Der Geschmack der Richter. Lesenotiz zu Sabine Müller-Malls „Verfassende Urteile“

1964 führte der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung „Costa/E.N.E.L.“ den Anwendungsvorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts ein – ein Prinzip, welches nicht im damaligen EWG-Vertrag auftauchte, sondern vom Gericht aus dem Sinn und Zweck der Gemeinschaftsordnung abgeleitet wurde. Das Problem, wie es sich innerjuristisch rechtfertigen lässt, wenn Gerichte demokratisch gesetztes Recht nicht nur anwenden, sondern dessen Geltungsumfang durch ihre Urteile auch ausweiten, beschäftigt die deutschsprachige Rechtstheorie wohl schon mindestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Dass dieser Frage auch eine demokratietheoretische Dimension immanent ist, tritt spätestens mit der wachsenden Bedeutung derart „expansiver“ Urteile für den selbstständigen Ausbau inter- und transnationaler Organisationen offen zutage: Woher bezieht ein Gericht schließlich die demokratische Legitimation, die verfassungsrechtlichen Grenzen der Politik nicht nur zu überprüfen, sondern selbst neu zu fassen? Sabine Müller-Mall begegnet dieser Fragestellung nun in „Verfassende Urteile“ mit einer prozessorientierten Perspektive: Nicht die Legitimation der Institution des Gerichtes ist ihr Ansatzpunkt, sondern der Prozess des Urteilens, welcher als solcher stets expansiv ist (S. 11). In der Konsequenz verbergen sich damit tatsächlich zwei, gelungen ineinander geschobene Werke in diesem Buch: eine Verfassungstheorie der Konstitutionalisierung und eine Rechtstheorie des Urteils.

Konstitutionalisierung statt Konstitutionalismus  

Anlass von Müller-Malls Verfassungstheorie ist die in Rechts- und Politikwissenschaft aufgrund der Herausbildung von Rechtsstrukturen jenseits des Staates vertretene Zeitdiagnose, wonach sich ein „Globaler Konstitutionalismus“ entwickelt habe (S. 38f.). Wie die Autorin bemerkt, verbergen sich hinter dieser Überschrift jedoch sehr verschiedene Diskussionen, welche von normativen Zielsetzungen der umfassenden Verrechtlichung internationaler Politik bis zur Beobachtung der bloßen Intensivierung inter- und transnationaler Kooperationen reichen. Dabei bliebe unklar, worin überhaupt die verfassungstheoretisch relevante Dimension der faktisch beobachtbaren Phänomene von Transnationalisierung, Verrechtlichung und Judizialisierung von Herrschaft bestehe; nicht zuletzt auch wegen der meist nur unklaren Differenzierung zwischen rechtlichen und politischen Entwicklungen (S. 40f.). 

Dieser setzt Müller-Mall eine Definition der „Verfassung” politischer Ordnung entgegen, die einerseits durch das formale „Prinzip normativer Vorrangigkeit“ gekennzeichnet ist (S. 46f.), darin andererseits als spezifische Legitimationsstruktur von Herrschaft funktioniert, die sie gleichermaßen begründet und begrenzt (S. 59). Was trivial klingt, hat für Müller-Mall weitreichende Konsequenzen: Weiten diese Strukturen den Bereich ihrer Legitimationsobjekte aus, indem sie den Rahmen politischen Handelns begrenzen, so müssen sie auch ihr Legitimationssubjekt „dynamisch einsetzen“ – und damit selbst ein konstitutionalisierendes Moment aufrufen (S. 59f.). Die verfassungstheoretisch interessante Wirkung der betrachteten Gerichtsurteile besteht daher nicht einfach darin, dass diese den rechtlichen Rahmen normativer Vorrangigkeit erweitern, verdichten oder vertiefen, sondern darin, dass sie über diesen Rahmen hinaus Bezug auf ein verfassungsgebendes Legitimationssubjekt nehmen müssen – den pouvoir constituant (S. 62). Die durchaus interdisziplinäre Innovation von Müller-Malls Perspektive liegt somit zunächst darin, eine rechtstheoretische Frage mit demokratie- und verfassungstheoretischen Fragen der Begründung politischer Herrschaft zu verknüpfen. 

