Kongresssplitter: Zwischen luftigen Höhen und festem institutionellem Boden

— Panel 1.C Institutions of Uncertainty und 7.B. Uncertainty and the turn to empirical engagement in political theory —

Der Theoriekongress bot einen spezifischen Blick auf die politische Theorie: Der Schwerpunkt lag auf kritischen, radikaldemokratischen bzw. poststrukturalistischen Ansätzen. Die dadurch aufgetretenen Versäumnisse, die auch mit Beibehaltung dieser Schwerpunkte hätten vermieden werden können, möchte ich anhand der Gegenüberstellung zweier Panels – „Institutions of Uncertainty“ (1.C) und „Uncertainty and the turn to empirical engagement in political theory“ (7.B) – sichtbar machen. Kurzum, in Bremen hat eine abstrakte, nicht institutionell denkende Art der politischen Theorie dominiert, während eine andere, gewinnbringendere institutionell orientierte Art zwar präsent war, aber nicht dieselbe Prominenz genoss. 

Panel 1.C vertrat den Anspruch, konkrete radikaldemokratische Vorschläge für Ungewissheit generierende Institutionen zu liefern. Panel 7.B zeigte anhand zweier Vorträge, wie realistische politische Theorie mit empirischer Forschung in Kontakt gebracht werden könnte. Beide Panels einte eigentlich das Ziel, radikale Demokratietheorie mit institutionellem Denken zu verbinden. Der entscheidende Unterschied zeigte sich in der Methodik: Eine metatheoretische Perspektive stand einem stärker empirisch orientierten Ansatz gegenüber.  

Zunächst wies Sarah Gebh in „Institutions of Uncertainty“ überzeugend auf die Kehrtwende radikaler Demokratietheorie hin. Institutionen hätten bisher unter dem Verdacht gestanden, Ungewissheit einzugrenzen, ja gar auszuschalten. Inzwischen habe die radikale Demokratietheorie erkannt, dass es ohne Institutionalisierung nicht gehe. Beispielsweise würden Wahlen institutionalisierte Ungewissheit verkörpern; sie halten die Zukunft ein Stück weit offen. Mit Blick auf die anschließenden Vorträge warf Gebh die überaus interessante Frage in den Raum, wie Ungewissheit auf institutionellem Wege weiter verstärkt werden könne.  

In diesem Panel lieferte vor allem der Vortrag von Oliver Marchart zur radikaldemokratischen Umgestaltung des Schulsystems konkrete Vorschläge: Durch eine verpflichtende soziale Durchmischung in den Schulen soll eine radikaldemokratische Ethik aus den Schulen heraus entstehen. Die Frage, ob es tatsächlich zu einer Durchmischung kommen würde, oder ob die Schülerinnen und Schüler trotz gemeinsamer Räume wieder in sozial voneinander getrennte Gruppen zerfallen, blieb unbeantwortet.  

Tamara Caraus stellte kontradiktorisch zu Gebhs einleitendem Vortrag fest, dass Institutionen Ungewissheit doch beseitigen würden.  Carmen Lea Dege stellte die These auf, dass Ignoranz als eine Tugend nutzbar gemacht werden könne, um Ungewissheit zu erzeugen. Nicht nur der institutionelle Aspekt fehlte hier völlig, auch wurde mit einem Ungewissheitsbegriff gearbeitet, der allgemeinhin stets als erstrebenswert erachtet wird, jedoch kriterienlos bleibt. Wann kann man von guter und von schlechter Ungewissheit sprechen? Die Vorträge blieben in einer empiriefernen oder metatheoretischen Perspektive stecken und haben den Übergang ins konkret Institutionelle nicht wirklich geschafft.  

Eine Alternative dazu bot der radikaldemokratische Ansatz, der in Panel 7.B. zur Sprache kam: Ein solcher Ansatz kann durch sein geringeres Abstraktionsniveau und durch seine Bemühungen, konkreter auszubuchstabieren, welche Institutionen wünschenswert sind, beschrieben werden. Dadurch kann konstruktive Kritik dort leichter anschließen. In diesem Sinn verband der von Janosch Prinz und Manon Westphal konzipierte Vortrag radikale Demokratietheorie mit dem Ansatz realistischer politischer Theorie.  

Um, nicht zuletzt im Kontext des Klimawandels, die Interessen unterschiedlicher, auch sozio-ökonomisch schlechtergestellter Gruppen miteinander in Beziehung zu setzen und sichtbar zu machen, soll, so der Vorschlag, durch per Losverfahren zusammengesetzte Tribunale errichtet werden.  Das explizite Aufeinandertreffen von grundverschiedenen Konfliktlinien würde ungewisse Resultate erzeugen, die zugleich dem egalitären Anspruch von Demokratien wieder gerechter werden würden, Machtkonzentrationen bräche man damit auf. Westphals und Prinz’ Vorschlag ist auch durch die Schwächen der Mini-Publics motiviert: Die ausschließlich beratende Funktion werde um eine verbindliche Agendasetzung mit Vetorecht erweitert. In dieser Hinsicht sei das Tribunat mit solchen institutionellen Mechanismen in der Hinterhand besser aufgestellt.  

Ein Liberaler, der der Anpassungsfähigkeit liberaler Institutionen angesichts derzeitiger und zukünftiger Krisen vertraut, würde womöglich in einigen Punkten widersprechen. Aber endlich! Jetzt kann man widersprechen und zum eigentlichen Streit übergehen! Einige verbleiben in luftigen Höhen unangreifbarer Abstraktionen. Andere betreten festen Boden, wo sie auf widerspenstige Gegenstände stoßen, an denen sie scheitern können. Doch erst diese Widerstände geben der radikalen Demokratietheorie, die Möglichkeit sich weiterzuentwickeln. An den Begriffen wird schon seit Jahrzehnten in ritueller Selbstgewissheit formuliert. Im Hinblick aktueller Demokratiekrisen könnte der Zeitpunkt gekommen sein, diese aus institutioneller Sicht weiterzudenken und damit praktisch nutzbar zu machen. 

Mounir Zahran ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie des Otto-Suhr-Instituts. Er promoviert derzeit an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin über die Rolle institutioneller Erwartungen in der liberalen Demokratie. 

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