Mehr Fortschrittskritik wagen? Tagungsbericht zur Summer School „Natur und Fortschritt“

Mit dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ setzt die aktuelle Ampelregierung auf einen Begriff, den aktuelle philosophische und soziologische Gegenwartsdiagnosen unter dem Eindruck verschiedener globaler Notstände und der sich zuspitzenden Klimakrise vermehrt infrage stellen. „Vom Ende der Illusionen“ und von Anpassung als Paradigma kommender Gesellschaften wird dann gesprochen, während monatlich neue Filme und Serien zu Apokalypsen oder Post-Apokalypsen erscheinen und auf Instagram Prepping-Produkte wie Notfallbatterien und Wasserreinigungstabletten beworben werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung, „Natur und Fortschritt“ ins Zentrum einer Summer School zu stellen – gemeinsam ausgerichtet vom Centre Marc Bloch (CMB), dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und dem Institut für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main – so zeitgemäß wie herausfordernd. Rund 30 junge Wissenschaftler*innen aus vorwiegend geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen folgten der Einladung, im CMB in Berlin Ende September für vier Tage durch eine kritische Inventur des aktuellen Begriffsbestecks rund um ‚Natur‘ und ‚Fortschritt‘ die vielfältigen und mitunter auch widersprüchlichen Verhältnisse zwischen den Begriffen auszuloten und so die Handlungsfähigkeit von Sozialtheorie zu erproben. Es sollte ein „Überblick über die aktuellen Diskussionen zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften sowie feministischen, ökologischen und antirassistischen Studien zu diesen Themen“ erfolgen, so die Ankündigung des siebenköpfigen Organisationsteams.

Opening Up: Zugriffe auf Natur und Fortschritt zwischen Theorien und Politik

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Theorieparadigmen des historischen Materialismus in Marx’scher und Frankfurter Tradition auf der einen- und ein Konglomerat aus neomaterialistischen Theorien sowie Ansätzen aus der Ethnologie und den Science and Technologie Studies (STS) auf der anderen Seite strukturierten die Diskussionen maßgeblich. Während Autor*innen wie Theodor W. Adorno, Nancy Fraser oder Andreas Malm eine Analyse kapitalistischer Produktionsweisen ins Zentrum rücken, konzentrieren sich Ansätze von Philippe Descola, Bruno Latour und Rosi Braidotti eher auf ethnografische Beschreibungen von Akteurskonstellationen jenseits anthropozentrischer Annahmen, was oft eine Dekonstruktion der modernen Kosmologie impliziert. Entsprechend variieren auch die politischen Lösungsvorschläge: Läuft es im historischen Materialismus vor allem auf Klimawandel als Klassenkampf hinaus, so plädieren neo-materialistische Vertreter*innen für neue Beschreibungen und Imaginationen jenseits der für die Moderne charakteristischen Natur-Kultur Dichotomie. Mit Silvia Federici und Amy Allen waren auch Autorinnen im Programm vertreten, die in diesem Spannungsfeld als Vermittlerinnen auftreten.

Drei Ansätze der Diskussion

Philip Hogh: Nature, Progress and the Problem of Teleology in Critical Theory

Philip Hogh (Kassel) Vortrag näherte sich dem Verhältnis von Natur und Fortschritt über Adornos Ausführungen zum Begriff des Leidens. Während es sich bei der menschlichen Disposition zum Leiden um eine natürliche Anlage handle, seien Bedingungen, Ursachen und Umgang mit dem Leiden immer geschichtlich und gesellschaftlich vermittelt. Da der Kapitalismus Leid produziere, bezeichnet Fortschritt laut Hogh diejenige Form des gesellschaftlichen Wandels, welche die Logik des Kapitals zurückweise. Nur so könne die Gesellschaft ihren Zweck realisieren: nämlich Leiden abschaffen. Natur sollte dabei aber weder als drohende Katastrophe ontologisiert, noch „als Gaia idealisiert“ werden.

Mit dieser Spitze distanzierte sich Hogh klar von aktuellen neo-materialistischen Ansätzen, im Spezifischen gegen eine Figur Isabelle Stengers und Bruno Latours. Fragen nach nicht-menschlichem Leiden bleiben für Hogh ausgeklammert; ein nicht-anthropozentrisch gedachter Fortschritt rund um eine auch nicht-menschliche Natur mit einem intrinsischen Wert unbeachtet.