Hervorzuheben dabei schon hier, auf der Ebene der Problembestimmung, die Stärke von Müller-Malls Begriffsarbeit: Die Reduktion der Verfassung auf das formale Kriterium des Geltungsvorrangs erlaubt die Handhabung der quecksilbrigen Gleichzeitigkeit von Herrschaftsbegründung und -begrenzung, der „selbstbezüglichen Rückbindungen“ der Legitimation (S. 57). Gleichzeitig verpflichtet die juristische Perspektive Müller-Mall auch auf den Anwendungsbezug: die Analyse einer konkret-situierten, gegenwärtigen Rechtspraxis. Dass dies weitestgehend überzeugend gelingt, spricht für ihren Ansatz, Theorie und Kritik auf mittlerer Reichweite betreiben.  

Reflexivität gegen Dezisionismus  

Diese Perspektive wird auch im zweiten Teil des Buches, der theoretischen Rekonstruktion des juristischen Urteils, fortgesetzt. Der ergiebige Umweg zum Legitimationsproblem expansiver Urteile über eine Theorie des juristischen Urteils an sich bringt zunächst aber eine eigene Herausforderung mit sich: Die Überlegung, dass Urteile überhaupt eine über bereits bestehende Normen hinausgehende rechtssetzende Wirkung haben können, ist rechtstheoretisch seit jeher dem Verdacht der Willkür ausgesetzt. Das Damoklesschwert des schmitt’schen Dezisionismus hängt damit denkbar dicht über Müller-Malls Ansatz.  

Die Autorin entlastet sich selbst von diesem Vorwurf, indem sie – neben dem Verweis auf die Rechts- und Verfassungstheorie Hans Kelsens – ihr Modell „performativer Rechtserzeugung“ einführt. Dieses betont weniger die Setzung, als vielmehr die „Rück- und Selbstbezüglichkeit“ des stets aus einer abstrakten eine konkrete Norm erzeugenden Urteils (S. 28).  In der weiteren Ausarbeitung dieses Modells bleibt Müller-Mall ihrer praxisnahen Begriffsarbeit treu: Ausgangspunkte ihrer Kritik an der Verdeckung des Verfahrens des Urteils sind unter anderem seine materiellen Artefakte von Sachverhalt (S. 89) und Urteilstenor (S. 95). Die eigene Rekonstruktion baut wiederum auf verschiedene Verfahrensschritte der Urteilspraxis auf: die Interpretation des Falls (S. 117ff.), das „Finden“ und Auslegen der Rechtsnormen (S. 143ff.). 

Das Modell, welches Müller-Mall hierin entwickelt, hat mit Sachverhalt, Norm, Fall und Urteilsbegründung erklärtermaßen „multiple Zentren“ (S. 155), die ihrerseits selbst jeweils Gegenstand von Interpretationen sind (ebd.). Das Verfahren des Urteilens selbst versteht sie schließlich zusammenfassend als eine „Oszillation“ (S. 159) zwischen diesen Zentren – eine nicht-lineare Pendelbewegung, die von sich aus nicht zum Ende kommt, sondern erst, wenn Sachverhalt und rechtlicher Maßstab zueinander „passen“ (S. 161). Doch was ist hierfür nun das Kriterium?  

Subjektive Allgemeinheit 

Müller-Mall findet die Antwort auf diese entscheidende Frage in der ästhetischen Theorie, in einer Kants „Kritik der Urteilskraft“ entlehnten Figur der „subjektiven Allgemeinheit“ des Urteils (S. 197): Der Prozess der Urteilsbildung ist an sich ein subjektiver, auf „Harmonie“ der einzelnen Pole gerichteter Vorgang „freier Erkenntniskräfte“ – die Erfahrung, dass Sachverhalt und Norm eben aufeinander „passen“ (S. 162). Ein Urteil kann in diesem Sinne auch nicht objektiv falsch oder richtig sein (S. 206) – wohl aber gelungen oder misslungen. Kriterium hierfür ist nun sein „Anspruch“, „dass jedermann diesem Urteil zustimmen könne“ (ebd.).  

Was auf den ersten Blick an eine habermasianisch-inspirierte Theorie der Geltungsansprüche erinnert, will es jedenfalls nicht sein (S. 32). Eine eingehende Abgrenzung dieses Ansatzes gegenüber alternativen Paradigmen findet indes leider nicht statt. Für eine solche Differenzierung lässt sich zumindest anführen, dass der „normative Gehalt“ (S. 206) der subjektiven Allgemeingültigkeit wohl keinen präskriptiven, ethisch-universalistischen Anspruch beschreibt, sondern eher, im Sinne Christoph Möllers, „nur“ deskriptiv als eine affirmative Markierung zu verstehen ist.  

