Grundlage des vorliegenden Bands ist ein Gespräch zwischen Jacques Rancière und Axel Honneth, das im Juni 2009 am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main stattfand. Nach einer wechselseitigen kritischen Würdigung trafen sie in einem durch Christoph Menke moderierten Gespräch aufeinander. Dieser Kern des Bandes ist durch eine kenntnisreiche Einführung von Jean-Philippe Deranty und Katia Genel sowie die Aufsätze „Die Methode der Gleichheit“ (Rancière) und „Zwei Deutungen sozialer Missachtung“ (Honneth) eingeklammert. Die Debatte zwischen Honneth und Rancière kreist dabei grundsätzlich um Fragen hinsichtlich des Subjekts, der Identität und der Gleichheit. Hieran zeigen sich Leerstellen unterschiedlicher Art, die für die (deutsche) Politiktheorie allgemein von Interesse sein könnten, da sie Defizite hinsichtlich der Theoretisierung von Struktur, Materialität und (pluraler) Moderne(n) markieren.
Die Einführung von Deranty und Genel verortet beide Denker im erweiterten Kontext ‚kritischer Theorie‘, womit Theorieströmungen gefasst werden, die sich kritisch auf Marx beziehen und insbesondere im Kontext von Frankfurter Schule und französischer Nachkriegsphilosophie auftraten. Deranty und Genel verorten die Debatte im Gesamtwerk der Autoren und legen die grundsätzlichen Motive des Austauschs dar. Während beide theoretische Werkzeuge entwickeln, die mit dem Verständnis und der Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse befasst sind, divergieren sie mit Blick auf die theoretischen Bezüge und Antworten. Entsprechend sehen Deranty und Genel den Kern der Auseinandersetzung in der Frage, „ob die Paradigmen, die sie anführen, um die Gesellschaft zu kritisieren und ihre Weiterentwicklung sowie die Transformationen zu ergründen, die sie gerechter bzw. freier machen sollen – das Paradigma der Anerkennung und das des Unvernehmens –, miteinander konkurrieren, sich wechselseitig ausschließen oder vereinbar sind“ (7).
Ein Hauptmotiv des Aufsatzes „Kritische Fragen an die Anerkennungstheorie“ besteht m.E. in einer kritischen Auseinandersetzung mit Honneths Theorie des Subjekts durch Rancière. So führt er aus, dass Honneths Anerkennungstheorie einerseits eine Theorie der Selbstkonstruktion sei, die von einem Subjekt ausgehe, „das als auf sich bezogene Identität hohe Konsistenz besitzt“ (63). Andererseits sei sie Theorie der Gemeinschaft, „die behauptet, dass die Existenz einer gemeinsamen Welt von intersubjektiven Beziehungen abhängen“ (63f.). Hierin vermutet Rancière, eine Überschätzung der Identität sowie der Bedeutsamkeit von Zweierbeziehungen. Demgegenüber verweise die Dialektik der Anerkennung auf die Möglichkeit, sich einer zugeschriebenen Identität zu entziehen. Es werde für eine veränderte Form der Anerkennung gekämpft; „um eine Neuverteilung der Plätze, Identitäten und Anteile“ (68). Honneths Modell handle von der Bereicherung und Erweiterung der Identität, was eine Form von Fortschritt notwendig mache. „Anstelle eines Fortschritts hin zu einer reicheren Form von Integrität schlage ich deshalb das Modell eines Subjekts vor, das sich in einem ‚Subjektivierungsprozess‘ selbst erschafft“ (70). In der späteren Diskussion gesteht Honneth zwar zu, dass die Kämpfe um Anerkennung auch in einer Befreiung von aufoktroyierten Identitätszuschreibungen resultieren können, sieht den Ausgang allerdings nicht durch diese selbst, sondern Ungerechtigkeitserfahrung begründet. Somit seien Anerkennungsverhältnisse das (nicht-intentionale) Ziel der Kämpfe, die ein „ungestörtes, zwangloses Selbstverständnis“ (92) ermöglichen.
Honneths Kritik an Rancière ist dreiteilig. Dabei geht er erstens auf Rancières Grundannahme eines „Bedürfnis nach Gleichheit“ (81) ein und argumentiert, dass für die Artikulation dieses Bedürfnisses in früheren Gesellschaften das normative Vokabular gefehlt habe. Zweitens sieht er in Rancières Gleichsetzung von politischer Staatsordnung und ‚Polizei‘, d.h. die ungleiche Ordnung der Gesellschaft, eine Schwachstelle, da er bezweifelt, dass der soziale Erfahrungsraum in einem strengen Sinne kontrollierbar ist. In eine ähnliche Richtung geht auch Honneths dritter Punkt: Rancière bestimme sein Konzept der Politik als Bruch mit der bestehenden Ordnung, womit es am Vorbild der Revolution orientiert sei. Die Mehrheit der politischen Aufstände und Revolten seien aber an ‚internen‘ Anerkennungskämpfen orientiert. D.h., dass sie bestehende Normsysteme umdeuten, sodass sie die eigenen Forderungen legitimieren. Mit Blick auf die Gleichheit führte Rancière in der späteren Diskussion aus, dass sie der Kern der Politik sei. Politisch sei ein Subjekt, „das am Regieren und Regiertwerden beteiligt ist“ (94). Somit müsse sich eine Gemeinschaft, wolle sie politisch sein, auf die Gleichheit stützen. Demgegenüber vermutete Honneth, dass bei dieser Minimaldefinition der Mitgliedschaft mühelos normative Abstufungen einzurichten seien.
