Wie die Klassengesellschaft denken? Lesenotiz zu Jacques Bidets Buch „Foucault mit Marx“

In den aktuellen Debatten der gesellschaftlichen Linken sind Foucault und Marx die beiden wichtigsten theoretischen Bezugspunkte. Während Ersterer als Ideengeber für eine tendenziell identitätspolitische Linke gilt, die den intersektionalen Kampf gegen die Vielfalt der Unterdrückungsstrukturen betont, ist Marx der Bezugspunkt für eine tendenziell sozialkritische Linke, die den Klassenkampf gegen die kapitalistische Produktionsweise in den Vordergrund stellt. Nicht selten stehen sich diese beiden Lager unversöhnlich gegenüber, wenn es um Kernfragen der Gesellschaftsanalyse und politischen Strategie geht. „Marx oder Foucault?“, lautet die (implizite) Frage. So weit, so bekannt. So weit, so aktuell.  

Foucault und Marx zusammen denken 

Dass in der theorieaffinen Linken die Fronten deshalb verhärtet sind und eine Zusammenarbeit utopisch erscheint, hat Jacques Bidet, emeritierter Professor für Philosophie an der Université de Paris X, dazu veranlasst, ein Buch über die Möglichkeiten einer „produktiven Kooperation“ zwischen Foucault und Marx zu schreiben (S. 12). Natürlich ist Bidet damit nicht der Erste (S. 13). Er wendet sich mit seiner Arbeit aber vor allem gegen Theoriediskussionen, die eine Arbeitsteilung Foucaults und Marx’ auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Problemfeldern propagieren und zu einer inflationären Überprüfung der distinkten Konzepte auf empirische Evidenz geführt haben, ohne dabei Grundsatzdiskussionen voranzubringen (ebd., S. 19). Demgegenüber geht es Bidet um die Zusammenführung zweier „unvollständiger Theoriegebäude“, die unter dem Dach seines Metamarxismus (oder Altermarxisme), mit dem Anspruch einer „allgemeinen Theorie der modernen Gesellschaft“, vereinheitlicht werden sollen (S. 13, 20f.). Denn beide – und darin liegt die Möglichkeit ihrer Verbindung – verfolgen mit ihrer theoretischen Arbeit dasselbe politische Grundanliegen, nämlich die universelle Emanzipation der dritten „Partei“, verstanden als Masse an Rechtlosen, Anteilslosen und Ohnmächtigen in Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnissen (S. 12, 22f.).  

Für dieses nicht gerade bescheidene Projekt greift Bidet auf seinen bereits 1990 entwickelten Ansatz der Meta/strukturellen Theorie zurück (eine deutsche Zusammenfassung seines Buches „Theorié de la modernité“: hier). Diese besagt, dass die Gesellschaftsformation, also die Struktur, von ihrer „Fiktion“, also der Metastruktur, her verstanden und analysiert werden muss (S. 14). Die Metastruktur als „reale Bedingung ihrer Existenz“, ist der Struktur zugleich vorausgesetzt und von ihr hervorgebracht (ebd.). Sie können nur in dialektischer Beziehung sinnvoll gedacht werden (S. 108). Von hier aus formuliert Bidet seine zu untersuchende Hypothese: Marx und Foucault untersuchen jeweils einen „Pol“ der beiden modernen metastrukturalen Fiktionen der modernen Gesellschaft: Marx die Logik des Marktes, Foucault die Ordnung der Organisation (S. 15f.). Diese beiden Fiktionen erscheinen dann in der Struktur als „instrumentalisierte Vernunft“ und verkehren sich so in Klassenfaktoren, die wiederum die Bedingung des kapitalistischen Klassenverhältnisses sind (S. 15f.). Es ist diese Verkehrung bzw. Kehrseite, die konkret in den postulierten Fiktionen der ökonomischen Gleichheit oder der demokratischen Teilhabe und der erfahrenen Wirklichkeit der Prekarität oder des politischen Ausschlusses vorzufinden ist. Hier erhält auch das materialistische Grundkonzept von Basis/Überbau seinen Wiedereinzug. Damit etabliert Bidet gleich zu Beginn ein neues Theoriegebäude (keinen Anbau), um das Verhältnis Foucault/Marx zu analysieren. Das mag als schwache Konstruktionsbedingung einer eklektizistischen Aufgabe verstanden werden. Tatsächlich ist es aber ein gelungener, innovativer Versuch, der die materialistisch-kritische Analyse revitalisiert. Denn sie besinnt sich auf seine wissenschaftliche Grundaufgabe: die Analyse der realen Gesellschaft, um ihrer Überwindung willen. 

