Recht und Utopie? – Pfade in eine neue normative Ordnung (Tagungsbericht) 

Der Anspruch der Frühjahrstagung des Jungen Forums Rechtsphilosophie, die vom 9. bis 11. März 2023 stattfand, war es, in interdisziplinärem Austausch Pfade in eine neue normative Ordnung zu entwerfen, die von bestehender Rechtspraxis ausgehen, diese jedoch grundlegend hinterfragen und in ihren problematischen Dimensionen zu überwinden suchen.  

Welche normative Praxis kann der Prekarität von Gerechtigkeit Rechnung tragen? Wie können Interventionen innerhalb des bestehenden Rechtssystems legitimiert werden? Wie kann Wandel hin zu einer neuen normativen Ordnung aussehen und welche Rolle kann Recht darin spielen? Der Beitrag rekapituliert anhand dieser Fragen die Tagung, die ihrem Titel alle Ehre machte: „Utopie einer neuen normativen Ordnung – Alternativen im Recht/Alternativen zum Recht“ 

Eine Utopie von Transformative Justice angesichts prekärer Gerechtigkeit  

Um Recht in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen zu erfassen und Pfade in neue normative Ordnungen imaginieren zu können, lud Greta Olson in ihrer Keynote dazu ein, den Begriff des Rechts in alle Richtungen zu erforschen und Recht als kulturellen Prozess zu verstehen, der vom täglichen Leben nicht trennbar ist. Legalität umfasse alles, was Menschen als bindende Normen ansehen – beispielsweise ermutigte Olson eine anwesende Person, die Angst hatte, dass ihr schreiendes Kind die Konvention einer wissenschaftlichen Fachtagung stören könnte, bitte unbedingt mitsamt Kind im Raum zu bleiben – auch das ein Element normativer Ordnung.  

Wie wichtig ein solch erweiterter Blick ist, wurde auch im Vortrag von Simone Kreutz deutlich, in dem sie zeigte, wie prekär es um das Herstellen von Gerechtigkeit im Bereich der sexualisierten Gewalt bestellt und wie wichtig die Einbeziehung der normativen Strukturen des Umfelds ist, die vom kodifizierten Recht nicht angemessen erfasst werden. Ausgangspunkt des Vortrags bildete der bestehende „justice gap“ (McGlynn/Westmarland 2019) in Bezug auf sexualisierte Gewalt: Häufig steht Aussage gegen Aussage, weshalb strafrechtliche Konsequenzen nur in einem Bruchteil der überhaupt angezeigten Fälle erfolgen (vgl. Grimm/Lean 2021). 

Strafrechtsfeminist*innen bemühen sich angesichts dessen um eine Änderung der Rechtslage, da sie den Punkt stark machen, dass ohne angemessene Strafe häufig keine Anerkennung des Erlittenen stattfindet. Kreutz stellte allerdings die grundsätzlichere Frage danach, ob nicht bereits das Gerechtigkeitsverständnis, das der Rechtspraxis zugrunde liegt, problematisch ist, denn Gerechtigkeit als Ergebnis von Tat, Verfahren und Urteil wirke geradezu wie eine mathematische Gleichung. Weder werde die betroffene Person entschädigt, noch das Umfeld einbezogen, dabei bilde dieses häufig den ermöglichenden Rahmen sexualisierter Gewalt und sei daher mitverantwortlich. 

Analog zum Begriff der Sicherheit, der bei Daniel Loick nicht als Normalzustand, auf dessen Störungen reagiert werden muss, sondern als immer erst Herzustellendes, geradezu Unmögliches betrachtet wird, versteht Kreutz Gerechtigkeit ebenfalls als etwas Prekäres, im sozialen Miteinander immer erst zu Erzeugendes. Dementsprechend sollte das Kollektiv nicht nur in einen, den individuellen Prozess im Nachhinein ergänzenden Heilungsprozess (restaurative Gerechtigkeit) einbezogen werden, sondern auch in das Verständnis der Tat: Inwiefern hat die Kultur des Kollektivs die Tat denkbar gemacht? Welche Arten von Sprechakten und anderen Handlungen wurden im Vorfeld vom Kollektiv durch Nicht-Intervention geduldet? Die sexualisierte Gewalt verlöre unter Einbezug der hervorbringenden Strukturen das Exzeptionelle, das dem Gewaltakt häufig zugeschrieben wird. Im Gegensatz zu einem ausgelagerten Gerichtsprozess, in dem individuell Verantwortung bzw. Schuld für Vergangenes zugeschrieben wird, gelte es, individuell und kollektiv für Vergangenes, aber auch in die Zukunft gerichtet Verantwortung zu übernehmen und das Kollektive so zu verändern, dass sich solche Fälle nicht wiederholen. In utopischer Perspektive lasse sich so der „justice gap“ schließen. 