Rechtssoziologisch herausfordern lässt sich nichtsdestotrotz die Fassung dieses Verweises auf den „Gemeinsinn“ (S. 201) als „Allgemeinheit“. So wie sich die feinen Unterschiede des ästhetischen Geschmacksurteils eben auch aus sozialer Differenzierung erklären lassen, bestehen für das juristische Urteil etwa mit der Sozialisation des juristischen Studiums, Kontrolle durch Instanzenzug oder dogmatischen Formen systemspezifische Voraussetzungen der Anerkennung. Der produktive Ansatz, beim subjektiven Urteilsverfahren zu bleiben, kommt bei diesem sozialen Kontext an seine immanenten Grenzen.   

Politik und Recht 

Mit der subjektiven Allgemeingültigkeit kann Müller-Mall indes wieder zur Frage der demokratischen Legitimation der expansiven Wirkung verfassender Urteile zurückkehren: Sie findet ihren Anknüpfungspunkt, so das Argument, in dem urteilimmanenten Aufruf der Allgemeinheit des konstituierenden (und nicht nur des konstituierten) Volkes, den Bezug auf die gemeinsame Erfahrung (S. 264). Das soll nicht etwa bedeuten, dass die verfassende Wirkung von Urteilen stets demokratisch legitimiert ist, sondern lediglich einen alternativen Ansatzpunkt für die Bewertung dieser Legitimation schaffen (S. 265).  

Gerade für die fortdauernde rechts- und politikwissenschaftliche Debatte um die Legitimation europäischer Institutionen und globale Konstitutionalisierungen leistet Müller-Mall damit insofern einen wichtigen Beitrag, als sie es vermeidet, sich an der – wie Florian Meinel es treffend ausdrückte – „falschen Alternative eines Demokratiebegriffs, der angeblich nur entweder die kollektive Selbstbestimmung einer homogenen Nation oder einen diffusen Pluralismus“ kennt, abzuarbeiten. Stattdessen die Praxis des verfassenden Urteilens zum Ausgangspunkt zu machen, schafft indes wohl in erster Linie für Rechtswissenschaftler*innen neue Perspektive: Das subjektiv allgemeingültige Zustandekommen des Urteils bedeutet, das ist noch einmal festzustellen, schließlich keinen Kollaps der Trennung von Recht und Politik, sondern eben ein anderes Verständnis einer rechtsförmigen Praxis, mit über das Recht hinausweisenden politischen Wirkungen (S. 296).  

Mit der Beschreibung, dass Richter*innen mit verfassenden Urteilen auf Allgemeinheiten jenseits bereits konstituierter Grenzen vorgreifen, wird gleichwohl auch eine durchaus politische Interpretation in die Urteilspraxis integriert. Diese politische Interpretation muss von der verfassten Allgemeinheit auch geteilt werden können, damit der Legitimationsanspruch des Urteils effektiv eingelöst werden kann. Die (wie auch immer geartete) politische Integration der Allgemeinheit, etwa in Form einer europäischen Gesellschaft, bleibt damit ein Kriterium der Plausibilität verfassender Urteile, dem aber wohl im Buch noch mehr Raum eingeräumt hätte werden können. Müller-Malls demokratietheoretischer Beitrag zur Debatte liegt indes allerdings nicht darin, selbst präskriptive Kriterien für die Legitimität expansiver Urteile aufzustellen, sondern ein deskriptives Modell zu formulieren, in dem ihr Gelingen, aber eben auch ihre öffentliche Infragestellung nachvollzogen werden kann.   

Obwohl es sich bei der Arbeit also nicht um eine politische Theorie des Rechts handelt, lohnt sich die Lektüre auch für politische Theoretiker*innen. So bietet es sich aus dieser Perspektive etwa an, die subjektiven Urteile der Richter*innen eben auch als (rechtsförmige) politische Theorien lesbar zu machen. Nicht zuletzt sollte die Orientierung an ästhetischer Theorie das Werk auch anschlussfähig an Konjunkturen eines Aesthetic Turns machen. Vorbildhaft ist aber vor allem die Art und der Stil von Müller-Malls Theoriearbeit, der es durch konsequente Orientierung zur Praxis und der Reduktion auf formale und gerade daher schärfer gestellte Begriffe gelingt, dem eigenen Anspruch entsprechend, ein vor allem „ergiebigeres und eleganteres“ Modell zu schaffen (S. 29). 

Jannik Oestmann studiert an der Goethe-Universität Frankfurt Politische Theorie (M. A.) und Rechtswissenschaften. Seine Interessenschwerpunkte liegen in der Ideengeschichte der Bundesrepublik, Staats- und Verfassungstheorie, sowie poststrukturalistischer politischer Theorie.  

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