Neuralgische Punkte und die Herrschaft des Macht-Wissens 

Vorbereitend beginnt Bidet im ersten Kapital damit, explorativ Gemeinsamkeiten und Diskrepanzen zwischen Marx und Foucault festzustellen. Er untersucht zwei „neuralgische Punkte“: Foucaults Analyse der Disziplinarmacht und sein Konzept der Gouvernementalität (S. 21). Ersterem weist er eine starke Analogie zu marxschen Konzepten zu. Vergleichbar sind dabei vor allem eine Ontologie der Klassenherrschaft, die Annahme des Gegensatzes von egalitär-juristischem Überbau (Metastruktur) und asymmetrisch-materieller Basis (Struktur) und die Idee der „Verkehrung“ (s.o.) des Überbaus durch die Basis (S. 26, S. 27ff.). Die Herausarbeitung des Macht-Wissens, manifestiert in der Figur des Panoptikums, ist nach Bidet die zentrale theoretische Erkenntnis Foucaults (S. 35). Probleme sieht Bidet hingegen in der Analogie zur Gouvernementalität. Foucaults Unzulänglichkeiten liegen in seiner Idee der „großen Erzählung“, in der er der Rationalität des Liberalismus eine „privilegierte Position“ einräumt und in der unsystematischen Arbeit mit seinem „Analysedreieck“ von Souveränität, Disziplin und Regierung (S. 50).  

Aufbauend auf diese erste Exploration führt Bidet seine zentrale These aus: Foucault entdeckt, neben Marx’ Macht-Eigentum, ein „anderes Ordnungsprinzip“ mit anderen Zwecken als dem der Akkumulation – das Macht-Wissen (S. 55). Es ergänzt einen „fehlenden Pol“ bei Marx, der sich in dem Reduktionismus seiner Klassenepistemologie ausdrückt, die sich allein auf das theoretische Paar Kapitalist/Lohnarbeiter bezieht (S. 59). Das Macht-Wissen teilt entsprechend der Klassenfaktoren die herrschende Klasse aber in zwei Pole auf. Neben dem, mittels Eigentum, herrschenden Kapitalisten, tritt der „Entscheidungs-Kompetenz-Träger“ (bzw. die Führungskraft), der mittels dispositiver Wahrheiten herrscht (S. 63ff.). Diesen Begriff, als reale Manifestation des Macht-Wissens, arbeitet Bidet im Folgenden als zweiten Pol der Herrschaft aus (S. 73ff.). Die „Basis/Volksklasse“ steht dieser „Oligarchie“ antagonistisch gegenüber (S. 58). Die Klassenspaltung äußert sich aber nicht als Teilung, sondern als Teilendes, was auf die durch den „Spaltungsprozess“ produzierte Dynamik verweist (S. 78, S. 103). Auch die Frage einer metastrukturellen Hegemonietheorie berührt Bidet hier, die aber nicht näher ausgeführt wird (S. 73, S. 103). Diese Konzeptionen des gern für tot erklärten Klassenbegriffs ist tatsächlich innovativ, weil dieser ein gleichwertig kontingentes und essenzielles Moment enthält und damit nicht in deterministische Reduktionismen zurückfällt. 