Wer ist dabei alles Teil der kollektiven Verantwortungsübernahme? Wer adressiert wen? Kreutz beantwortete diese Fragen mit Verweis darauf, dass der Maßstab bei der betroffenen Person und ihren individuellen Verbindungen und Bedürfnissen nach Verbundenheit liege. Auch die Frage nach der Entlastungsfunktion des Strafrechts wurde gestellt: Liegt nicht auch etwas Befreiendes darin, klare Regeln zu haben und das Verfahren an den Staat auslagern zu können? Wie in einem solchen Konzept praktisch verfahren werden kann, wenn beispielsweise die Deutungshoheit für die betroffene(n) Person(en) eine Last darstellt oder wie mit möglichen Rachegefühlen umzugehen ist, blieb an dieser Stelle offen. 

Interventionen für Wandel hin zu einer neuen normativen Ordnung  

Dana-Sophia Valentiner befasste sich mit Verfassungsutopien als feministischer Praxis und damit auch mit dem Hoffen auf die Transformationskraft von Verfassungen. Die Vorstellung sei nicht gewesen, dass der feministische Kampf mit dem Verfassungstext enden würde, sondern dieser sollte als Fundament für andere gesellschaftliche Verhältnisse dienen. Mit Verweis auf McKinnon machte Valentiner deutlich: Recht könne zwar nicht garantieren, was die Gesellschaft nicht zubillige. Aber das Potential feministischen Rechts sei es, Risse in die Wand zwischen Recht und Gesellschaft zu reißen – eine feministische Intervention. 

Immer wieder wurden feministische Utopien als Verfassung formuliert, so beispielsweise 1914 von Magda Trott in Frauenkapital. Doch geht es hier um Utopien oder eher um Mindeststandards? Was Ernst Bloch in ‘Das Prinzip Hoffnung’ in einem Kapitel mit dem Titel „Aktueller Rest“ an feministischen Utopien kritisierte, sei deren mangelnde gesamtgesellschaftliche Transformationsperspektive. Doch verlangte er Revolution, wo gerade einmal Reform greifbar schien? Utopie ist auch eine Frage der Perspektive: Valentiner zufolge habe Bloch die zugrundeliegende Ungleichheit nicht gesehen. 

Neben dem Schreiben neuer Verfassungsutopien kam auch die Frage nach dem utopischen Potential bestehender Verfassungen zur Sprache – nach den Visionen, ohne welche eine geschriebene Verfassung nur „Rights on Paper“ ist. Samira Akbarian machte deutlich: Eine Verfassung muss interpretiert werden. Es gibt keinen Automatismus zwischen geschriebener Verfassung und gelebtem und verstandenem Recht. Die dominante Interpretation sei dem Staat eingeschrieben, eine alternative Interpretation könne durch zivilen Ungehorsam ins Sichtfeld gerückt werden. Dieser sei daher nicht per se undemokratisch, sondern könne bei Erfüllung folgender Kriterien als progressive Verfassungsinterpretation betrachtet werden:  

Zum einen dürfe nicht mit Alternativlosigkeit argumentiert werden, da Demokratie Konflikt oder zumindest Handlungsoptionen im Plural voraussetze. Auch deutungsoffenes zur Kenntnis nehmen von Erkenntnissen sei ein Kriterium für einen demokratischen Prozess. 

Der zweite entscheidende Gedanke sei, dass eine Vision gelebten Rechts qua demokratischen Rechtsstaats die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit, die Gewährleistung des Rechts auf Rechte, als Bedingung der Möglichkeit politischer Beteiligung voraussetzt. Nun könne es zwischen diesem Anspruch des Rechtsstaats und der rechtlichen Praxis eine Lücke geben. In diese Lücke könne ziviler Ungehorsam treten und sei dabei als progressiver Verfassungspatriotismus zu verstehen, welcher eine Verfassungsinterpretation stark macht, die die Ansprüche des Rechtsstaats qua demokratischem Rechtsstaat (Freiheit und Gleichheit) auch tatsächlich einholt.  

Ziviler Ungehorsam ist also nicht per se undemokratisch. Dafür, dass dieser insbesondere auch nicht rechtswidrig ist, argumentierte Sebastian Tober. Die qua Definition bestehende Illegalität des zivilen Ungehorsams bestehe in einem Verhaltensnormverstoß mit der einhergehenden Erwartung, als rechtswidrig behandelt zu werden, nicht jedoch in einer tatsächlichen Rechtswidrigkeit.   

Die bloße Erwartung, dass die Behörden eine Aktion als Straftat werten werden, reiche dabei zudem auch dafür aus, um die Klimakrise stärker ins Zentrum des politischen Diskurses zu rücken. Zumindest, so wandte eine Person ein, was die gerichtliche Bühne betrifft, bei der es aber fraglich sei, ob sie die Entscheidende ist. Für die Tagungsbühne wiederum war noch Geoffroy de Lagasnerie für eine Keynote eingeplant, doch ließ er sich mit Grüßen aus Paris entschuldigen. Er müsse sich um den Arbeitskampf vor Ort kümmern, denn an diesem Wochenende fand ein landesweiter Streik in Frankreich statt. 