Leider führen die beiden abschließenden Essays die Diskussion nur in begrenztem Maße weiter. Rancières Beitrag liest sich vielmehr wie eine Tour de Force durch die Kernmotive und Stationen seines Denkens. Ähnlich verhält es sich mit Honneths Aufsatz, der in einer Auseinandersetzung mit Miranda Fricker besteht. Auch hier erläutert er lediglich bekannte Kernüberlegungen, etwa dass er versuche Unrechtserfahrungen „mit Hilfe der praktischen Philosophie Helges zu rekonstruieren“ (142).
Abgesehen von Honneths abschließendem Aufsatz, der ein Originalbeitrag ist, erschien der Band bereits 2016 bei Colombia UP. International wurde die Begegnung wahlweise als Begegnung „[of] French and German social theory today“ (Braun 2017) rubriziert oder im Kontext von „German-French critical theory“ (Klikauer 2017) verortet. Darüber hinaus treffen hier (habermasianische) Kritische Theorie und radikale Demokratietheorie aufeinander, zwei theoretische Strömungen, die in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Debatte (weiterhin) virulent rezipiert wurden (z.B. hier auf dem Theorieblog in Form von Lesenotizen oder eines Buchforums). An dieser Stelle ist es nicht angeraten, Grundkonflikte zwischen den Theorieschulen zu adressieren, wie etwa die Frage nach Konflikt oder Konsens, die den Subjekttheorien sowie jeweiligen Grundkonzepten – Anerkennung und Unvernehmen – zumindest latent zugrunde liegen. Vielmehr scheint mir der Austausch ein guter Ausgangspunkt, um Fragen zu stellen, die beide Traditionen betreffen und somit – auch fünf Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen – für die deutsche Politiktheorie von Relevanz sind.
Ein Großteil der Debatte kreist um Identität und Subjekt. Grundsätzliche Einsichten der Soziologie, dass bspw. Ungleichheitsstrukturen im Individuum durch Konditionierung und Sozialisation weiterwirken, scheinen unberücksichtigt (z.B. Bourdieu 1980, 101; oder 1993, 107). Selbstverständlich werden derartige Effekte nicht geleugnet und die starke Fokussierung des „Individuum[s] als Einspruchsinstanz gegen die Totalität“, wie es Adamczak (2017, 228ff.) formuliert, ist historisch plausibel. Doch geht die spezifische Perspektive der beiden Autoren auf Kosten der strukturellen Analysefähigkeit. Außerdem verliert die Diskussion die Materialität des Sozialen aus dem Blick, wenn sie Subjektivierung lediglich als soziales Phänomen auffasst. Im Anschluss an verschiedene Theorietraditionen muss ‚das Soziale‘, und ferner: Subjektivierung, gebunden an räumlich-materielle Konfigurationen verstanden werden (z.B. Deleuze/Guatarri 1980 oder Latour 2010). Soziales und Materielles, menschliche und nicht-menschliche Wesen, werden hier in Verweisungszusammenhänge(n) (vor)gestellt (Haraway 1988). Die Science and Technology Studies, neue Materialismen oder Praxistheorien formulieren empirisch geschulte Einwände gegen die gängigen Sozialtheorien, die vielfach noch auf der klassischen Unterscheidung von Natur und Kultur aufbauen. Somit verlieren sie Hybridisierungstendenzen, die insbesondere auch durch die ökologischen Entwicklungen aufkommen, aus dem Blick. Eine ähnliche Diagnose ist auch für das Feld (dominanter) politischer Theorien zutreffend.
An den Stellen, an denen der Band das Aufkommen des Gleichheitspostulats debattiert, steht die Frage nach der Moderne im Hintergrund. Insbesondere klassischen Demokratietheorien dient das Moderneparadigma als unhintergehbarer Ausgangspunkt. Auch wenn die Debatte über die Ambivalenzen der Moderne älteren Datums ist (z.B. Adorno/Horkheimer 1947 oder Arendt 1960), wurden zuletzt Einwände aus neueren Perspektiven laut, wie etwa postkoloniale oder ökologische Kritiken belegen (Randeria 2002, Kallis 2015 oder Latour 2020). Unabhängig von ihrer Berechtigung fällt auf, dass sie in der deutschsprachigen Debatte bisweilen vergleichsweise wenig verhandelt wurden und die Übersetzung ins Feld politischer Theorie auch international weitgehend ausbleibt. Sowohl die neueren Auseinandersetzungen mit der Moderne als auch die Relevanz von Materialität und Struktur erscheinen als zunehmende Herausforderungen, denen sich auch die politische Theorie annehmen sollte. Hier kann der Band zur Anregung dienen, dies zu forcieren.
Simon Clemens studierte Politik, Philosophie und Soziologie in Bonn und Berlin. Eine Dissertation zum Themenkomplex pluraler Moderne(n) und Demokratietheorie befindet sich in Vorbereitung.
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