Im dritten Kapitel tritt Bidet dann abermals einen Schritt zurück auf die Ebene der Epistemologie der Gesellschaftsanalyse. Hier konfrontiert er Foucaults Nominalismus des Singulären, also das analytische Primat des Individuellen, mit Marx’ Strukturalismus (Holismus) des Ganzen. Bidet schlägt vor, mithilfe der Begriffe Klassenbeziehung und Klassenverhältnis, Nominalismus und Strukturalismus dialektisch zu verbinden (S. 105). Beziehung und Verhältnis stellen sich als Kernbegriffe der metastrukturellen Theorie heraus (S. 108f.). Beziehung verstanden als direkte Klassenbeziehung „Zwischen-Einzelnen“, z.B. Manager/Lohnarbeiter, Großhändler/Landwirt, Journalist/Rezipient, Lehrer/Schüler, Arzt/Patient etc. Verhältnis dagegen verstanden als strukturierendes Klassenverhältnis „Zwischen-Allen“, d.h. zwischen Besitzenden/Nicht-Besitzenden an Privateigentum und Kompetenzwissen (S.109 f.). Das Eine, die interindividuellen Beziehungen, schreibt sich in das Andere, dem Gesamtverhältnis, ein und vice versa. Jede individuelle Handlung hat dadurch Bedeutung für die Klasse als Ganze. Sie aber kann nur existieren, weil „die kollektive Struktur bereits vorhanden ist“ (S. 104). Veranschaulichen lässt sich das am Gang zur Arbeit (individuelle Handlung). Er muss stattfinden, weil sonst kein Einkommen und damit Überleben garantiert ist (strukturell bedingt). Jeder Nicht-Gang, z.B. durch Streiks oder individuellen Ungehorsam/Protest, durchbricht die ständige Reproduktion der Struktur und kann diese Strukturen nachhaltig verändern, sodass es zur Verschiebung der Klassenspaltung kommt, die wiederum neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Gleichzeitig wenden die Akteure der herrschenden Klassen Praktiken an, die aus ihren strukturellen Ressourcen der Organisation und des Eigentums resultieren (Kooperation, Ausgleich, Drohung, Repression etc.), um die Klassenspaltung zu stabilisieren oder zugunsten ihres Interesses zu verschieben. Es ist eine soziale (Re-)Produktionsdialektik in rastloser Dynamik. Diese Zusammenführung Foucaults und Marx‘ epistemologischer Zugänge zu einem Verbundenen ist das Herzstück dieses Buches. Bidets überzeugende Synthese hat hier vor allem zunächst methodologische Implikationen: Gute Sozialwissenschaft setzt kein ontologisches Primat der Struktur oder des Akteurs, sondern untersucht den Prozess ihrer Dialektik. 

Foucaults Brandmarke 

Abschließend widmet sich Bidet noch einmal einer Gegenüberstellung der konkreten analytischen Begriffskomplexe „Kapitalismus“ bei Marx und „Liberalismus“ bei Foucault. Er zeigt, wie beide Konzepte, „in einem stillen konzeptuellen Ringen um den Produktionsbegriff“ widersprüchlich zueinander sind (S. 147). Ausgehend von Marx‘ allgemeinem Produktionsbegriff der Gebrauchswerte rekonstruiert er dessen Bedeutung für Foucaults Analyse der Macht-Wissen-Dispositive (S. 148ff.). Dieser Begriff erlaubt es, aus Marx’ engem Rahmen der Analyse der kapitalistischen Produktion von Mehrwerten die andere Logik der gesellschaftlichen Produktion zu denken – die der allgemeinen Produktion von Nützlichkeit-Fügsamkeit (S. 149). Diese Analyse, so Bidet, vollzieht sich bis zu den Vorlesungen 1977, in denen Foucault „den ‚Liberalismus‘ auf den Lehrplan“ setzt, noch in marxschen Begriffen der Klassenanalyse (S. 160). Ab dann diagnostiziert Bidet einen epistemischen Bruch, der zwar weiterhin die „‚Produktivität‘ gesellschaftlicher Macht-Wissen-Dispositive“ untersucht, aber das „Klassenverhältnis in der Beziehung zwischen Regierenden und Regierten neutralisiert“ (S. 148, 149). Allerdings kann Bidet diese Kritik nicht weiter explizieren, weshalb es unklar bleibt, inwiefern sich das Klassenverhältnis vom Regierungsverhältnis fundamental unterscheidet. 

Bidet konstatiert weiter, dass bei Foucault plötzlich der Neoliberalismus produktiv ist, durch die Heterogenität des Marktes, in dem sich die Subjekte „selbst“ regieren können (S. 167). Kritik hat nicht mehr die Aufgabe die Produktionsverhältnisse zu überwinden, sondern den „Exzess der Regierung“ abzumildern. An diesen Punkt hat die theoretische Rekonstruktion ihre größten Schwächen. Hier tappt Bidet in die diskurshegemoniale Rezeptions-Falle, beim späten Foucault ein Bekenntnis zum Neoliberalismus zu erkennen. Das absolute Urteil lässt Bidet aus und erkennt eine gewisse Ambivalenz der Neoliberalismus-Analyse Foucaults an (S. 168). Doch trotzdem ist es für ihn eindeutig: Foucault sympathisiert mit der neoliberalen Idee (S. 167). Dass dieser altbekannte Vorwurf wenig Substanz hat und vielmehr selbst eine diskursive Taktik ist, haben schon andere ausführlich begründet.

