Kongresssplitter: Das Stimmungstief vor dem Wiederbeginn der Geschichte

— Panel 5F: Affektivität der demokratischen Regression —

Wer über den Zustand politischer Ordnungen spricht, soll über die Befindlichkeit ihrer Bevölkerungen nicht schweigen. Aus ihren Gefühlslagen lassen sich nicht nur konjunkturelle Trends herauslesen. Eine gegenseitige Beeinflussung ist möglich, indem das Auf und Ab politischer Ordnungen Zuversicht, Sorgen, Ängste und Freuden hervorruft und gleichzeitig durch solche Gefühle beeinflusst wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich Emotionen zu Haltungen verstetigen und die Wahrnehmung von Politik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägen. Wenn der Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren Diskussionen über Triumphalismus in liberalen Demokratien auslöste, ist es nur konsequent, heute düstere Stimmungsbilder in den Augenschein zu nehmen. Das Panel „Affektivität der demokratischen Regression“ lud dazu ein – mit stimmig ineinandergreifenden Vorträgen über Nostalgie, Melancholie und Verzweiflung.

Astrid Séville von der Leuphana University Lüneburg spürte dem Phänomen der „toxischen“ Nostalgie in der radikalisierten Klimabewegung nach, das aktuelle Diagnosen oft vorrangig der politischen Rechten zuordnen. Wohingegen letztere einen vermeintlichen Status quo ante zurücksehne, sei letztere primär vom wahrgenommenen Verlust einer offen gestaltbaren Zukunft angetrieben.

Jakob Huber von der FU Berlin nahm sich der Melancholie an, die oft als Kennzeichen selbstkritischer Stimmen innerhalb der scheinbar fragmentierten und handlungsunfähigen Linken beschrieben wird. Doch obschon zutreffe, dass Melancholie – selbst im Gegensatz zur Nostalgie – aus ihrem empfundenen Verlust heraus keinen Antrieb zum Handeln generiert, könne dem Gefühl dennoch eine positive Seite abgerungen werden. Es schütze die Betroffenen vor naivem Optimismus und rege unter Umständen zur Entwicklung neuer Zukunftsvisionen an.

Der Verzweiflung, in die eine melancholische Gestimmtheit in ungünstigen Fällen umschlagen kann, wandte sich der in Wien tätige Fabio Wolkenstein unter konkreter Bezugnahme auf Möglichkeiten des Widerstands gegen die demokratische Regression zu. Auch er erkannte in diesem scheinbar rein demobilisierenden Affekt ein Befähigungspotenzial zur realistischeren Lagebeurteilung.

Insgesamt stellte das Panel damit auf beeindruckend gelungene und unwillkürlich harmonische Weise die Frage, wie affektive Reaktionen auf Politik Denkräume beeinflussen, Vorstellungen von Zeitlichkeit im politischen Denken tangieren und zum tieferen Verständnis aktueller Entwicklungen in liberalen Demokratien beitragen. Vielfältige Pfade zur Vertiefung der Thematik wurden aufgezeigt. Sie reichen vom Desideratum einer feingliedrigeren Differenzierung epistemischer und motivationaler Funktionen affektgeprägter Kognition, die über Disruption, das Durchbrechen gedanklicher Pfadabhängigkeiten, hinausgeht, bis hin zur Integration der gewonnenen Ergebnisse in die bestehende Ideologieforschung. Im Hinblick auf den Umgang mit der demokratischen Regression ist immerhin bereits die Erkenntnis gewonnen, dass Grund zur Hoffnung besteht, selbst wenn die Hoffnung bereits gestorben ist.

Martin Beckstein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Georg-August-Universität Göttingen.

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