Frédéric Keck, Martin Saar: Nature and Progress between Social Anthropology and Critical Theory

Frédéric Keck (CNRS/EHESS) und Martin Saar (Goethe Universität) erkundeten im Gespräch das Spannungsverhältnis zwischen (französischer) Sozialanthropologie und (deutscher) kritischer Theorie. Saar attestierte der zeitgenössischen kritischen Theorie in Bezug zur fortschreitenden ökologischen Krise der Zeit eine „überraschende Stille“, bedingt möglicherweise durch ihren Anthropozentrismus. Allerdings hätten die Theorien von beispielsweise Marx oder Adorno von Anfang an die enge Verbindung zwischen Naturbeherrschung und sozialer Herrschaft erkannt. Es fehle der zeitgenössischen kritischen Theorie also nicht per se an den richtigen (Analyse-)Mitteln in Bezug auf ökologische Krisen, sie nutze ihr Potenzial zu einem Beitrag einer eher prozessualen Sichtweise und einem neuen Naturverständnis nur nicht aus.

Keck betonte seinerseits die epistemische Differenz zwischen Sozialanthropologie und kritischer Theorie. Seine Disziplin nutze Befragungen und historische Analysen, kombiniert mit Vorschlägen zu neuen Imaginationen in ihrer theoretischen Arbeit, was sie auch für praktische Interventionen rüste. Die Neuerfindung von Naturvorstellungen und -beziehungen nicht nur in wissenschaftlichen, sondern auch in künstlerischen Arbeiten beispielsweise, sei dazu ein erster notwendiger Schritt. Diesem Punkt schloss sich Saar an und fügte hinzu, dass er als Vitalist dabei vor allem versuche, ein Leben mit Kreativität zu fördern. Ein Beispiel in der zeitgenössischen Theoriebildung für ein solches Spiel mit neuen Imaginationen ist sicherlich Donna J. Haraway. Implizit kristallisierte sie sich in manchen Diskussionen als Vermittlerin heraus – ohne dass ihre Texte in der Lektüre für die Summer School selbst aufgetaucht wären.

Susanne Lettow (Keynote) und Cornelia Möser (Kommentar): Beyond “Nature“ and „Progress“. Temporality and Emancipation in Societal Nature Relations

Explizit diente Haraways Denken für Susanne Lettow (FU Berlin) als zentraler Bezugspunkt, um die Spannungen zwischen historischen und Neo-Materialismen zu bearbeiten. Anders als Hogh plädierte Lettow für ein besseres Verständnis der multidimensionalen Temporalitäten und komplexen Beziehungen zwischen Menschen und nicht-menschlicher Welt. Sie argumentierte für eine Art wechselseitiges Korrekturverhältnis. Während die Neo-Materialismen wertvolle Einsichten in die Komplexität jenseits einer homogenen, linearen Zeitlichkeit gesellschaftlicher Naturverhältnisse lieferten, ergänzten die kritischen Theorien eine fundierte Gesellschaftskritik durch Analysen der vielfältigen Herrschaftsverhältnisse und Subjektivierungsformen. Eine umfassende Kritik des Fortschritts- und Naturbegriffs dürfe sich nicht mit der Abkehr von solchen Begriffen zufriedengeben, sondern müsse vielmehr an einer nicht-anthropozentrischen Reformulierung des Emanzipationsbegriffs arbeiten.

Warum es jedoch gelingen sollte, gerade den Emanzipationsbegriff, anders als den des Fortschritts oder der Natur, vor den Fallstricken des Anthropozentrismus zu bewahren und inwieweit die Einsichten des non-human turns in die multiplen Verstrickungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen eine solche Reformulierung informieren könnten, blieb in Lettows Vortrag allerdings schemenhaft. Die Anerkennung der eigenen Eingebundenheit in komplexe multispecies Gefüge führe vor allem zu einer Vorstellung von Emanzipation als Selbst-Transformation sowie als Infragestellung und Umgestaltung der vielfältigen Beziehungen, so Lettow.