Utopien des Übergangs – kommunistisches Recht und immanente Rechtskritik  

Während die von Valentiner besprochenen feministischen Verfassungsutopien auf die Hoffnung bauen, dass Recht und Rechtsvorstellungen gesellschaftlichen Wandel anstoßen oder Räume dafür auftun können, griff David Haunschmid das bewahrende Momentum des Rechts heraus und lotete das Potential aus, durch ein sich letztlich selbst abschaffendes Übergangsrecht die Kontinuitäten zu gewährleisten, die die emanzipatorischen Elemente radikalen Wandels absichern können. Denn wenn man das Sprichwort ernst nimmt „The more things change, the more they stay the same” lohnt es sich vielleicht, das, was da (zunächst) gleichbleibt, bewusst zu wählen und nicht allein an Veränderung zu denken. Es kann sich nicht alles auf einmal ändern, denn so sehr Struktur auch Handlungsmöglichkeiten kanalisiert und einschränkt, gibt es ohne Struktur wiederum auch keine Handlungsfähigkeit und es droht ein regressiver Umschlag. 

Ein wichtiger strategischer Punkt ist für Haunschmid, dass nichts in Menschen mehr Unbehagen auslöse als die revolutionäre Situation. Recht sei dagegen etwas, was Menschen kennen, etwas, dem viele vertrauen, da die rechtsförmige Gesellschaft geradezu Teil ihrer zweiten Natur geworden sei und so sei ein Übergangsrecht ein gutes Mittel gegen allzu großes Unbehagen vor der Revolution. Außerdem könne die im Verlauf einer Revolution seines Erachtens vermutlich leider notwendige Gewalt so auf ein Minimum reduziert werden.  

Die Selbstabschaffung dieses Übergangsrechts geschehe dann schließlich dadurch, dass die Notwendigkeit zur gewaltsamen Durchsetzung von Recht, die im Kapitalismus systematisch bestehe (hier übernimmt Haunschmid Hegels Gedanken von der Selbstwidersprüchlichkeit des Rechts im Kapitalismus, das seine eigenen Kriminellen produziert und zur gewaltsamen Durchsetzung des Rechts nötigt), in der befreiten kommunistischen Gesellschaft nicht mehr strukturell gegeben sei. Die Notwendigkeit der gewaltsamen Durchsetzung von Recht sei im Kommunismus somit auf kontingente Einzelereignisse beschränkt, weshalb man sich das Recht dann – so die Hoffnung – relativ bald sparen könne.  

Dadurch lasse sich wiederum folgendes Dilemma lösen: Einerseits müsse das Recht abgeschafft werden, wenn man mit Marx Kommunismus rechtsphilosophisch als Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen verstehe. Andererseits sei aber die rechtsförmige Gesellschaft immer noch als Teil der zweiten Natur in den Menschen verankert. Beidem werde in Haunschmids Utopie eines sich selbst abschaffenden Übergangsrechts Rechnung getragen. Wie ein solches Übergangsrecht aussehen kann und wie es zu dessen Einsetzung kommen kann, blieb allerdings offen. Aufgrund des nationalstaatlichen Elements wurde Haunschmids Ansatz zu seiner Überraschung zudem als eher konservativ kritisiert. 

Eine im Vergleich mit Haunschmid weniger voluntaristische Übergangsvision fand sich in Rodrigo Maruy van den Broeks programmatischem Ansatz einer immanenten Rechtskritik, nach welcher das innere Spannungsverhältnis des modernen Rechts dieses über sich selbst hinaustreiben kann: Eine funktionale Legitimationsanforderung des Rechts sei es, rechtliche und sittliche Stabilität zu gewährleisten, doch werde das Recht dadurch, dass es die Sittlichkeit zum Ausdruck bringt, teils durch sie konstituiert ist, auch ideologisch naturalisiert. Aus der funktionalen Legitimationsanforderung werde so eine normative, welche mit einer anderen Legitimationsanforderung des Rechts in Konflikt steht: nämlich, demokratisch veränderbar zu sein. Aufgabe immanenter Kritik sei es, dazu beizutragen, diese Spannung zu verschärfen, da daraus entstehende Legitimationskrisen transformativen Konflikten den Boden bereiten. An dieser Stelle schlug van den Broek den Bogen zurück zum Thema des zivilen Ungehorsams: Dieser könne als emanzipatorische Reaktion auf rechtliche Legitimationskrisen verstanden werden. 

Den auf der Tagung präsentierten Ansätzen ist der Mut gemeinsam, wirkliche Utopien von Veränderung der normativen Ordnung vorzustellen und ernsthaft über kollektive Verantwortungsübernahme, emanzipatorisches Schreiben und Interpretieren von Verfassungstexten, das Vertiefen von Legitimationskrisen oder eine rechtliche Begleitung von Umwälzungen auf dem Weg zur Abschaffung des Rechts zu sprechen. 

Hanna Hoffmann-Richter studiert Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin und der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Kritischer Theorie. 

Ein Kommentar zu “Recht und Utopie? – Pfade in eine neue normative Ordnung (Tagungsbericht) 

  1. Die Publikation der Vorträge erfolgt in der Reihe „Beihefte“ zur Zeitschrift „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“ (ARSP, Steiner Verlag).

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