Neben Foucaults philosophischem Selbstverständnis als Skeptiker, das ein klares politisches Bekenntnis kaum im Text identifizierbar macht, schafft es dieser letzte Teil darüber hinaus nicht, Foucaults Konzept der Gouvernementalität adäquat einzufangen. Es ist nämlich dieses Konzept, das Foucault primär auf den Lehrplan setzt. Der Neoliberalismus ist bloß sein empirischer Gegenstand, weil dieser die hegemoniale Form der modernen Gouvernementalität darstellt. Sein wissenschaftliches Vorhaben ist zudem auf anderer Ebene als bei Marx angesiedelt: er beschreibt keine gesellschaftstheoretische Struktur, sondern politische Strategiekomplexe in Form von Technologien und Praktiken. Auf dieser Ebene bietet die Gouvernementalität auch das, wonach Bidet sucht, denn genauso wie er untersucht Foucault Formen gesellschaftlicher Herrschaft, die sich Zwischen-Einzelnen und Zwischen-Allen spannen. Es ist das, was Thomas Lemke als Herrschafts- und Selbsttechniken im Anschluss an Foucault systematisiert hat. Bidet dagegen arbeitet hier das heraus, was bei Foucault unbestimmt bleibt: die Bestimmung der Bedingungen der Praktiken auf (meta-)struktureller Ebene. Es verbindet sich eine Kritik politischer Ökonomie mit einer Kritik politischer Anatomie, wie es Lemke auf den Punkt bringt.

Aber ließe sich nicht aus Foucaults Kritik am Regierungsexzess und dem Ziel seiner Abmilderung ein urliberaler Gestus herauslesen? Möglicherweise. Allerdings fehlt bei Bidet jegliche Bestimmung dessen, was diese ominöse Regierung und ihre Irrationalität bei Foucault denn jetzt eigentlich sind. Es ist wohl statt eines urliberalen Gestus ein anarchistischer, denn Foucault mahnt hier doch eher vor der autoritären Immanenz institutionalisierter Gebilde, die es, wenn nötig, möglichst anti-autoritär zu gestalten gilt – ein Gedanke, der sich vielleicht expliziter im Marxismus und der Idee des absterbenden Staates wiederfindet. Schließlich sind sich das normative Plädoyer bei Marx für die klassenlose Gesellschaft und bei Foucault für das „frugale Regieren“ im Kern dann doch sehr ähnlich, an sich aber auch zu vernachlässigen, weil ihnen utopische Träumereien fremd sind. Ihr jeweiliger Fokus lag auf einer materialistischen Analyse des Seins. Bidet verdeutlicht eindrucksvoll, dass sie sich dabei ergänzen und jeweils einen Pol der gesellschaftlichen Herrschaftsvermittlungen untersuchen.

Bidets Buch ist insgesamt als konstruktive Diskursintervention zu betrachten, deren Hauptleistung darin besteht, Foucault und Marx nicht beliebig zu verbinden, sondern systematisch ihre Überschneidungen, Analogien, Diskrepanzen und Unzulänglichkeiten aufarbeitet und in ihrer Synthese über beide hinausgeht, indem sie in einem neuen Theoriegebäude ihren Platz finden. Insbesondere seine überzeugenden Grundannahmen der metastrukturellen Ontologie erlauben eine innovative Wiederbelebung des für tot-erklärten Klassenbegriffs. Indem er ihn erweitert, zugleich relativiert, und trotzdem seine konstitutive Bedeutung für die Gesellschaftsprozesse erhält, schafft Bidet es auf eindrucksvolle Art und Weise, der materialistisch-kritischen Analyse neue Impulse zu geben. Dieses Buch, das erste von Bidet in deutscher Übersetzung, bietet daher endlich die Möglichkeit, Bidets umfangreiches Oeuvre in die deutsche Debatte einzubeziehen und zu rezipieren. 

Simon Unger studiert an der Leibniz Universität Hannover Politikwissenschaft (M.A.) mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte. Dort hat er mit Kommiliton*innen den Arbeitskreis Politische Theorie gegründet, der sich gegen den massiven Abbau des Arbeitsbereiches am Institut einsetzt.

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