herrschenden zu befördern wie zu verschleiern.

Hierfür widmet Boehm viel Raum dem Abolitionismus und dem Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten. Dort zeige sich der Konflikt zwischen zwei ideengeschichtlichen Strömungen: die in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 formulierte Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen vs. die „more perfect union“ der Verfassung von 1787. Letztere habe ironischerweise in der „reconstruction“ nach dem Bürgerkrieg den Sieg davongetragen und in der politischen Kultur wie der Gesetzgebung ein scheinheiliges Nebeneinander von universalistischer Ideologie und rassistischer Wirklichkeit ermöglicht. So räumt Boehm ein, dass der Universalismus dieser Form zu einer Herrschaftsideologie mutiert sei. Umso mehr komme es darauf an, an die wenigen Beispiele eines radikalen, aufrechten Universalismus anzuknüpfen.

Identitätspolitisch gestimmten Ideologiekritiker*innen werden diese Ausführungen wohl eher weitere Munition liefern, als sie vom Wert des Universalismus zu überzeugen. Ein ungleich stärkeres Argument hätte Boehm hingegen in Claude Leforts Auseinandersetzung mit der Marx’schen Kritik an den Menschenrechten finden können:

Die bekannte Lesart, der Bourgeois meine lediglich sich und seinesgleichen, wenn er vom Menschen im Allgemeinen spreche, ist nach Lefort nicht falsch, sitze aber zugleich einem systematischen Missverständnis auf. Diese Form der Ideologiekritik, die sich strukturell in der heutigen Identitätspolitik wiederfindet, übersieht, dass mit den universellen Menschenrechten nichtsdestotrotz eine Idee in der Welt ist, mit der Herrschaftsverhältnisse in Frage gestellt werden können, die sich unter Rekurs auf universelle Rechte legitimieren: Unabgegoltene Gleichheitsversprechen werden immer wieder zum Hebel, mit dem soziale Bewegungen von Marginalisierten tatsächliche emanzipatorische Fortschritte erringen können.

 

Universalismus als Mythos und Prophetie

Für Boehm ist der wahre Universalismus der schon titelgebende radikale Universalismus. Radikal lässt sich dabei einerseits verstehen als ein Aufsuchen der (verschütteten) Wurzeln. Gleichzeitig scheint sich die Wahrhaftigkeit des radikalen Universalismus für Boehm in der Kompromisslosigkeit des Denkens und vor allem des Handelns seiner Träger*innen zu zeigen.

Der eigentliche Held des Buches ist dann auch nicht ein rehabilitierter Kant, der uns neben der folgenreichen pseudo-wissenschaftlichen Begründung rassistischer Topoi eben auch den kategorischen Imperativ hinterlassen hat. Vielmehr wird John Brown, der weiße Anführer eines gescheiterten abolitionistischen Aufstandsversuchs zum Inbegriff eines radikalen, also wahren Universalismus stilisiert. Dafür scheint es besonders wichtig zu sein, dass Brown sich selbst außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses verortete, sich auf einer religiösen Mission sah und seine Ziele nicht innerhalb der politischen Institutionen, sondern dezidiert und militant gegen diese zu verfolgen suchte. Dass Brown von Zeitgenossen als Fanatiker und Geisteskranker bezeichnet wurde, wird hier zum Indiz für die Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit von Browns Universalismus.

Die Schwäche dieser Verteidigung des Universalismus liegt auf der Hand: Nicht nur lenkt der Fokus auf individuelle Ergriffenheit und Entschlossenheit von der politischen Bedeutung des Universalismus in Demokratien, ihren Institutionen und Verfahren ab. Zudem wird Universalismus, so er mehr als eine Herrschaftsideologie sein soll, letztlich auch jenseits des Diskursiven und Intelligiblen angesiedelt.

Der Universalismus erhält dabei jene Züge, die Ernst Bloch charakteristisch für den Mythos gehalten hat: Vor allem wirkt er als eine Formel oder ein Bild, das starke Affekte aktiviert und Kräfte mobilisiert für eine noch zu erreichende Veränderung, wohingegen die Inhalte und Ziele der Veränderung zweitrangig, schlimmstenfalls austauschbar werden. Hierzu passt auch, dass Boehm den Kern der Aufklärung gerade in der Prophetie ausfindig zu machen meint, anstatt die diskursive Seite der Aufklärung in den Vordergrund zu rücken.

Bei dieser Schwerpunktsetzung bleibt unklar, wie Verfechter*innen der Identitätspolitik oder auch nur Unentschlossene überzeugt werden sollen. Wenn Universalismus etwas ist, von dem man entweder ehrlich (bis fanatisch) ergriffen ist (oder eben nicht), dann verschwimmt der Unterschied zu anderen kraftvoll vorgetragenen partikularen Identitätsbehauptungen.