Catching Up: Die Rückkehr zum Politischen

Die Summer School endete in einem politisch orientierten Showdown – wie hätte es auch anders kommen können – zwischen den Posterboys Andreas Malm und Bruno Latour. Beide hatten sich während der Pandemie zum Zusammenhang von Virus und ökologischer Krise geäußert. Während Malm in „Corona, Climate, Chronic Emergency – War Communism in the Twenty-First Century“ Latour vorwirft, von der wichtigen Frage nach dem Subjekt des Klassenkampfes abzulenken und die alleinige menschliche Verantwortung für die ökologische Krise durch sein Konzept der nicht-menschlichen Agency zu verwässern, sah Latour sich durch die Pandemie vor allem in seinen theoretischen Annahmen bestätigt und warnte davor, in den Prä-Corona-Produktionsmodus zurückzukehren. In der Abschlussdiskussion mit Frédéric Keck wurden einige Kernproblematiken herausgearbeitet: So verwechselt Malm nicht-menschliche Intentionalität, von der nie die Rede war, mit nicht-menschlicher Agency. Und Latours Eiertanz darum, die Frage nach alternativen ökonomischen Produktionsweisen ohne marxistisches Vokabular zu formulieren, nimmt mitunter problematisch-esoterische Züge an, wenn er stattdessen den Antagonismus von ‚globalisers‘ vs ‚earth-bounds‘ betont.

Am Ende stellt sich auch die Frage, was in dieser Frontenbildung außen vor bleibt – und ob es nicht gerade die angekündigten feministischen, dekolonialen und antirassistischen Stimmen sind, die hier noch mehr gehört werden könnten. Mehr Fortschritt wagen könnte in diesem Kontext zum Beispiel heißen, Beiträge wie Kathryn Yusoffs „A Billion Black Anthropocenes Or None“, Joanna Zylinskas feministische Gegenapokalypse „The End of Man“ oder auch Olúfẹ́mi O. Táíwòs „Reconsidering Reparations“, in denen Fragen der Sklaverei und des Kolonialismus mit Fragen der Klimapolitik explizit verknüpft werden, mit entsprechendem Stellenwert zu berücksichtigen.

Insgesamt gelang es der Summer School trotz solcher Lücken, einen dringend benötigten Diskursraum aufzuschließen, in dessen Zentrum die Frage nach den angemessenen theoretischen und politischen Reaktionen auf eine eskalierende Klimakatstrophe steht. Will man diese Fragen weiterdenken, so scheint es uns so, dass die spannendsten Kontroversen momentan vor allem von einer jungen Generation an Autor*innen geführt werden, die sich u.a. durch ihre Nähe zu sozialen Bewegungen auszeichnen. Ein aktuelles Beispiel wäre hier Matt Hubers ökosozialistische Kritik an Degrowth-Ansätzen, die er als „Mish Mash Ecologism“ bezeichnet und Kai Herons Replik, in der er auf die imperialen blinden Flecken von Hubers Ökosozialismus hinweist und die Konturen eines Anti-Imperialen Öko-Kommunismus entwirft. Zwei weitere lesenswerte Interventionen  – „The tragedy of the worker: towards the Proletarocene“ vom Salvage Collective sowie der Essayband „Hope against Hope“ vom Kollektiv Out of the Woods – sind zudem von Kollektiven geschrieben, deren Mitglieder ein kritisches Verhältnis zur akademischen Wissensproduktion und der Versuch, alternative Formen der Autor*innenschaft und Textproduktion zu entwickeln, eint.

 

Lukas Stolz interessiert sich für die sozialen, kulturellen und politischen Implikationen des Anthropozäns. In seinem Promotionsprojekt am DFG Kolleg „Kulturen der Kritik“ an der Leuphana Universität Lüneburg fragt er, inwiefern in Zeiten der Klimakatastrophe ein pluralisiertes Zeit- und Geschichtsverständnis zu einer Idee von Emanzipation jenseits des tradierten Fortschrittsbegriffes beitragen kann.

Janila Dierks studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und nun Politische Theorie in Frankfurt. Ihr Interesse gilt dabei ästhetischen Dimensionen in der Wahrnehmung, Beschreibung und politischen Wirkung von nicht-dualistischen Mensch-Natur-Verhältnissen.

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