 

Universalismus als Alternative zum „Krieg aller gegen alle“

Die letzten beiden Absätzen von „Radikaler Universalismus“ führen etwas ad hoc aber noch ein drittes Argument an:

Die einzige Möglichkeit, die Antinomien von Identitäten aufzulösen, die einander nihilistisch löschen – „canceln“ -, besteht darin, auf dem Universalismus als Ursprung zu beharren anstatt auf Identität.

Das ist vermutlich das stärkste Argument in Boehms Text: Ohne einen gemeinsamen Rahmen stehen Identitäten absehbar unversöhnlich gegeneinander. Im Ernstfall verhindern dann lediglich noch praktische oder taktische, aber eben keine moralischen Gründe eine Auslöschung.

Man könnte diese Einsicht noch etwas zuspitzen: Bei aller Kritik und Ablehnung kommt auch eine emanzipatorische Identitätspolitik nicht um universalistische Annahmen herum. Ohne diesen „verklemmten Universalismus“ ließe sich nicht einmal begründen, warum etwa Rassismus ein Skandal und zu überwinden ist.

In einer Welt, in der die Gleichheit der Menschen als bloße Herrschaftsideologie denunziert wird, gibt es keinen Grund, sich mit den Marginalisierten zu solidarisieren. Emanzipatorische Bewegungen sind dann auch nichts anderes als Akteure in einem Kampf um die Deutungsmacht in der Gesellschaft. Einem Kampf wohlgemerkt, in dem sie in aller Regel schlechtere Karten haben, wie schon Charles W. Mills in seinen Überlegungen zur Notwendigkeit partikularer „alternativer Epistemologien“ marginalisierter Gruppen bemerkte.

Boehms Buch hätte ungemein davon profitiert, diesen letzten Gedanken weiter zu verfolgen, weil dadurch nicht nur Widersprüchlichkeiten von Identitätspolitiken und der Universalismus als deren Lösung hätten diskutiert werden können, sondern damit etwa auch – wie oben unter Rekurs auf Lefort angedeutet – die genuin politische Bedeutung universalistischer Ideen jenseits einer Herrschaftsideologie hätten beleuchtet werden können. Besonders offenkundig wird diese Leerstelle bei Boehm in einem umfangreichen Kapitel, das in einer kenntnisreichen und originellen Interpretation der Bindung Isaaks (Gen 22, 1-19) zwar Abraham als Ahnherr eines wahren Universalismus präsentiert, das jedoch keinen Bezug zu identitätspolitischen Debatten der Gegenwart herstellen kann.

 

Jan Rohgalf ist promovierter Politikwissenschaftler und interessiert an gegenwärtigen ideologischen Formationen. Er arbeitet schon eine Weile als Business Analyst für eine Verwertungsgesellschaft.

Ein Kommentar zu “Zu Omri Boehms „Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität“

  1. „… sind dann auch nichts anderes als Akteure in einem Kampf um die Deutungsmacht in der Gesellschaft.“

    Seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung („Vertreibung aus dem Paradies“), leider/bisher nur in den geistigen Stillstand der („wie im Himmel all so auf Erden“) zu fusionierenden Kraft (Matthäus 21,18-22) des Ursprungs/Zentralbewusstseins („göttliche Sicherung“ vor dem möglichen Freien Willen), wo die Deutungshoheit, des stets zeitgeistlich-reformistischen imperialistisch-faschistischen Erbensystems der gleichermaßen unverarbeiteten/gepflegten instinktiven Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und egozentriertem „Individualbewusstsein“, mit bewusstseinsbetäubender Konfusion (materialistischer „Absicherung“) in „gesundem“ Konkurrenzdenken des nun „freiheitlichen“ Wettbewerbs organisiert ist, da kann der Universalismus kein ganzheitliches Wesen Mensch in Vernunft zur GLOBALEN Gemeinschaft mit Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik gestalten.

    So sind nun besonders unsere Religionen von verständlich heuchlerisch-verlogenen Interpretationen der Worte der Propheten/Philosophen entstanden und bestehen nun im Rahmen der „Säkularisierung“ entsprechend, egal wie deutlich Gott/Vernunft und ganzheitliches Wesen Mensch aus dem Spiegelbild zum Ebenbild Gott/Vernunft herauszufinden ist (Bewusstseinsentwicklung zu Möglichkeiten in der vollen/fusionierten Kraft des Geistes / von geistig-heilendem Selbst- und Massenbewusstsein).

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